Enmifikation
Zu den Ursachen des Prozesses der Feindbildproduktion
von John F. Hunt
Enmifikation ist der Prozeß der Produktion von Feindbildern. Ein Feind ist „die Person, der man kein soziales Gefühl entgegenbringt“ (Rieber & Kelly, 1991, S.8). In diesem Artikel wird vorgeschlagen, Enmifikation als Teil eines wesentlich komplexereren Vorgangs anzusehen. Es ist mehr als der Wunsch, eine dritte Person geistig zu befähigen zu töten oder dem Töten eines anderen Menschen zuzustimmen. Die Tatsache, daß Enmifikation überhaupt möglich ist, ist ein Hinweis auf die Voraussetzung von Menschen sich so beeinflussen, manipulieren oder überreden zu lassen, daß sie entgegen ihrer natürlichen Art (wenn sie nicht der Beeinflussung, Manipulation oder Überredung einer dritten Partei ausgesetzt gewesen wären) handeln oder denken.
Der Artikel will untersuchen, was im Individuum zuläßt, daß es geistig entgegen dem beeinflußt wird, was unter normalen Umständen sein Wille wäre. Aus diesem Grund sollen Propaganda und andere Methoden der Beeinflussung von Entscheidungsfindung untersucht werden. Die andere Seite der Enmifikation ist die Person, welche das Feindbild produziert: wie und warum kommt er oder sie zu dem Bedürfnis, diesen Prozeß in Gang zu setzen und welche – bewußten oder unbewußten – Charakteristika wurden beobachtet. Anhand aktueller, praktischer Beispiele wird gezeigt, wie durch Manipulationen Anfälligkeit für den Enmifikations-Prozeß erreicht wird. Schließlich werden Antworten auf die Frage betrachtet, wie man dem Bedürfnis, andere zu enmifizieren, entgehen und die Anfälligkeit für Enmifikation vermeiden kann. Im folgenden Aufsatz werden sowohl praktische als auch theoretische Probleme angesprochen, auf die dann der in dieser Einleitung zusammengefaßte Ansatz bezogen wird.
In seinem Buch „Faces of the Enemy“ räumt Sam Keen (1991) der Darstellung von Beispielen für Enmifikation sehr viel Platz ein: die meisten haben mit Kriegen zu tun sowie mit der Polarisation der Gefühle von Liebe und Haß. Dies ist verständlich, da die augenfälligste Form der Enmifikation darauf abzielt, Menschen dazu zu bringen, sich in Kriegen gegenseitig umzubringen. Der Prozeß der Enmifikation führt zu einer derartigen Dehumanisierung, daß von der oder dem Betroffenen im Geiste des Betrachters ein Bild entsteht, das jene/n der normalen Gefühle eines menschlichen Wesens für unwürdig oder unfähig erscheinen läßt. Deshalb sollte Enmifikation in einem wesentlich weiteren Rahmen als dem des Krieges untersucht werden, obwohl Krieg einer der klarsten und dramatischsten Vertreter dieser menschlichen Tendenz bleibt. Sam Keen gibt zahlreiche Beispiele für Enmifikation im Krieg, um die Existenz dieses Phänomens zu beweisen. Ich werde nun mit der Untersuchung der Implikationen und Ursprünge dieses Prozesses fortfahren.
Kognitive Dissonanz und Enmifikation
Obwohl es viele psychologische Ursprünge für das Bedürfnis zu enmifizieren oder für die Anfälligkeit für diesen Prozeß gibt, dürfte die Konsistenz-Theorie eine der fundamentalsten Motivationen des Individuums erfassen, d.h. den Drang nach Konsistenz als Motiv für Verhalten und Einstellungen. Diese Theorie wird später in diesem Aufsatz wieder auftauchen, im Zusammenhang mit Persuasion und Manipulation, bei denen die gleichen psychologischen Methoden Verwendung finden wie bei der Enmifikation. Tatsächlich haben die Überredungstechniken der modernen Medienwerbung vieles gemeinsam mit dem Prozeß der Enmifikation. Oft liegt der einzige Unterschied in dem erwünschten Ergebnis des Prozesses.
Eine Forschungsgruppe an der Yale University (USA) untersuchte nach dem 2. Weltkrieg viele Aspekte der Überredung. Eine der wichtigsten einstellungsbeeinflussenden Konstellationen, die sie entdeckten, wurde als „Konsistenz-Theorie“ bekannt. „Kognitive Konsistenz ist die Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen einer Person über ein Objekt oder Ereignis. Die grundlegende Annahme ist, daß, wenn neue Informationen widersprüchlich oder inkonsistent zu den Einstellungen einer Person sind, dies zu Konfusion und einem Spannungszustand führt. Dieser Spannungszustand motiviert die Person, ihre Verhaltensweisen zu verändern oder anzupassen.“ (Jowett & O'Donnel, 1992, S.133). Die menschliche Neigung zur Homöostase bedeutet, daß ein Mensch alles Erforderliche tut, um das Gleichgewicht seines Weltbildes – wie irrational es einem externen Beobachter auch erscheinen mag – wieder herzustellen. Die Theorie der Kognitiven Dissonanz von Leon Festinger (1957) entstand aus der Theorie der „Social Amplification“. Diese besagt, daß ein Mensch das „Bedürfnis zu wissen“ und das Bedürfnis nach konsistentem Wissen hat (Deutsch & Krauss, 1965, S.68). Wenn es inkonsistent ist, gibt es einen Druck, diese Dissonanz zu reduzieren: durch Veränderung der Kognition, durch Veränderung des Verhaltens oder durch das Ausfindigmachen von neuen Informationen und Meinungen, die mit der eigenen Sichtweise konsistent sind. Propaganda verzerrt Kommunikation oft in einer Art und Weise, die deren Empfänger zu einem Versuch der Disonanzreduktion veranlaßt, was wiederum den Propagandisten begünstigt. Den Unterschied zwischen informativer Kommunikation und Propaganda drücken Jowett und O'Donnell (1992, S.20) wie folgt aus: „Der Zweck der Propaganda ist es, eine Angelegenheit der eigenen oder der Gegenpartei ganz im Interesse des Propagandisten zu fördern, aber nicht notwendigerweise im Interesse des Empfängers“.
Einfache Botschaft
Dieses Konzept der Vereinfachung von Informationen ist fundamental für jegliche Diskussion im Zusammenhang mit Feindschaft und wenn es darum geht, wie Menschen von einer neuen Meinung oder Verhaltensweise überzeugt werden. Eine Gemeinsamkeit aller persuasiver Medien ist die Kürze der Aussage und das Vermeiden von komplexen Gedankengängen auf seiten des Empfängers der Information. Darauf wird später im Kontext von Werbung noch ausführlicher zurückzukommen sein. Für den Augenblick soll es als Charakteristik erwähnt sein, die dem Mechanismus der Enmifikation ermöglicht, den Kopf eines Menschen in den Griff zu bekommen. Nach der Meinung von Walter Lippmann (1929) sind Menschen nicht in der Lage „mit so viel Feinheit, so viel Verschiedenheit, so vielen Permutationen und Kombinationen umzugehen“. Er sagt, sie müßten es in ihren Köpfen einfacher rekonstruieren. Oder anders ausgedrückt, sie müßten sich mit einer Landkarte versehen, mit der sie sich in der Welt zurechtfinden können.
Warum scheinen wir diese Vereinfachung der Welt zu wollen? Haben wir Angst vor dem, was wir finden könnten, wenn wir uns die Welt zu genau betrachten würden? Oder haben wir vielleicht Angst vor dem, was Keen „homo hostilis“ nennt, und verdecken es deshalb mit einfachen, heuristischen Techniken oder projizieren die Teile unseres Selbst, die wir hassen und verleugnen, auf andere? Haben weiterhin diese „Schatten“ von uns selbst (Jungs Definition von „Schatten“ folgt später) derart Bestand über die Epochen hinweg, wie Keen argumentiert, daß sie Archetypen des Feindes bilden? Müssen wir tatsächlich, wenn keine natürlichen Feinde existieren, welche kreieren, um ein angeborenes menschliches Bedürfnis zu befriedigen? Die Antwort auf all diese Fragen muß „ja“ lauten, wenn wir die vergangenen Erfahrungen der menschlichen Spezies und die zahlreichen Verhaltensbeispiele, die von Sam Keen zitiert werden, betrachten. Zur Natur der Enmifikation gehört Dehumanisation. Dies kann vom menschlichen Verstand nicht ohne die Vereinfachung und Stereotypisierung der Vorstellung eines Feindes vollbracht werden. Bevor gedankenloses Töten stattfinden kann, müssen die Gedanken »reduziert« werden. Dies wird – wenigstens im Krieg – durch die ausgedehnte Propaganda-Maschinerie erreicht, die von den kriegführenden Nationen geschaffen wurde.
Ein Teil des Vereinfachungsprozesses besteht darin, die Protagonisten in leicht zu identifizierende Modelle für Liebe oder Haß zu polarisieren, die dann in den Köpfen der Empfänger grundsätzlich mühelos durch den Propagandisten für seine Motive zu manipulieren sind. Den eher augenfälligen Motiven liegt das zentrale Motiv zugrunde, die Gruppe oder Gesellschaft (sehr ähnlich dem »Granfalloon« Prozeß, auf den ich mich später noch beziehen werde) von allen »anderen« abzusondern. Das klassische Beispiel wurde von George Orwell in seinem Buch „1984“ sehr gut dargestellt. Er schrieb von einer hoffnungslos totalitären Gesellschaft, die durch die Oligarchie zusammengehalten wurde, welche sich der Mittel von Zensur und Gewalt bediente. Sie wurden „vom Staat in täglichen »zwei Minuten Haß«-Übungen gegen einen angenommenen, nationalen Feind, mit dem sie in einen endlosen aber wenig erfolgreichen Krieg verwickelt waren, indoktriniert“. (Deutsch, 1970, S.390).
Bei der Untersuchung des Phänomens, wie Inividuen durch den Prozeß von Enmifikation und Propaganda beeinflußt werden, ist es wesentlich, sich auch den Effekt auf eine große Menge von Menschen als Ganzes innerhalb einer Gesellschaft anzusehen. Es ist vielleicht einfacher, die Anfälligkeit eines Individuums für Propaganda und Enmifikation durch die Aussage zu erklären, sie entstünde aus dysfunktionalem oder neurotischem Verhalten oder wegen eines unerfüllten Bedürfnisses dieses Individuums. Aber gibt es eine andere Erklärung, wenn ganze Gesellschaften erfolgreich propagandistisch beeinflußt werden? Rieber und Kelly (1991, S.8) sagen, daß Neurotiker leicht Feinde erwerben, da ihnen soziales Empfinden fehlte. Nationen erwürben Feinde auf einer ganz ähnlichen Basis. Was gebraucht werde, um beides, Krieg und Neurose, zu heilen, sei beidesmal dasselbe. Wenn das wahr ist, wie werden dann die normalen menschlichen Gefühle, die eine Gesellschaft zusammenhalten und ihr ermöglichen, mit Individuen und Gesellschaften außerhalb in Verbindung zu treten, reduziert?
Die Experimente von Milgram (1974) haben gezeigt, daß es wahrscheinlich ist, daß Menschen anderen Menschen in einer Laborsituation übermäßige Schmerzen durch elektrische Schocks zufügen, nur um sich der »Norm« der wissenschaftlichen Umgebung – oder vielleicht deren Ideologie – zu fügen. Es gibt viele psychologische Mechanismen, die diese Art irrationalen Verhaltens zwischen verschiedenen Teilen der Menschheit erklären sollen. Dazu gehören: Psychische Abstumpfung (»psychic numbing«), Brutalisation (des »Feindes«) und die oben erwähnte Konsistenz-Theorie. Von dem neurotischen Verhalten des »Doubling« spricht man, wenn eine Person in einem solchen Ausmaß zerfällt, daß ein anderes »Selbst« entsteht, z.B. eines, das die »Logik« der nuklear-technologischen Überlegenheit eher akzeptiert als einem Selbst, das Mitgefühl mit anderen Menschen hat. Dies kann auch gleichgesetzt werden mit Jungs Idee der »Persona«, d.h. der Summe der gesellschaftsfähigen Eigenschaften einer Person und ihres »Schattens«, der gebildet wird aus dem, was nicht mit dem Bild übereinstimmt, das er/sie von sich selbst hat, und deshalb unterdrückt wird. Jung sagt, der Schatten sei die »negative« Seite der Persönlichkeit, die Summe all dieser unangenehmen Qualitäten, die wir, zusammen mit den unzulänglich entwickelten Funktionen und dem Inhalt des persönlichen Unterbewußtseins, verstecken wollen.
Die Frage, wie und warum diese Abspaltungsmechanismen eine Population beeinflussen bzw. sich in dieser ausbreiten, ist schwierig zu beantworten, aber wurde von Menschen wie Freud, Jung, Reich und Trotter gestellt. Sam Keen (1991, S.19) sagt, daß »Konsensuelle Paranoia« die Basis aller Gesellschaften ist, in denen Kriege gerechtfertigt werden. Ohne sie könnte das Bild eines Feindes nicht existieren. Jung argumentiert, daß emotionale Übertragung für kollektive Enmifikation verantwortlich sei. Andere Psychologen dieser Zeit nahmen an, daß dies der Menschheit angeboren ist, und Wilfred Trotter erweiterte 1916 die Theorie in seinem Werk über den Herdeninstinkt in Kriegs- und Friedenszeiten. (Rieber & Kelly, 1991, S.10). Freud setzte die Gedanken zu emotionaler Übertragung fort, indem er sie (inter alia) als Identifizierung des Führers der Propagandaideologie als Vater-Figur mit der pervertierten Aggression des Ödipus-Komlexes, die auf Außenstehende gerichtet ist, beschrieb. Wilhelm Reich (1934) sprach von einer »emotionalen Seuche«, die er als „Gesamtsumme aller irrationalen Funktionen im Leben des menschlichen Tieres“ definierte, welche die ganze Gesellschaft durchdringe. Weiterhin sagt er, daß es eine zentrale Funktion dieser emotionalen Seuche im sozialen Leben sei, den Schwierigkeiten der Verantwortlichkeit und den Gegebenheiten des täglichen Lebens und Arbeitens zu entkommen, und Zuflucht in Ideologie, Illusion, Mystik, Brutalität oder einer politischen Partei zu finden. (Reich, 1950). Hitler wußte dies, wie aus seinen Handlungen und seinen Ausführungen in »Mein Kampf« ersichtlich wird, nur zu gut und hat all dies bewußt manipuliert. Reich (1934) betont die Verbindung zwischen persönlichem Verhalten per se und persönlichem Verhalten als Teil des gesellschaftlichen Handelns, indem er darauf hinweist, daß die emotionale Seuche, die auf der Charakterstruktur der Subjekte basiert, in interpersonellen, also sozialen Beziehungen spürbar und in korrespondierenden Institutionen organisiert wird.
Rieber und Kelly (1991, S.20) sagen, daß „Enmifikation mit einem Virus verglichen werden kann; einem Virus, der sich von einer Gesellschaft zur anderen durch Kontakt verbreitet“. Vielleicht ist die medizinische Metapher, nach der in all diesen Beispielen die ideologische Propaganda und Enmifikation als »Krankheit« beschrieben werden, mehr als nur eine Metahper. Es kann gut sein, daß es in der Natur der psychologischen Grundlagen von Propaganda liegt, daß sie, einmal in der sozialen Psyche aktiviert, sich über Kommunikation verstärkt und ausbreitet.
Ich möchte noch, bevor wir die Betrachtung der Ursachen von Enmifikation abschließen, eine andere Perspektive berücksichtigen. Und zwar die, welche von Pratkanis und Aronson (1991, S.167-174) vorgelegt wurde. Sie ist die logische Grundlage einer weiteren Persuasions-Technik, die auf die kollektiven Emotionen einer Population abzielt, und ist bekannt als »Minimum Group Paradigma« – ursprünglich entdeckt von Henri Tajfel (1981). Seine Experimente zeigten, daß sich eine Gruppe aus den bedeutungslosesten und trivialsten Gründen bilden kann und Menschen sich aus geringstem Anlaß -„at drop of a hat“ – als Gruppenmitglieder identifizieren. Pratkanis und Aronson erwähnen, daß der Novelist Kurt Vonnegut den Begriff »Grandfalloons« für eine „stolze und bedeutungslose Verbindung von Menschen“ geprägt hat und verwenden diesen Titel im folgenden ihr ganzes Buch hindurch.
Diese Information wird regelmäßig für Werbung verwendet – z.B.: „Wir sind die reiche, moderne Gruppe, weil wir Mobiltelefone besitzen“ –, aber es gibt auch eine viel bedrohlichere Seite davon. Wie Pratkanis und Aronson (1991, S.168) hervorheben, werden nicht nur die Gemeinsamkeiten einer Gruppe betont, sondern auch die Unterschiede überbewertet. Daraus folgt die Bezeichnung der »Außenseiter« als »Krouts«, »Japs«, »Gooks«, »Nigger«, »Wogs« etc. Das Abstrakte ist leichter zu töten, und gleichzeitig fühlt sich die Gruppe sicherer, mehr in der Lage, sich selbst zu verteidigen, und verhilft sich zu einem wachsenden Selbstbewußtsein. Diese Tendenz findet sich nicht nur in der modernen Gesellschaft, sondern auch in vielen Stammessystemen. Der Stamm der Mandrakas in Brasilien zum Beispiel macht eine Unterscheidung zwischen sich selbst als »Menschen« und allen anderen, die sie als nicht-menschlich oder tierisch ansehen und »Paraquot« nennen. Es gibt viele andere Beispiele eines natürlichen Dehumanisationsprozesses in primitiven Kulturen. Sehr oft werden die »anderen« einer umso gößeren Dehumanisation unterzogen, je weiter sie von dem Stamm oder der lokalen Gesellschaft entfernt sind. Wieder einmal ist Hitler das extreme Beispiel für bewußtes und effizientes Generieren der Meinung einer Masse über »den anderen«. Und tatsächlich nannte er all diejenigen, die er als Außenseiter klassifizierte – so die Juden, Kommunisten, Polen, Zigeuner, Slawen und Homosexuelle – »Untermenschen«. Die Menschen innerhalb der »Gruppe« waren für diesen Enmifikationsprozeß anfällig, da sie, beginnend mit dem ersten Weltkrieg, ihre eigene Identität verloren hatten. Wie Lifton und Markusen (1990, S.52) sagen, war die Niederlage mehr als nur eine militärische Niederlage. „Sie war verbunden mit einem Gefühl der nationalen Demütigung, des ökonomischen Chaos aufgrund der katastrophalen Inflation und des nahenden Bürgerkrieges. (…) Für die einzelnen Deutschen zerbrach eine Welt. Sie erfuhren ein Gefühl der personellen Desintegration und verzweifelten an ihrer indviduellen und kollektiven Zukunft.“
Bisher wurde in diesem Artikel der psychologische Prozeß betrachtet, der bei der Enmifikation von Massen beteiligt ist, und es wurde aufgezeigt, wie Propaganda dieselben Prozesse – so die Vereinfachung des Denkens, die Polarisation und das Bedürfnis, zu Gruppen zu gehören – für ihren manipulativen Zweck verwendet. Es wurden einige der erfolgreichen Methoden der Massenpropaganda untersucht und ihre Ähnlichkeit mit dem spezifischeren Prozeß der Enmifikation hervorgehoben.
Der »Feind« in Waco
Im folgenden werde ich ein aktuelles Beispiel untersuchen, in dem vom Anfang bis zum Ende eine verwickelte Ausbreitung von Enmifikations- und Propagandaprozessen wirksam war. Dies war der Fall bei der Davidianischen Sekte in Waco (Texas), wo eine Kultgemeinschaft sich vor der Welt verbarrikadierte und nach dem Eingreifen des FBI Suizid beging.
Eillen Barker, Autorin des „British Home Office Guide to New Religion movements“ sagt, daß es drei Hauptelemente gibt, die eine Sekte ausmachen, nämlich: soziale Isolation, verantwortungsfreie und absolute Führung und das Verbot, Fragen zu stellen (zit. n. Sydney Morning Herald vom 5. März 1993). Wir werden sehen, daß diese drei Charakteristika Voraussetzungen für das sind, was ich vorher als stark vereinfachtes Denken beschrieben habe, wobei die Menschen beeinflußt oder gezwungen werden, nicht selbst nachzudenken und, bewußt oder anderweitig, die in ihren kognitiven Prozeß »geladene« Information zu akzeptieren, die dann ihr Verhalten beeinflußt. Obwohl im Fall von Enmifikation nicht immer alle drei Elemente gleichzeitig gegenwärtig sind, ist – wenn sie, wie im Falle von Sekten, gemeinsam auftreten – der Enmifikationsprozeß fast eine ontologische Gewißheit.
Um einen »Anhänger« dazu zu bringen, daß er die obigen drei Charakteristika akzeptiert, muß er/sie vermutlich auf einen klassischen Enmifikationsprozeß zurückgreifen. Im Falle von religiösen Sekten, und ganz bestimmt im Fall Waco, erscheint der Feind zuerst in der Philosophie des Führers (in Waco: David Koresh), in der der Teufel zum Feind gemacht wird. Dann expandierte der Feind, um alle einzuschließen, die gegen den Davidianischen Orden waren um schließlich all diejenigen zu umfassen, die dem Orden nicht angehörten. Die mystisch-religiöse Qualität der Leidenschaft, die Hitler in den Menschen entfachte, ist eine Notwendigkeit für jeden religiösen Kult. Üblicherweise eine Empfindung der Losgelöstheit von der natürlichen Welt, ein Gefühl des Nichtverstandenwerdens und der Wille, dem Führer und der Philosophie ihre Ergebenheit zu beweisen, machen sie zu auserlesenen Vollstreckern von Selbstaufopferung.
Das FBI hätte in Koreshs Augen kein besserer Feind sein können, da es die Regierung und damit den Feind – die Welt außerhalb des Hauptquartiers der Sekte auf Ranch Apocalypse – repräsentierte. An diesem Fall kann man sehen, wie der Feind als nicht-natürliches Etwas entstand und immer konkreter im realen Leben repräsentiert wurde, bis schließlich jeder außerhalb des Ranch-Geländes zum Feind wurde, der von ihrer Sicht der Welt aus genügend dehumanisiert war, um ungestraft getötet werden zu können. Dies ging noch einen Schritt weiter, bis die Dehumanisation sich auf ihre eigene Körper bezog und sie Suizid begingen. Man kann sich fragen, ob dieser letzte Schritt Enmifikation als solche ist, aber es ist sicherlich eine Konsequenz davon. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, wo Massenmörder in der Folge der Dehumanisation von anderen Menschen sich selbst das Leben genommen haben. Georg Simmel (1955) macht es eher noch überzeugender deutlich, wenn er von Konflikt als dem Versuch spricht, divergierende Dualismen zu lösen. Danach ist Konflikt ein „Weg um eine Art Einheit zu erreichen, selbst wenn dies durch die Vernichtung einer der Konfliktparteien geschieht“. Dies steht in Verbindung mit der Kognitiven Dissonanz-Theorie von L. Festinger, auf die ich mich weiter oben bezogen habe. Die »Einheit« in diesem Fall wird nicht durch die antizipierte Vernichtung der Welt außerhalb erreicht, sondern durch die geplante vollzogene Vernichtung ihrer eigenen Welt. Ein weniger dramatischer Fall wird von Lifton und Markusen (1990) aufgeführt, in dem eine Frau in San Francisco das Ende der Welt für einen bestimmten Tag vorhergesagt hatte. Als dies nicht eintraf, wurde die kognitive Dissonanz bei ihr und ihren Anhängern durch die Aussage reduziert, daß ihre Vorbereitungen und die Vorhersage des fatalen Tages sein Auftreten verhindert hätten.
John Mayer (zit. n. Sydney Morning Herald vom 5. März 1993) hat eine Entdeckung gemacht, die er „das gefährliche Führungssyndrom“ nennt und dessen Charakteristika genau die gleichen sind wie bei Enmifikation. Dies sind:
- Gleichgültigkeit gegenüber Leiden und Abwertung von anderen;
- Verbot von Kritik und Kontrolle der Information und
- ein ausgeprägter Sinn für einen Führungsanspruch, der sich oft in dem Glauben manifestiert, sie wären von Gott oder dem Messias ausgesandt.
Es sollte angemerkt werden, daß es viele »seltsame« Religionen oder Gruppen auf der Welt gibt, die oft Sekten genannt werden, aber nicht allen dieser drei Charakteristika entsprechen. Es ist zum Beispiel nicht ausreichend, sonderbare Überzeugungen zu haben. Die Bhagwan Rajneesh Organisation wird oft als die klassische Sekte angesehen. Aber trotz all ihrer unüblichen Überzeugungen und Aktivitäten hat ihr Führer seinen Anhängern keine rigide Denkweise auferlegt und hat den Informationsfluß und das Fragen nicht eingeschränkt. In der Tat stellt Eillen Barker (zit. n. Sydney Morning Herald vom 5. März 1993) heraus: „Ernsthafte Forschung legt nahe, daß viele der Prozesse, die involviert sind, wenn jemand Mitglied in einer neuen religiösen Bewegung wird, sich nur wenig, wenn überhaupt, von den Prozessen unterscheiden, die in der Familie, der Schule, der Armee oder traditionellen Religionen vorkommen.“
Auf der anderen Seite des »Zauns« im Fall Waco stand das FBI, das wohlbekannte Propagandamethoden anwendete, um die Menschen von der Ranch zu vertreiben. Bei der gegebenen Fortdauer des Enmifikationsprozesses auf beiden Seiten und des Gefühls, daß etwas geschehen müsse (im Gegensatz zur Möglichkeit der Untersuchung tief verwurzelter Bedürfnisse), war das Ergebnis nicht inkonsistent mit den Aktionen des FBI.
Schlußfolgerung
Im letzten Teil dieses Artikels habe ich ein aktuelles Beispiel des Enmifikationsprozesses aufgeführt und versucht, einige Lehren aus der Geschichte herauszustellen und einige weniger offensichtliche Implikationen des modernen alltäglichen Propagandaprozesses zu verdeutlichen. Es ist klar, daß wir für die Bedingungen der Enmifikation anfällig sind. Wenn wir diese Tatsache einmal erkannt haben, können wir durch Selbst-Analyse und bewußte Umstellung unserer Denkprozesse der Akzeptanz vereinfachter Meinungen und einfacher, »primitiver« Lösungen des Konflikts, mit dem wir konfrontiert sind, entgegenwirken. Wir müssen mit dem Prozeß der Analyse und des Hinterfragens anfangen, bevor Kriege beginnen oder Konflikte eskalieren und dürfen instinktiven Verteidigungsmechanismen nicht erlauben, uns zu beherrschen, und nicht zulassen, daß Angst- und Haßgefühle sich vervielfachen, bis sie auf einen Feind projiziert werden.
Wenn wir bei der Lösung eines Konflikts den eskalatorischen – zu Sündenböcken abstempelnden – Enmifikationsprozeß verhindern wollen, werden wir eine fundamentale Veränderung der Einstellungen und der Denkrichtung erreichen müssen. Ein Paradigmenwechsel ist nötig; weg von den exponentiellen Streßkurven der derzeitigen Entscheidungsfindungsmechanismen, die nur die nicht aufhaltbaren, reaktiven Szenarien fördern, welche zu Krieg führen. Die Zeiten, in denen wir über den Luxus verfügten, den Feind als einen nicht mit uns verwandten Fremden wahrzunehmen, sind vorbei. Wie Paul Pillar (1990) sagt: „Der Feind muß jetzt, da er nicht länger nur ein Objekt des Hasses oder Ziel militärischer Operationen ist, als Partner bei der schwierigen Suche nach einer akzeptablen und funktionierenden Schlichtung gesehen werden. Damit diese Suche erfolgreich sein kann, müssen die Ziele und Empfindlichkeiten des Feindes mehr beachtet – und muß ihnen mehr Berechtigung zugesprochen – werden.“ Die vergangenen Wahlen in Südafrika machen dieses Land zu einem lebensechten Laboratorium, um Pillars Prämisse zu überprüfen. Wenn ein solcher Paradigmenwechsel erreicht werden kann, können vielleicht die Worte eines anonymen Spiritual-Dichters Trost bringen: „The holiest place on earth is where an ancient hatred becomes a present love“ – Der heiligste Platz auf Erden ist da, wo ein vormals verhaßter Mensch zum Geliebten wird.
Literatur
Deutsch, K. W., 1970. Politics and Government. Boston: Houghton Mifflin.
Deutsch, M., Krauss, R. M., 1965. Theories in Social Psychology. London: Basic Books.
Festinger, L., 1957. A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford, CA.: Stanford University Press.
Jowett, G. S., O'Donnell, V., 1992. Propaganda and Persuasion. London: Sage.
Keen, S., 1991. Faces of the Enemy. San Francisco: Harper.
Lifton, R. J., Markusen, E., 1990. Genocidal Mentality. London: Macmillan.
Lippmann, W., 1929. Public Opinion Around the World. New York: Macmillan.
Milgram, S., 1974. Das Milgram-Experiment. Reinbek: Rowohlt.
Pillar, P. L., 1990. Ending Limited War: The Psychological Dynamics of the Termination Process, in: Glad, B. (Ed.). The Psychological Dimensions of War. London: Sage.
Pratkanis, A., Aronson, E., 1991. Age of Propaganda: The Everyday Use and Abuse of Persuasion. New York: W. H. Freeman.
Reich, W., 1934. Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1971.
Reich, W., 1950. Character Analysis. London: Vision Press.
Rieber, R. W., Kelly, R. J., 1991. Substance and Shadow: Images of the Enemy, in: Rieber, R. W. (Ed.). The Psychology of War and Peace. New York: Plenum Press.
Tajfel, H., 1981. Human Groups and Social Categories. Cambridge, UK.: Cambridge University Press.
John F. Hunt, geb. 1948, war Rechtsanwalt (Solicitor) mit eigener Praxis in London (U.K.), die er im August 1991 aufgab um auf Weltreisen zu gehen. 1992/93 absolvierte er ein Postgraduiertenstudium in »Conflict Resolution« an der Macquarie University in Sydney (Australien), wo er heute lebt.