W&F 2004/3

Einzelfall oder System?

Folter in Abu Ghraib

von Gert Sommer

Im Gefängnis Abu Ghraib haben Angehörige der US-Armee systematisch irakische Gefangene gefoltert, u.a. durch Schläge, Isolation, Schlafentzug, Einsetzen von Hunden (für Muslime unreine Tiere), Zwingen zu stundenlangen schmerzvollen körperlichen Haltungen, Aufsetzen von Kapuzen und Androhung von Exekution. Die US-Regierung versucht dies – wider besseres Wissen – als das Fehlverhalten einiger weniger Soldaten darzustellen.

„Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“

(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 5 UNO, 1948)

Abu Ghraib ist jedoch kein Einzelfall. Im Verlauf des sog. Kampfes gegen den Terrorismus sind mindestens 10.000 Menschen außerhalb der USA in Lagern interniert. Besonders bekannt wurde der US-Stützpunkt Guantánamo auf Kuba, in dem seit über zwei Jahren Menschen ohne jegliche Rechte festgehalten werden.

In Abu Ghraib wurden unmenschliche Methoden eingesetzt, die für Muslime eine besondere Erniedrigung darstellen, z.B. unbekleidet zur Schau gestellt und zu sexuellen Handlungen gezwungen zu werden, und dies z.T. auch in Anwesenheit von Frauen. Traumatische Erfahrungen dieser Art stellen nicht nur aktuell für die Betroffenen eine ungeheuerliche Schande dar, sie führen zudem – neben physischen Schäden bis hin zum Tod (über 30 Gefangene sind in US-Gefangenschaft in Afghanistan und Irak umgekommen) – mit großer Wahrscheinlichkeit mittel- und langfristig zu psychischen Auffälligkeiten wie ständige Übererregtheit, psychische Taubheit und unkontrolliertes Wiedererleben der Erfahrungen, zu sog. posttraumatischen Belastungsstörungen, Ängsten und psychosomatischen Störungen, Depressionen bis hin zu Suizid.

Die Täter – Soldaten und Wachpersonal – scheinen im Zivilleben relativ normale Bürger gewesen zu sein. Was aber motivierte dann ihre Taten? Eine nahe liegende Erklärung, dass hier Sadisten ihre perversen Neigungen auslebten, dürfte kaum angemessen sein. Die psychologische Forschung hat angemessenere Erklärungsmöglichkeiten:

Gehorsam

Die Täter haben auf Befehl gehandelt, und Gehorsam ist eines der wichtigsten Ziele militärischer Ausbildung. Hinzu kommen können Angst vor Bestrafung bei Befehlsverweigerung und Furcht vor sozialem Ausschluss aus der Bezugsgruppe. Die Gehorsamsexperimente von Stanley Milgram haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen auf Anweisung eines »Wissenschaftlers« bereit ist, anderen Menschen beträchtliche körperliche Schmerzen zuzufügen, etliche sogar bis hin zur (scheinbaren) Tötung des Opfers.

Machtgefälle

In Gefängnissen besteht ein extremer Machtunterschied zwischen Wärtern und Gefangenen. Das Gefühl der eigenen Macht, Stärke und Überlegenheit scheint für viele Menschen eine große Versuchung darzustellen (dies mag für die Täter von Abu Ghraib, mehrheitlich aus der Unterschicht der USA – sog. white trash – besonders relevant sein): Der Unterlegene kann gedemütigt und misshandelt werden, ohne dass dieser sich wehren kann. Sexualisierte Gewalt ist dabei durchaus üblich. Das Gefängnisexperiment von Phil Zimbardo, bei dem Studierende zufällig in die Gruppen der Wärter und Gefangenen aufgeteilt wurden, musste schon nach wenigen Tagen abgebrochen werden: Die »Wärter« behandelten die »Gefangenen« zunehmend brutal bis hin zur sexuellen Erniedrigung.

Angst, Bedrohung, Frustration

Insbesondere in Kriegszeiten können sich die Soldaten einer ständigen Lebensbedrohung ausgesetzt erleben. Diese Angst kann in Gewalt und Brutalität umschlagen. Auch wenn diese Sicht schwer fallen mag: Täter sind nicht selten selbst Opfer –z.B. ihrer Sozialisation, der militärischen Ausbildung, der Überforderung durch die Kriegssituation. Unter »normalen« Bedingungen wären sie keine Folterer. Auch sie können als Folge ihrer Taten intensiv leiden, psychische Störungen ausbilden und gesellschaftlich diskriminiert werden.

Trotz dieser psychologischen Erklärungen ist festzuhalten, dass die Täter für ihre Taten verantwortlich sind: Sie haben andere Menschen gefoltert ohne dazu gezwungen worden zu sein. Aber sind die direkten Täter auch die Hauptschuldigen, wie die US-Regierung zu suggerieren versucht? Dagegen sprechen viele Hinweise: Zum einen der Umgang der USA mit Folter, zum anderen das politische Umfeld in den USA.

Zum Umgang der USA mit Folter

  • Im Gefängnis Abu Ghraib spielten offensichtlich der CIA und der militärische Geheimdienst eine wichtige Rolle, die beide Folterungen der Gefangenen forderten oder zumindest nahe legten, um gewünschte Informationen zu erlangen.
  • Auch in den normalen Gefängnissen der USA sind körperlicher und sexueller Missbrauch »Routine«, wie die New York Times schreibt. Warum sollte es dann in den von den USA kontrollierten Gefängnissen außerhalb der USA weniger brutal zugehen?
  • In Guantánamo sind seit über zwei Jahren Gefangene ohne jegliche Rechte (ohne Anklage, ohne Anwalt und ohne Außenkontakt) unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert, sie wurden wohl auch gefoltert. Der damalige Kommandeur von Guantánamo, General Miller, »exportierte« offensichtlich die dort üblichen Verhörmethoden im September 2003 in den Irak.
  • Seit Anfang 2002 gibt es Stellungnahmen von US-Ministerien, dass die Genfer Konventionen für Gefangene in Afghanistan irrelevant seien, d.h. nicht beachtet werden müssen. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat Belege für Folterungen in Afghanistan. Die Genfer Konventionen zur Behandlung von Gefangenen sind inhaltlich weitgehend identisch mit Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sie sind rechtlich verbindlich. Sie nicht zu beachten, stellt somit einen Rechtsbruch bzw. ein Kriegsverbrechen dar.
  • Die US-Regierung hat im »Kampf gegen den Terror« Folter »delegiert«. Um schneller Informationen zu erhalten, hat sie Gefangene an Länder ausgeliefert, in denen gefoltert wird, z.B. nach Ägypten und Pakistan.
  • In den USA gibt es eine öffentliche Diskussion über die Zulässigkeit von Folter im »Kampf gegen den Terrorismus«. Dem entsprechend halten 45% der US-Bevölkerung Folter in diesem Zusammenhang für legitim. Die Antifolter-Konvention der UN von 1984 aber ist eindeutig: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg … oder ein sonstiger öffentlicher Notstand dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden“. Zudem sind die Verpflichtungen der Staaten zur Verhinderung des Verbrechens der Folter weit reichend festgelegt, u.a. strafrechtliche Verfolgung der Täter, Unterrichtung über das Folterverbot und Wiedergutmachung für die Opfer.
  • Die US-Armee hat jahrzehntelang in der »School of the Americas«, seit 2001 Western Hemisphere Institute for Security Cooperation, Militär für Lateinamerika ausgebildet, das wesentlich an Folter und politischen Morden beteiligt war.

Wenn wir nur diese wenigen Hinweise zum Umgang der USA mit Folter berücksichtigen, dann können die jetzt angeklagten Folterer im Irak sicherlich nicht als große Ausnahmen angesehen werden. Folter scheint vielmehr ein integraler Bestandteil des Handlungsrepertoires der USA in relevanten Situationen zu sein.

Das gesellschaftliche Umfeld für Folter

Im Zusammenhang mit der Folter im Irak muss darüber hinaus aber auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld in den USA, insbesondere unter der Bush-Regierung, beachtet werden.

  • Die USA haben bedeutende internationale Abkommen systematisch boykottiert oder aufgekündigt. Dazu zählen u.a. das Kyoto-Protokoll zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen, Verträge zur Begrenzung der Atomwaffenrüstung und – im jetzigen Zusammenhang besonders bedeutsam – der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Das Völkerrecht ist – bei allen Unzulänglichkeiten – eine hoch bedeutsame zivilisatorische Errungenschaft. Wenn die jetzige Bush-Regierung das Völkerrecht offensichtlich so gering schätzt, warum sollten Soldaten und Wachpersonal dann ein anderes Bewusstsein haben?
  • Im Irakkrieg 2003 ging es wesentlich um die Kontrolle der höchst wichtigen Ressource Erdöl. Er war ein Bruch des Völkerrechts, begleitet von systematischer Erniedrigung der Vereinten Nationen und Verhöhnung der Regierungen, die diesen Krieg nicht unterstützten. Wenn aber die US-Regierung so offensichtlich die Charta der Vereinten Nationen missachtet, warum sollte dann der einzelne Soldat der Überzeugung sein, internationales Recht – wie die Genfer Konventionen – sei bindend? Der zeitlich nicht begrenzte »Krieg gegen den Terror« birgt die Gefahr, dass in den USA der Mythos entsteht, unschuldiges Opfer von Gewalt zu sein, und dass man sich deshalb über alle Normen hinwegsetzen könne.
  • Die USA halten sich historisch für ein auserwähltes Land (God’s own country), jede Rede eines US-Präsidenten endet mit „God bless America“. Verschärfend kommt hinzu, dass der jetzige Präsident Bush sich als Werkzeug einer Höheren Macht sieht. Wie schon unter Präsident Reagan geht es dann letztlich darum, dass das Gute (natürlich repräsentiert von den USA) das Böse in der Welt bekämpft – früher den Kommunismus, heute den Terrorismus bzw. die Achse des Bösen. Wenn die Welt so konzipiert wird, dass die eigene Seite das Wahre und Gute repräsentiert (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie) und dies gemäß göttlicher Vorsehung missionarisch verbreiten soll, dann besteht die Gefahr, dass der Zweck die Mittel heiligt und entsprechend auch höchst zweifelhafte und verbrecherische Mittel als akzeptabel gelten.

Diese wenigen Hinweise zur negativen Haltung der US-Regierung gegenüber internationalem Recht verdeutlichen, dass Folter und unmenschliche Behandlung in Abu Ghraib kein isolierter Verstoß gegenüber dem Völkerrecht sind.

Folterhintergrund: Militär und Krieg

Das Militär ist jene weltweit verbreitete anachronistische Organisation, in der Menschen systematisch dazu gebracht werden, Befehlen von Vorgesetzten zu gehorchen und gezielt zu töten. Militär bedeutet also Sozialisation zum Töten von Menschen und ist somit gegen zivile und humanitäre Grundsätze gerichtet. Im Krieg werden moralische Grundwerte – insbesondere das Tötungsverbot – systematisch verletzt. Kriege bedeuten immer Grausamkeiten und unermessliches Elend.

Betrachten wir die oben genannten Fakten, dann wird deutlich: Verantwortlich sind nicht nur die Einzeltäter, sondern auch das gesellschaftliche System, das diese Täter produziert hat, und die Institution Krieg.

Gert Sommer, Professor für Psychologie an der Universität Marburg, Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie, stellv. Vorsitzender Wissenschaft & Frieden, Träger des Preises der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2004/3 Ziviler Widerstand, Seite