W&F 2023/4

Erhalten, Entfalten, Gestalten

Mittel der Konflikttransformation für Wege aus der Klimakrise einsetzen

von Rebecca Froese, Melanie Hussak, Dani*el*a Pastoors und Jürgen Scheffran

Die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Konflikten sind vielfältig und werden in Politik und Forschung zunehmend thematisiert. Die positiven Verbindungen von nachhaltigem, herrschaftskritischem Frieden und Klimagerechtigkeit sind hingegen noch wenig erforscht. Da anstehende sozial-ökologische Transformationen mit Konflikten einhergehen, müssen diese konstruktiv angegangen werden. Zugleich sind (koloniale) Herrschafts-, Macht- und Ungleichheitsstrukturen als Hindernisse zu überwinden. Im Beitrag denken wir klimapolitische Strategien mit ziviler Konfliktbearbeitung zusammen und skizzieren Ideen zu einer »Gestaltung der erhaltenden Entfaltung«.

Die seit der kolonialen Expansion Europas beschleunigte menschenzentrierte Entwicklung stößt zunehmend an planetare Grenzen: Im sogenannten Anthropozän1 werden die negativen Auswirkungen des Klimawandels, des Artensterbens und der ausbeuterischen Praktiken des neokolonialen Extraktivismus immer offensichtlicher. Das Wechselspiel von Wachstum, Macht und Gewalt führt zu multiplen Krisen, die die Lebensbedingungen untergraben, insbesondere von marginalisierten Gruppen und Menschen im Globalen Süden (Scheffran 1996; 2023). Es stellt sich die Frage nach notwendigen Handlungsansätzen und -potentialen, um Kipppunkte und Gewaltkonflikte zu vermeiden und eine Transformation der hegemonialen, anthro­pozentrisch verstandenen Mensch-Natur-Herrschaftsbeziehungen hin zu gesellschaftlichen Naturverhältnissen zu ermöglichen, die allem Lebendigen ein gutes Leben auf diesem Planeten ermöglichen.

Der mediale und öffentliche Diskurs zu Klimapolitik und sozial-ökologischer Transformation im Globalen Norden spricht aktuell vermehrt von einer (vermeintlichen) Polarisierung der Gesellschaften: den einen geht es zu langsam, die anderen fühlen sich abgehängt. Diese Vereinfachung bestehender Konfliktlinien ist nicht förderlich, da sie zum einen nicht die Interessens- und Bedürfnisvielfalt der involvierten Akteur*innen abbildet und zum anderen keinen konstruktiven Beitrag zur Transformation bestehender Konflikte leistet. Wir argumentieren in diesem Artikel, dass sozial-ökologische Transformationsprozesse hin zu einer »erhaltenden Entfaltung« durch Konflikttransformation konstruktiv gestaltet und unterstützt werden können (Pastoors et. al. 2022). Zivile Konfliktbearbeitung, wie sie etwa in Deutschland im Bereich der konfliktsensiblen Gemeinwesenarbeit angewandt wird, bringt in diese scheinbare Polarisierung Prozessverständnisse und Bedürfnisorientierung ein. Dieser Ansatz lädt dazu ein, entlang verschiedener Positionalitäten, Interessen und Bedürfnisse innerhalb eines mehr-dimensionalen Werte- und Handlungsraums die Schnittmengen für die Gestaltung eines soliden sozialen Fundamentes im Rahmen der planetaren Grenzen (Rockström et al. 2009; Raworth 2017) zu erkunden und zu verhandeln. Dafür ist eine Änderung des Verständnisses von »nachhaltiger Entwicklung« zentral, das diese nicht als einen linear-expansiven Prozess, der wiederum an Grenzen des Wachstums stößt, sondern als »erhaltende Entfaltung« und als relational versteht – also als Prozess, der notwendigerweise in Balance mit der mehr-als-menschlichen Natur2 ist.

Unser Artikel stellt die Frage, wie dieses als »erhaltende Entfaltung« gedachte Verständnis in Wissens- und Handlungsräumen durch zivile Konfliktbearbeitung und Klimaaktivismus gestaltet werden kann. Weitere zentrale Fragen sind, auf welche Weisen Ansätze der Konflikttransformation nicht nur auf soziale und gesellschaftspolitische Konflikte, sondern auch auf sozial-ökologische Konflikte und damit auf die Gestaltung von gesellschaftlichen Naturverhältnissen erweitert werden können, welches Wissen anerkannt wird und welche Annahmen zu Natur, Nachhaltigkeit, Entwicklung und Frieden diesen zugrunde liegen.

Globale Machtstrukturen und koloniale Verflechtungen

Länder des Globalen Südens sind stärker von Ressourcenausbeutung und den unmittelbaren Auswirkungen der Klimakrise betroffen als Länder des Globalen Nordens, die über lange Jahrzehnte die Hauptverursachenden von Emissionen und Umweltzerstörungen waren (und vielfach noch sind). Damit verbunden sind Zerstörungen von Lebensräumen indigener Nationen durch Landaneignung, die aus (neo-)kolonialen Herrschaftsprozessen resultieren und „epistemisch und physisch gewalttätige Hierarchien“ hervorbringen (Huaman und Swentzell 2021, S. 7). Die hier benannten „epistemischen Hierarchien“ beziehen sich auf die Dominanz von Wissen, das aus einem eurozentrischen Referenzrahmen entspringt. Dieses auf der europäischen Moderne basierende Paradigma versteht unter anderem den Menschen als eine außerhalb und von der Natur getrennt stehende Entität und stellt so ein Hindernis für die Anerkennung anderslautender Verständnisse von Natur, Nachhaltigkeit und Frieden aus anderen Wissenssystemen dar. So wird auch Wissen über Klima und Nachhaltigkeit in einem hierarchischen, von Kolonialisierung und Kolonialität beeinflussten Raum (vgl. Krohn 2023) entwickelt und verhandelt. Damit wird deutlich, dass im Rahmen aktueller Klimaschutzverhandlungen die Bemühungen um Interessensausgleich und für die Teilhabe marginalisierter Gruppen an Klimaverhandlungen zu kurz greifen und es in wissenschaftlichen wie auch gesellschaftspolitischen Diskursen einer Bearbeitung kolonialer Kontinuitäten bedarf. Eine Analyse der zugrundeliegenden Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse muss als Basis für Fragen zu Klimagerechtigkeit und Frieden verstanden werden. Wie nachfolgend diskutiert, umfasst dies neben dem Abbau von strukturellen Ungleichheiten auch die Ebene von Wissen(-schaft-)sparadigmen und Beziehungen.

Sozial-ökologische Prozesse als »erhaltende Entfaltung«

Auch wenn Entwicklung zumeist dynamisch und als das Gegenteil eines statischen Zustands verstanden wird, so wird mit »nachhaltiger Entwicklung« doch vielfach ein lineares Paradigma beschrieben – wie nicht zuletzt die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Vereinten Nationen verdeutlichen. Klar definierte Ziele mit Teilzielen und messbaren Indikatoren dienen insbesondere westlichen Gesellschaften als Orientierungspunkte, um Ergebnisse festzustellen und offenzulegen. Die gemeinsame Zielformulierung wird dabei als hilfreich empfunden, um sich in Verhandlungen mit globalen Akteur*innen zu orientieren und gemeinsam eine Ausrichtung und ein Tempo vorzugeben. Außer Acht gelassen wird von den Entscheidungstragenden jedoch, wer an derartigen Zielformulierungen tatsächlich beteiligt ist und welche Gruppen systematisch aus diesen Prozessen ausgeschlossen werden.

Die kritischen Hinweise dekolonialer und indigener Autor*innen verweisen hier auf die Grenzen zentraler Begriffe wie der »nachhaltigen Entwicklung«, der auf menschliche Lebensqualität fokussiert ist, „wirtschaftliche, soziale und ökologische Ressourcen auf Dauer erfordert“ (Sumida Huaman und Swentzell 2021, S. 9) und aufgrund des hegemonialen Paradigmas auf „Annahmen über unendliches Wachstum“ (Vásquez-Fernández und Ahenakew pii tai poo taa 2020, S. 66) beruht sowie Ausbeutungsmuster (re-)produziert (ebd., S. 65). Demgegenüber stehen Perspektiven für eine Gleichwertigkeit und ein Gleichgewicht zwischen Menschen, mehr-als-menschlicher Natur und der Aufrechterhaltung von Wissen innerhalb von Gemeinschaften und zwischen Generationen (Sumida Huaman und Swentzell 2021, S. 10).

Auch wenn in dieser Kritik ebenfalls Ziele definiert werden, unterscheiden sich die Fragen nach dem »Wie«, also den Prozessen zur Zielerreichung, deutlich. Mit Blick auf das dort formulierte »Wie« und die Fähigkeit, lebenswerte und lebensfähige Wege zu verfolgen, verschiebt sich die Perspektive von den Zielen auf die Prozesse, und ein lineares Denken weicht einem zirkulären Verständnis. Wir rücken im Folgenden die mit dieser Zirkularität und Prozesshaftigkeit beschriebenen Handlungen in den Fokus (siehe Abbildung 1). Die drei Ecken des Dreiecks zeigen je einen zentralen Prozess sozial-ökologischer Transformationen.

Abb. 1: Erhalten, Entfalten, Gestalten: Drei Schlüsselprozesse sozial-ökologischer Trans­formation

Der Prozess des Erhaltens legt den Fokus darauf, Bewahrenswertes zu erhalten und spiegelt dabei zunächst die ökologische Dimension wider. Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Einhaltung der planetaren Grenzen sind Existenzbedingungen für das Leben. Zudem geht es um das Lebendige selbst, wenn die Bewahrung der Artenvielfalt gefordert wird. Dabei ist es notwendig, moderne Paradigmen zu überwinden und anzuerkennen, dass der Mensch selbst Natur und Teil der ökologischen Systeme ist, die menschliche Spezies mit allem Leben auf dem Planeten verbunden ist und alles Lebendige miteinander in wechselseitiger Beziehung steht (Kothari et al. 2014). Im erweiterten Verständnis geht es auch darum, menschliches Leben und menschliche Lebensweisen zu erhalten, die durch gewaltvolle menschliche Herrschaftssysteme bedroht, begrenzt und zerstört werden.

Neben dem reinen Überleben und über den Schutz des vorhandenen Zustands hinaus geht es darum, die Entfaltung des Lebens so zu ermöglichen, dass sie seine Erhaltung nicht gefährdet. Im Sinne eines »Buen Vivir« (Kothari et al. 2014), eines Guten Lebens für alle, streben die Entfaltungsprozesse in der sozialen Dimension nach Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen und Lebewesen, die in einer nicht-destruktiven Balance zueinander stehen. Die menschlichen Entfaltungsprozesse fokussieren primär auf gesellschaftliche soziale Systeme, wobei auch hier das Bewusstsein leitend sein muss, dass es um gesellschaftliche Naturverhältnisse geht und sich soziale und ökologische Prozesse nicht voneinander trennen lassen (Drees et al. 2021). Zusammengenommen beschreiben diese beiden Prozesse die »erhaltende Entfaltung« und »entfaltende Erhaltung« zugleich.

(Konflikt-)Transformation als »Gestaltung erhaltender Entfaltung«

Die Herausforderung ist, diese Prozesse der erhaltenden Entfaltung und der entfaltenden Erhaltung aktiv und konstruktiv zu gestalten. Ein Konzept einer friedensfördernden sozial-ökologischen Transformation würde hier eine Hinterfragung bestehender Strukturen fordern, diese wenn nötig aufbrechen und in neue noch auszuhandelnde Formen umwandeln. Solche Veränderungsprozesse müssen den konstruktiven Umgang mit einhergehenden Konflikten gleich mitdenken. Die Gestaltung ist somit der dritte Prozess und umfasst die Dimension der (Konflikt-)Transformation hin zu nachhaltigen, herrschaftskritischen und beziehungsorientierten Frieden (im Plural).

Was beispielsweise im Sinne der Erhaltung als »bewahrenswert« gilt oder was genau entfaltet werden kann, darf und soll, muss als Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse verstanden werden, die herrschaftskritisch und machtsensibel geführt werden müssen. Dieser Aushandlungsprozess stellt demnach auch hegemoniale Diskurse, wie klassische Nachhaltigkeitskonzepte und ihre Reduktion auf die Dimensionen sozial, ökologisch und ökonomisch, zur Diskussion. Er lädt zur Erweiterung – etwa auf politische, identitäre und spirituelle Dimensionen – ebenso ein wie zur Diskussion von alternativen Konzepten.

Die größten Herausforderungen dieses Prozesses der Gestaltung sind, zum einen die Komplexität dieses Vorhabens anzuerkennen, ohne vorschnell auf vermeintliche einfache Lösungen zu verweisen, die nur auf kurze Sicht einen Wandel erreichbar und akzeptierbar erscheinen lassen, jedoch auf längere Sicht einige Konfliktpotenziale bergen. Zum anderen ist es wichtig sich auch der Gefahr bewusst zu sein, dass ein Nicht-Handeln – z.B. als ohnmächtige Handlungsunfähigkeit angesichts wahrgenommener extremer Komplexität und Konfliktivität – dazu beiträgt, dass ein gewaltvoller Status Quo aufrechterhalten bleibt.

Im Sinne der »Gestaltung der erhaltenden Entfaltung« ist es daher essentiell, die strukturelle Gewalt globaler und lokaler Machtbeziehungen und kolonialer Verflechtungen zu überwinden und in einer Konflikttransformation zu bearbeiten, Beziehungen gleichwertig zu gestalten und „die Bedürfnisbefriedigung der menschlichen Spezies mit den Bedürfnissen des weiteren Lebens auf der Erde in Einklang zu bringen“ (Pastoors et al. 2022, S. 299). Mit dem Blick auf diese Konflikte, Bedürfnisse, Strategien und Beziehungen wird deutlich, wie bedeutsam Friedens- und Konfliktarbeit in sozial-ökologischen Transformationsprozessen ist und dass zivile Konfliktbearbeitung Wege eröffnet, Sackgassen politischer und gesellschaftlicher Diskurse zu transformieren, indem die Frage nach den zugrundeliegenden Strukturen der Klimakrise gestellt wird und somit nicht nur die Symptome der Klimakrise, sondern ihre vielschichtigen Wurzeln in die Aushandlungsprozesse integriert werden.

Abb. 2: Graphic Recording der Workshopsession »Frieden verbessert das Klima« auf dem Jubiläumssymposium von W&F; Künstlerin: Eva Ewerhart

Paradigmen, Strukturen und Beziehungen transformieren

Die Bedeutung der Konflikttransformation in sozial-ökologischen Transformationsprozessen zeigt sich auch in verschiedenen Vorstellungen von Frieden und den zugrunde liegenden Paradigmen. Viele indigene Gruppen beziehen das Verhältnis zur Natur in ihre Vorstellungen und Wahrnehmungen von Frieden mit ein, bspw. das hawaianische »Ho‘oponopono« (Walker 2004, S. 534f.). Frieden wird prozessual und relational verstanden, und ist aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen, Lebenswelten und Land-Verortungen durchaus kontextuell. Relationalität kann dabei Beziehungen zwischen ganz unterschiedlichen Entitäten mit einschließen: jene zwischen verschiedenen Menschen, zwischen Menschen und Mitwelt und auch jene zwischen Lebewesen und nicht-belebten Teilen des Planeten. Trotz unterschiedlicher Konzepte und Lebensweisen des Friedens gibt es Gemeinsamkeiten, wie die Wiederherstellung von Beziehungen sowie die Orientierung an einem lebendigen Kosmos (Brigg und Walker 2016, S. 260). Für die Gestaltung der Beziehungsebene einer sozial-ökologischen Transformation bedeutet dies, auch Raum und Ort relational zu denken (Brigg 2020, S. 549) und ebenso die Mitwelt in Beziehungen gleichwertig und respektvoll anzuerkennen (Vásquez-Fernández und Ahenakew pii tai poo taa 2020, S. 65).3

Wie kann eine solche Gestaltung, das heißt konflikttransformative Arbeit der erhaltenden Entfaltung also aussehen? Diese Gestaltungsprozesse können, wenn sie bspw. kollektives Handeln initiieren, Dominanzstrukturen bewusst aufbrechen und Beziehungen gestalten sowie Räume für den Austausch und den Aufbau von Beziehungen zwischen Menschen mit verschiedenen Wissenssystemen öffnen helfen – was ein grundlegendes Element einer Konflikttransformation darstellt.

Derartige Verständigung über verschiedene Wissenssysteme hinweg hat zudem das Potenzial, die Barrieren des Silodenkens und Sektorhandelns zu überwinden – und Probleme von verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten (vgl. Berg 2020). In erster Linie geht es uns daher um die Erweiterung der Perspektive und das Bewusstmachen und Anerkennen der benannten Aspekte. Ganz praktisch kann dies beispielsweise in dezentralen Räumen geschehen, in denen viele kleine Transformationen entstehen können: sowohl in Form

(i) physischer Räume zur Ermöglichung von Aushandlungsprozessen, Koproduktion und transdisziplinärer Dialoge (z.B. Stadtteilkulturzentren und Nachbarschaftstreffs in der konfliktsensiblen Gemeinwesenarbeit), die als

(ii) Veranstaltungen zur Vernetzung gesellschaftlicher Akteursgruppen für den Austausch von Wissen und Ressourcen, und die Stärkung politischer Teilhabe, als auch

(iii) als »Spielwiese« für das Ausprobieren neuer Formate transformativer Prozesse (z.B. Reallabore) funktionieren können.

Klar ist, dass die hier kritisierten Dominanzstrukturen und hegemonialen Wissensformen nicht durch arglose, falsche Interpretationen und Aneignungen dekolonialer und machtkritischer Konzepte durch westlich-europäische Akteure abbaubar und transformierbar sind. Aushandlungsprozesse in dezentralen Räumen müssen daher auch auf Akteurs- und Sprecher*innenebene ihre Erweiterung finden und Raum für vielfältige Perspektiven und Positionalitäten ermöglichen. Solange diese Relevanz dezentralisierter und ermöglichender Strukturen nicht mit- und weitergedacht wird, bleibt das Narrativ der »Großen Transformation« ebenso eine Illusion wie das Narrativ eines nachhaltigen Friedens (Brauch et. al. 2016).

Auf dem Weg zu lebensfähigen Gesellschaften

Es bedarf einer Abkehr von bestehenden expansiven Entwicklungsmodellen, die in ihren kolonialen und imperialen Varianten das von Europa ausgehende Herrschaftsmodell auf den gesamten Planeten ausgeweitet haben und in der Globalisierung zur Trennung von Biosphäre und Soziosphäre geführt haben. Der erzwungene Beziehungsabbruch zur mehr-als-menschlichen Natur und zum eigenen Land gehört zu den tiefgreifendsten Aspekten der Kolonialprozesse (Walker 2004, S. 530). Nur wenn die Interdependenz allen Lebens ernst genommen wird, können die Prozesse des Erhaltens, Entfaltens und Gestaltens im Rahmen von sozial-ökologischen Transformationsprozessen zu nachhaltigen Friedensbeziehungen führen.

Eine dekoloniale Perspektive macht dabei auf epistemische und ontologische Gewaltformen dominanter Wissenschaftsdiskurse aufmerksam (ebd., S. 527), die zur Aufrechterhaltung kolonialer Herrschafts- und Machtverhältnisse beitragen und die bisher verunmöglichen, diese Interdependenz ernst zu nehmen. Für herrschaftskritisch orientierte, sozial-ökologische Transformationsprozesse ist es daher wesentlich, epistemische, ontologische, methodologische und ethische Grundlagen des hegemonialen Diskurses zu hinterfragen und indigene Wissenssysteme als gleichwertig anzuerkennen.

Für Transformationsbemühungen hin zu mehr Klimagerechtigkeit folgt daraus, dass globale und koloniale Machtstrukturen aufgebrochen werden müssen. Eine Konflikttransformation, die es sich zur Aufgabe macht, multiple Frieden als sozial-ökologische Transformationsprozesse zu denken und Klimagerechtigkeit mitzugestalten, braucht die Bereitschaft, unterschiedliche Verständnisse und Positionalitäten mit einzubeziehen und gegenhegemoniale Wissens- und Handlungsperspektiven als Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen anzuerkennen. Eine Grundbedingung für eine regenerative Gesellschaft, die Leben erhält und entfaltet, ist die »Kompostierung« des kolonialen Erbes und Herrschaftswissens dieser Welt (Or 2023). Zurücktreten, Zuhören und Verlernen (ebd.) sind wesentliche Bestandteile von Konfliktarbeit und Transformationsprozessen und somit zentral für die »Gestaltung der erhaltenden Entfaltung«, die Schaffung lebensfähiger Gesellschaften.

Anmerkungen

1) Das Konzept des Anthropozäns wurde von Paul Crutzen zu Beginn des 21. Jhdt. als Definition eines neuen Erdzeitalters vorgeschlagen, in dem die vom Menschen verursachten planetaren Veränderungen, insbesondere die Steigerung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre durch dessen Auswirkungen auf globaler Skala ein neues geologisches Zeitalter definieren (vgl. Crutzen 2022). Das Konzept wurde bereits vielfach kritisiert, insbesondere von Autor*innen aus dem Globalen Süden und indigenen Autor*innen, da das Narrativ einer geteilten Verwundbarkeit von einer homogenen Weltgesellschaft spricht, und damit die Fragen nach Verantwortlichkeiten für die Veränderungen und Ungerechtigkeiten verschiedener Wirtschaftssysteme, sowie deren Verflechtungen in (neo-)kolonialen Machtstrukturen nicht aufwirft (vgl. Simmons 2019).

2) Der Begriff »mehr als menschliche« (»more than human«) Natur macht deutlich, dass der Mensch Teil der Natur ist und dennoch gerade über den Teil der Natur jenseits dieser Spezies gesprochen wird. Er stellt den Anthropozentrismus und die Dichotomie zwischen Mensch und Natur in Frage und fokussiert auf die interdependenten Beziehungen, die Leben miteinander verflechten (vgl. Posthumanismus, neuer Materialismus u.a.).

3) Dabei wird die anthropozentrische Perspektivierung in der europäischen Moderne hinterfragt, die den Menschen im Zentrum der Welt und die Natur als Objekt der Beherrschung sieht und die auf der Trennung und Hierarchisierung zwischen Menschen, anderen Lebewesen und der Natur aufbaut. Stattdessen wird im Sinne indigener Konzeptionen die sogenannte »Umwelt« nicht als getrennt, sondern vielmehr als eine Art »Mitwelt« begriffen, in der der Mensch als Teil der Natur und als eine gleichwertige Spezies mit allen anderen verbunden ist (Vásquez-Fernández und Ahenakew pii tai poo taa 2020).

Literatur

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Walker, P. O. (2004): Decolonizing conflict resolution: Addressing the ontological violence of Westernization. The American Indian Quarterly 28(3), S. 527-549.

Dr. Rebecca Froese forscht am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Münster zu Fragen von Partizipation in der sozial-ökologischen Transformation, eingebettet in größere Fragen nach Friedensförderung, Konflikttransformation und Gerechtigkeit.
Melanie Hussak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Friedensinstitut Freiburg der Evangelischen Hochschule Freiburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Dr. Dan*iel*a Pastoors lebt im Land des Westfälischen Friedens und erkundet, wie individuelle, kollektive und planetare Fürsorge zusammenspielen und wie Friedens- und Konfliktarbeit ein Gutes Leben für alle unterstützen kann.
Dr. Jürgen Scheffran ist Professor (em.) für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/4 40 Jahre W&F, Seite 43–47