Ernst Bloch: Widerstand und Friede
von Karl Brose
Blochs Konzept einer Friedenserziehung ist an dessen Philosophie der Hoffnung und konkreten Utopie gebunden. Eine solche Rückbindung läßt die Friedenserziehung nicht in die Irre pädagogischer Partikularprobleme von Didaktik und Methode laufen. Ferner liegt in der Philosophie Blochs ein positiver Ansatz zur Friedenserziehung vor: Frieden wird als sozialer Frieden, konkrete Hoffnung und Gerechtigkeit verstanden durchaus mittels Revolte und Widerstand – in Abgrenzung von einem bloß negativen Frieden der Abwesenheit vom Krieg, einem ständigen Waffenstillstand und latent vorhandenem Krieg, der nur auf seine Stunde wartet, wenn die Waffen scheinbar schweigen. Es ist dieses Moment eines positiven Friedens in der Philosophie Blochs so stark hervorzuheben, weil auch die negative Dialektik der Kritischen Theorie der sog. „Frankfurter Schule“ äußerst wirkungsvolle Begriffe des Widerstands, Nichtmitmachens und Neinsagens bietet1. Diese negativen Widerstandsbegriffe der Kritischen Theorie sollen im folgenden durchaus ergänzend und erweiternd mit einbezogen werden. In einem 1. Hauptteil ist stärker der philosophische Aspekt das Friedenskonzepts Blochs herauszuarbeiten, im 2. Teil der pädagogische Impuls.
I. Der philosophische Impuls des Friedensdenkens Blochs
1. Theologische Ansätze: Kampf gegen den Krieg
Bloch will in seiner Friedensrede Widerstand und Friede 2 ein Philosophieren der Hoffnung, das den Kampf braucht zum Frieden. Dieser Kampf ist nicht Krieg, sondern sozialer Kampf. Er reicht vom Streik bis zu den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Durch ihn soll das Ziel des sozialen, ja sozialistischen Friedens (S. 91) hergestellt werden. Diesen Gegensatz zwischen Kampf und Krieg verdeutlicht Bloch an Beispielen des Alten Testaments: „Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom“; dann werden die „Schwerter zu Pflugscharen und die Spieße zu Sicheln“ und werden die Völker „nicht mehr Krieg lernen“ (Amos 5,24; Jesaja 2,4; Micha 4,3). Diese Aufrufe der Alten Propheten zum Kampf gegen den Krieg sind für Bloch noch immer unabgegolten in bezug auf Zukunft. Sie bleiben eine konkrete Hoffnung im Kampf um sozialen Frieden, wie er heute nicht nur sichtbar wird in den marxistischen Ansätzen einer „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika, sondern auch in dem an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht entzündetem Kirchenkampf in Ostdeutschland. Diesen Kampf gegen den Krieg fundieren auch die Worte des Neuen Testaments: „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, es brannte schon!“; „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Lk 12,49; Mt 10,34). Bloch sieht hier den Kampf der Mühseligen und Beladenen gegen den Profit der Reichen und Besitzenden. Dieser reale Kampf für den Frieden ist in seinem „einzig moralischen Widerstandsrecht“ (S. 87) vom Krieg weltweit unterschieden; auch vom sogenannten Verteidigungskrieg. Es ist schon fast eine Form von Aggression, mindestens aber von Furcht, in dieser Verteidigungshaltung ständig zu verharren und zu ihr bereit zu sein. Die hochgerüsteten Staaten leben nur im Scheinfrieden und Waffenstillstand. Kampf jedoch erwartet die Befreiung von Krieg und Furcht nicht von jenen Mächten, die diese Furcht und diesen Krieg überhaupt erst erzeugt haben.
2. Kant und Marx: Moral der Gesellschaft contra Macht der Bürokratie
Bei seinem Kampf gegen den Krieg zitiert Bloch den „unbedingten Antibellisten“ und „radikalen Pazifisten“ Kant (S.87f.) über die Französische Revolution: sie findet in den „Gemütern aller Zuschauer (…) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“3 In diesen Worten sieht Bloch eine Verbindung des kategorischen Imperativs mit der Erstürmung der Bastille (S. 88). Aber es handelt sich um nichts Kriegerisches, sondern um einen Kampf aus moralischen Anlagen. Kants Traktat Zum ewigen Frieden will eine internationale Kodifizierung des Nicht-Kriegs, nach der die Politik keinen Schritt tun kann, „ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben.“4 Dieses moralphilosophische Friedenskonzept ist für Bloch zwar noch eine abstrakte Utopie, weil bei Kant die „ökonomische Analyse des Kriegstreibenden“ (S. 89) fehlt. Aber Kants Friedenskonzept zeigt auch die Denunzienung des mit dem Ökonomischen nicht allein erschöpften Faktors der Macht, deren Besitz das „freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“5 Macht und Gewalt sieht auch Marx als Faktoren, die zur ökonomischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung hinzukommen, als unterdrückende Instanzen und Institutionen. Diese zeigen sich am deutlichsten, wenn es um ihre Verhinderung geht, um die Herausführung der Gesellschaft aus der bisherigen Geschichte als einer „Vorgeschichte“ in eine auf Zukunft gerichtete wirkliche Geschichte.
Diese marxistische Argumentation dehnt Bloch, ausgehend von Kant, auf die Macht der Bürokratie aus als eine neue verdinglichte Herrschaftsklasse, eine „Selbstunterhaltung von Macht an sich“ und Konservierung bisherigen Machtstaatsdenkens, „das am besten die sozialistische Vernunft verdirbt“; letztere ist aber die „geplante Vernunft zum wirklich zwischenmenschlichen Frieden“ (S. 90). Gegen diese sozialistische und sozialhumane Vernunft und deren Friedensstiftung steht als das „stärkste Machtgift“ (S. 91) die fest etablierte militärische Befehlsgewalt: ein verdinglichter Belagerungszustand und unerträglicher Autoritarismus der Herrschaft von Menschen über Menschen. Soll Kants Satz gelten „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst Verschuldeten Unmündigkeit“5, so muß dieser kategorischer Imperativ des Friedens ergänzt werden durch den Marxschen „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, denn weiter lautet dieser neue politisch-ökonomische Imperativ von Marx für ein sozial-humanes Dasein und damit den wirklichen sozialistischen Frieden: „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt; nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“7
Kants Sätze wollen den Frieden so moralisch erreichbar wie möglich und den Menschen – wie auch bei Marx – in „unerniedrigter Vernunft“(S. 92). Zwar noch als Utopikum bei Kant; aber bei Marx wird deutlich daß dieses Utopikum schon allzulang ein „Fernziel“ gewesen ist, daß Frieden und Vernunft „Nahziele“ werden müssen: daß Friedensschlüsse nicht nur weiterhin als Waffenstillstände geschlossen werden dürfen sondern das Bewußtsein der Gesellschaft dahingehend verändert wird, daß Kriege abschaffbar und Waffen überflüssig sind.8
3. Fernziel und Nahziel in Blochs Philosophie der Hoffnung
Angesichts des bisher immer vorenthaltenen Fernzieles Frieden geht es jetzt um das Nahziel Frieden. Der nächste Schritt dazu lautet: besseres Leben, Menschenwürde contra Ausbeutung, „Freiheit vom Erwerb statt des Erwerbs“ (S. 92). Oder marxistisch: „Weltveränderung“ statt nur „Weltinterpretation“ 9. Neben dem moralischen Impuls von Fernzielen, wofür das Friedenskonzept Kants stehen mag, sind unabdingbar die institutionellen Nahziele, der „Marsch durch die Institutionen“: gesellschaftliche Entwicklung und Veränderung, wenn möglich Evolution. Wenn nicht anders möglich: Revolution, die ja nicht unbedingt blutig zu sein braucht (S. 108). Denn nicht die Revolutionen haben bisher am meisten Blut vergossen, sondern die Kriege und Gegenrevolutionen. Weltveränderung als Nahziel statt bloßer Weltinterpretation als Fernziel will jedenfalls ausreichend gesellschaftlich produzierten Reichtum für alle, wodurch sich die Ausbeutung des Nächsten als unproduktiv erweist.
Dazu müßte die „Kategorische Fortschritt“ (S. 93, S. 108) 10 wieder in ihr Recht eingesetzt werden. Gerade das Fortschrittsdenken als ein Prozeßdenken vermittelt in sich Fernziele und Nahziele auch des Friedens, so daß die jeweils lebende Generation nicht für „Fernziele ganz jenseits ihres kurzen Lebens verheizt werden kann“ (S. 93). Wenn wiederum das Fernziel und Utopikum „realer Humanismus“ nicht in Verbindung mit den Nahzielen des gesellschaftlichen Fortschritts gesehen wird, so bleibt es ein eudämonistisches Abstraktum. Friede aber sowohl Fernziel wie Nahziel in sich vereinigen, sonst bliebe er unter sich: „Friede ist deshalb auch keineswegs, wie bloßer Nicht-Krieg, die Ruhe als mögliche Schalheit, vielmehr: die Ruhe – dieses tiefste Fernziel im Frieden selber – wird dann erst das Problem des Beisichseins.“ (S. 94) Nur in solcher Konkretion und Vermittlung von Nahziel und Fernziel wirkt Friede, zählen Werke eines solchen Friedens und von Friedenszeiten in der Kultur, wie Bloch an Goethes Gedicht Ober allen Gipfeln ist Ruh zeigt. Hier bedeutet Ruhe nicht traumloser Schlaf und Kirchhofsfrieden, sondern das „unentdeckte, unerforschte Land Ruhe, das in den Tiefen der Tiefe von Frieden wirkt.“ (110) Es handelt sich um eine Vita activa in der Vita contemplativa, die nicht nur in großer Dichtung und Philosophie leben, in Erziehung oder Christentum, sondern auch in den ostasiatischen Religionen, aus denen zu lernen ist, „was utopischer Inhalt von Friede ist außer der Bibel“ (110).
Blochs inhaltlich-konkrete Utopie eines sozial-humanen und sozialistischen Friedens heißt Hoffnung. Diese ist freilich oft noch vielsagend, unausgetragen und unfertig. Im Reifezustand aber kann sie vorher bemerkt und antizipiert werden. Dann zeigt sich ihre begriffliche Vielfalt und abstraktlose Praxeologie als Grundlage einer geprüften, erprobten, dem „Objektiv-real-Möglichen“ und „Noch-nicht-Seienden“ vermittelten Friedenskonzeption. Diese stützt Bloch auf Kants Bild der „Verstandeswaage“ mit der Aufschrift „Hoffnung der Zukunft“11. Diese Kantische Kraft der Hoffnung muß noch erforscht und weitergetrieben werden. Ein falscher Friede mit der Welt der Vorhandenheit muß zugunsten der Anlage zur besseren Zukunft verschoben werden, zu dem in ihr noch Ungeschehenen, Unentdeckten und Neuen. Dann wird auch die bloße Abgeschlossenheit einer Fakten- und Mechanismuswelt konstitutiv ergänzt, ja prozeßhaft-dialektisch gesprengt (S. 96). Dann kann die Unrichtigkeit von nur leeren Hoffnungen sich umkehren, indem die bloße Faktenwelt als unwahr geworden erkannt wird. Es zeigt sich die konkrete Utopie des Friedens in Allianz mit allem Heilenden und Heilsamen, das zwar noch nicht voll geworden, aber auch noch nicht ganz vereitelt ist. Unzufriedenheit und nicht die leicht zu entwickelnde Zufriedenheit sowie „Widerstand der sozial-humanen Vernunft, aktiv, ohne Ausrede“ (S. 85) 12 messen der Hoffnung auf Frieden ihren wahren und wirklichen Stellenwert in der Welt zu.
II. Der pädagogische Impuls des Friedensdenkens Blochs
1. Ansätze einer philosophischen Friedenserziehung
Blochs positiver Friedensansatz 13 steht gegen einen bloß negativen des Nichtkriegs oder der Abwesenheit vom Krieg. In seine Argumentation fließt ein Moment von pädagogischer Aufklärung, Bildung und Erziehung ein: „Daß aber auch der Friede ein anderes als Nicht-Krieg sei und werde, dazu gehört kausale wie erst recht finale Aufklärung ohne Unterlaß“ (S. 97). Der Rückgriff Blochs auf Kantische Vernunft und Aufklärung, verbunden mit einem marxistisch-pädagogischen Inhalt, leitet zu seinem erziehungsphilosophischen Friedens- und Bildungskonzept über; danach müssen die Menschen gebildet und erzogen werden, um die ungebildeten, d.h. unfriedlichen Verhältnisse zu verändern und umzubilden, d.h. zu humanisieren und zu sozialisieren: „Und wenn die Verhältnisse die Menschen bilden, so hilft nichts als die Verhältnisse menschlich zu bilden, es lebe die praktische Vernunft“ (S. 97). Auf diese praktische Vernunft Kants sowie den marxistischen Impuls der Humanisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sollte sich die künftige Friedenspädagogik zurückbesinnen, ehe sie zu handeln beginnt. Blochs Philosophie der Hoffnung ist eine konkrete d.h. hier und heute wirkende und das gegenwärtige pädagogische Handeln bestimmende Utopie. Sie Gibt diesem einen neuen, das Neue und Utopische antizipierenden Sinn, der den Frieden aus einer bloß abstrakten Utopie herausholt. Blochs Hoffnungsphilosophie verankert die konkrete Utopie des Friedens und der Erziehung in Vernunft und Erziehung 14, ohne die Zukunft auszusparen. Sie geht von Erfahrungen des faktisch Möglichen und Erreichbaren in Politik, Ökonomie und Gesellschaft aus, ohne dabei stehenzubleiben. Blochs konkrete Utopie der Hoffnung, Zukunft und des Friedens ist ein realer „Traum nach Vorwärts“, der sich tätig pädagogisch-praktisch an das geschichtlich Fällige und gesellschaftlich Erforderliche anschließt, an das noch nicht Erreichte, noch Verhinderte und „Noch-Nicht-Bewußte in Jugend, Zeitwende, Produktivität.“15 Es handelt sich um eine realistische Antizipation des Gesollten und Gewollten, die sich in gegenwärtig zu verwirklichenden Nahzielen der Erziehung und utopisch gesättigten Fernzielen der gesamtgesellschaftlichen Veränderung niederschlägt. Pädagogische Beispiele sind: Vorurteilsabbau, Aggressionsbewältigung, Entscheidungshilfe, Einübung sozialen zwischenmenschlichen Friedens“ (S. 90) durch Erziehung zu mitmenschlicher und Umweltverantwortung, durch Befreiung von ungerechten repressiven Zwängen sowie Bildung von Formen qualifizierten Ungehorsams und rationalen Widerstands. Dabei geht es nicht kleinmütig zu: „Nur sanft sein heißt noch nicht gut sein. Und die vielen Schwächlinge, die wir haben, sind noch nicht friedlich (…). Daneben überall die vielen Duckmäuser, sagen nicht so und nicht so, damit es nachher nicht heißt, sie hätten so oder so gesagt. Leicht gibt sich bereits als friedlich, was mehr feig und verkrochen ist.“ (S. 84)
2. Friedenserziehung als Erziehung zu Vernunft und Verantwortung
In Blochs Philosophie der Hoffnung ist Frieden geleitet von kritischem und aufgeklärtem Bewußtsein, von erkannter und gelebter Vernunft und handlungsbereiter Verantwortung. Wiederum ist Frieden jenes Fernziel und Utopikum das als Regulativ und Imperativ menschlichen Handelns allgemeine Geltung beanspruchen kann. Wenn der Vernunft und Verantwortung ein Geltungsanspruch innewohnt, dann fordert er den Kampf gegen die vom Menschen selbst verschuldete Unmündigkeit“ und Unverantwortlichkeit, gegen dessen „Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit.“16 Erfordert ist der vernünftige Widerstand gegen Mitläufer, Stille und Sanfte im Lande, die dies nur aus Feigheit und Angst sind, wie Bloch an den Konsequenzen des Nationalsozialismus zeigt: „Also aus dem stillen Muff kam etwas ganz anderes, da wurde es plötzlich auf tödliche Art laut (…) so haben wir nicht gewettet mit dem Frieden, so nicht, wenn man nur auf ruhige Luft setzt.“ (S. 100)
Wie tragfähig ist die Hoffnung auf Vernunft, Verantwortung und Frieden, wenn in historischer Rückschau der Vernunft und Friedenswilligkeit Schlappheit und Inkompetenz in der Bewältigung essentieller Lebensprobleme nachzuweisen sind? Nur ein konkretes Hoffnungsprinzip, kritisches Vernunftverhalten und soziales Verantwortungsgefühl können diese Frage positiv beantworten, sind höher zu achten als die Negativität des Erfahrenen und Erfahrbaren. Nur in einer solchen philosophischen wie pädagogischen Grundhaltung lassen sich aus dieser Negativität Ansätze zur Positivität herausarbeiten, in denen Vernunft und Verantwortung, Hoffnung und Frieden verankert sind. Diese Realien und Realitäten lassen sich freilich nicht plötzlich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorbringen. Vielmehr sind sie abhängig vom bewußten Handeln jedes einzelnen Friedenserziehers angesichts einer noch immer ohnmächtigen Menschheit und Gesellschaft der „Verdammten dieser Erde“. Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen: So schwer ist der „aufrechte Gang“
3. Kritischer Ausblick: Möglichkeit und Wirklichkeit künftiger Friedenserziehung
Das für Entwicklung und Fortschritt, Bildung und Erziehung der Gesellschaft verantwortliche Individuum des aufrechten Ganges folgt im Sinne Blochs zu jeder Zeit und an jedem Ort dem Utopikum sozial-humaner Vernunft. Es will im Widerstand gegen das schlechte Bestehende einen besseren künftigen Zustand der Gesellschaft herbeiführen und damit das Ziel des sozialen und sozialistischen Friedens in ausgewogener Synthese von Nah- und Fernzielen einlösen. Sind diese Ziele und Aufgaben bloße Spekulationen? Nach Bloch bedarf es des „Noch-nicht-Seienden“ und der konkreten Utopie. Denn der Utopismus ist in Utopie großgeworden, und die Philosophie ist spekulativ, indem Probleme des Noch-nicht-Seins ihr zentrales und nicht nur empirisches Arbeitsgebiet sind: Sie hat ein utopisches Fenster auf eine Landschaft hin, die sich erst bildet. Utopisches Denken und Handeln wird durch Schaden und Leiden an den Tatsachen zwar klug und zurechtgerückt, doch nicht durch die Macht des Bestehenden widerlegt. Vielmehr widerlegt und richtet es dieses selbst, wenn es schlecht geraten und inhuman ist.
Mit welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen ist bei der Förderung dieser Ziele Blochschen Denkens und Erziehens gegenwärtig zu rechnen und welche Wege sind dazu einzuschlagen? Nach Bloch müssen sowohl autonome wie Heteronome, d.h. sozial-humane wie fremdbestimmte Vernunft im Sinn Kants zum Zweck der Durchsetzung selbstbestimmter Ziele des Friedens in den gegenwärtigen politisch-ökonomischen Verhältnissen zusammengehen, wie sie die marxistische Analyse aufdecken könnte. Zugespitzt und kritisch moderiert in bezug auf heutige Probleme, auch ökologische, heißt das: in den bestehenden Gesellschaftssystemen müssen Subjekt und Einzelner mit den Mitteln dieser Systeme selbst gegen ihre eigene Liquidierung kämpfen; Pädagogisch: ist gegen diese Liquidierung zu erziehen. Subjekt und Einzelner können nur als „Kraftzentrum des Widerstands“ gegen ihre Auslöschung durch den gesellschaftlichen Apparat überleben, durch die Bürokratie und den staatlichen Machtapparat mit dessen Verbindungen zum militärisch-industriellen Rüstungskomplex und Arsenal des Schreckens; Erziehung ist „Erziehung und Widerspruch zum Widerstand.“ 17 Damit diese Erziehung nicht nur negativ bleibt und damit unter Umständen negativ kapitulierend oder aber gewaltsam irrational und aktionistisch, ist Blochs konkret-utopistisches „Philosophieren der Hoffnung“ (S. 99) zu bejahen mit dem Ziel eines sozial-humanen und sozialistischen Friedens. Blochs Hoffnungsphilosophie will ein Denken und Erziehen im Sinn praktischer Vernunft, die das bloß Negative übersteigt, aber auch der Beruhigung in einem passiv-kontemplativen Glauben, Lieben und Hoffen ohne Tat, Widerspruch und Widerstand sich widersetzt. Es geht um eine Dialektik der Hoffnung, wie sie Bloch im folgenden Zitat beschreibt: „Hoffnung, vor allem Dialektik der Hoffnung hat zum Unterschied zum negativ Kapitulierenden das stolze und vielsagende Unentsagende, daß sie bekanntlich auch am Grab noch aufgepflanzt werden kann, ja daß sich sogar wider die Hoffnung hoffen läßt.“ (S. 95)
Überarbeiteter Vortrag der Ringvorlesung „Wissenschaft und Friedensbewegung: Was leisten die Wissenschaften für den Frieden?“ (Universität Münster/Westf., 25.1.1984)
Anmerkungen
1 Th.W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt &/1975, S.93
2 E. Bloch: Widerstand und Friede. Aufsätze zur Politik. Frankfurt/M. 4/1977, S. 84-111. Im folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern angegeben. Zurück
3 I. Kant: Der Streit der Fakultäten., Werke in 10 Bdn. hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1968 (1983). Bd. 9, S. 358.Zurück
4 Kant: Zum ewigen Frieden. Werke, a.a.O., S. 243.Zurück
6
Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke, a.a.O., S. 53.
7 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Die Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut. Stuttgart 1964, S. 208, 216.Zurück
8 C. F. v. Weizsäcker: Bedingungen des Friedens. In: Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945-81. München 1981, S. 136.Zurück
9 K. Marx: Thesen über Feuerbach (11. These). In: Die Frühschriften, a.a.O., S. 341.Zurück
10 Vgl. auch E. Bloch: Differenzierungen im Begriff Fortschritt. In: Tübinger Einleitung in die Philosophie 1. Frankfurt a. M. 1973, S. 160-203.Zurück
11 I. Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 961.Zurück
12 Zum „Widerstand“ vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt/M. 1974 (1984). Bd. 1, S. 148f.Zurück
13 a.a.O., S. 127f., 160.Zurück
14 Vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1984, S. 311-393, ferner D.-J. Löwitsch: Erziehung und Kritische Theorie. München 1974.Zurück
15 Bloch: Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., Bd.1, S. 86 ff., 129 ff.Zurück
16 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke, a.a.O., S. 53.Zurück
17
Adorno: Die Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S. 118, 145.
Dr. Karl Brose, Privatdozent im Fach Philosophie, Münster