W&F 1989/2

Erziehung zu Frieden und Mündigkeit

Ein Beitrag zu Kant und Adorno

von Karl Brose

Diesem Beitrag über Erziehung zu Frieden und Mündigkeit sind zwei Zitate Kants und Adornos vorauszuschicken, die beide um den Begriff der Mündigkeit kreisen – Ansatz einer möglichen Friedenserziehung und Chance zum Überleben1. Adorno bezieht sich auf diesen Begriff Kants in dessen Aufsatz „Was ist Aufklärung?“, in dem Unmündigkeit – und implizit damit auch Mündigkeit – definiert wird: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“2. Zu diesem Appell zu Aufklärung und Mündigkeit bemerkt Adorno in seinem Gesprächsbeitrag zu dem Thema – und Titel eines späteren Buches – »Erziehung zur Mündigkeit«: „Mir scheint dieses Programm von Kant, dem man auch mit dem bösesten Willen Unklarheit nicht wird vorwerfen können, heute noch außerordentlich aktuell. Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfaßt. Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt. Hält man daran nicht fest, so wird alle Rede von Kants Größe Geschwätz, Lippendienst“ (133)3

Aufklärung und Widerstand bei Kant und Adorno

Um der Friedenserziehung als einer Erziehung zur Mündigkeit nahezukommen, sollen die Impulse des Erziehungsdenkens Adornos mit den Leistungen der Aufklärungsphilosphie Kants zusammengebracht werden. Es kann dann – mit dem Hauptakzent auf Kant – von einer kritischen Vernunfterziehung zum mündigen und aufgeklärten Individuum gesprochen werden, das sich – mit dem Akzent auf Adorno – den widerstreitenden gesellschaftlichen Faktoren zu stellen und zu widersetzen vermag. Erziehung zum »Widerstand« (103ff.), Neinsagen und Ungehorsam gegen die Liquidierung des Einzelnen mit dessen Vernunftrechten und -möglichkeiten, dessen Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, durch einen anonymen und undurchdringlichen gesellschaftlichen Apparat ist ein Hauptziel der Erziehung zur Mündigkeit im Sinn Adornos, vorangetrieben mit den Mitteln Kantischer Kritik. Dessen „Faktum der Vernunft“4 in jedem einzelnen Menschen und schließlich in der gesamten Menschheit dient Adorno – wie übrigens auch Horkheimer – zur Kritik des gegenwärtigen Zeitalters, in dem die Vernunft sich verraten hat und die Gesellschaft erst dann „rational wird, sofern sie die Kantische Hoffnung“ auf das Gut der höchsten Gerechtigkeit erfüllt (Horkheimer); oder mit den Worten Adornos: wenn sie sich auf die „Idee eines autonomen, mündigen Menschen“ (107) zurückbesinnt und von ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit, um so der Heteronomie, d.h. der Außensteuerung und gesellschaftlichen Entfremdung und der durch sie erzeugten Inhumanität und „Barbarei“ (120ff.) – ein Zentralbegriff Adornos für „Unbildung“– Einhalt zu gebieten5. In Adornos Konzept der Erziehung zur Mündigkeit, die hier als Ansatz einer Erziehung zum Frieden darzustellen ist, konzentriert sich dieser Kantische Impuls in der Freiheit des Einzelnen, der Selbstbestimmung und Autonomie des „Nicht-Mitmachens“ (93) und der bewußten Resistenz gegen Bewußt- und Besinnungslosigkeit: „Solcher Besinnungslosigkeit ist entgegenzuarbeiten, die Menschen sind davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen. Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion. Da aber die Charaktere insgesamt, auch die, welche im späteren Leben die Untaten verübten, nach den Kenntnissen der Tiefenpsychologie schon in der frühen Kindheit sich bilden, so hat Erziehung, welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren“ (90).

Kritisch-utopische Impulse im Friedensdenken Kants und Adornos

Ohne den Analysen der frühen Kindheit oder der Entstehung von Aggressionen hier weiter nachgehen zu können, ist das Augenmerk auf einen allgemeineren Aspekt bei Adorno zu richten, der auf Kant zurückgeht. Adorno wie Horkheimer – und erst recht Ernst Bloch – folgen der Frage Kants in dessen „Kritik der reinen Vernunft“, aber auch in dessen „Anthropologie“ sowie den kleineren politischen und geschichtsphilosophischen Schriften: „Was darf ich hoffen?“6. Zu diesem „Prinzip Hoffnung“ (Bloch), durchaus mit einem starken Impuls von konkreter Utopie, heißt es bei Horkheimer: „Kants Versicherung, daß die Verwirklichung der richtigen Ordnung, die Aufhebung der Gegensätze im Unendlichen, im Intelligiblen liege, steht im Dienst der Veränderung des Endlichen. Die vorwärtstreibende Hoffnung, von der das Tun geleitet wird, ist konstitutiv für das Kantische System und spielt im Unterschied zu bloßer Erkenntnistheorie in die subtilsten transzendentalen Analysen hinein“7. In dieser Transzendentalphilosophie Kants liegen letztlich auch die Wurzeln der Kritischen Theorie sowie der Kritischen Pädagogik Adornos im Sinn von Erziehung zu Mündigkeit und Frieden. Nach diesem Erziehungskonzept darf menschliches Handeln nicht in der Unmittelbarkeit des Daseins aufgehen, darf das faktisch Erreichte keine letzte Instanz sein, sondern muß ein kritisch-utopischer Überschuß bleiben, der die Mängel und Widersprüche und damit auch die Unmündigkeit des menschlichen Denkens und Handelns wahrnimmt und beseitigt – und zwar von Kind auf. Erziehung zur Mündigkeit als Ausgangspunkt einer Friedenserziehung auf der Grundlage der Vernunft- und Aufklärungsphilosophie Kants fordert den Kampf gegen die vom Menschen selbstverschuldete Unmündigkeit, d.h. gegen dessen Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit, wie es in Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ heißt)8; oder mit den zugespitzteren Worten Adornos: sie fordert den Mut zum Widerspruch und Widerstand – genauer: die „Erziehung zum Widerspruch und Widerstand“ (145) – als die „einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz“ (93). Erziehung zu Frieden und Mündigkeit heißt also gemäß einer zentralen These des Adornoschen Erziehungsdenkens und der Kritischen Theorie und Pädagogik überhaupt: Verhinderung der Wiederholung einer ähnlichen Katastrophe wie der von Auschwitz; d.h. auf unsere Zeit übertragen: eines atomaren und nuklearen Holocaust: „Man wird weiter die Erwägung nicht von sich abweisen können, daß die Erfindung der Atombombe, die buchstäblich mit einem Schlag Hunderttausende auslöschen kann, in denselben geschichtlichen Zusammenhang hineingehört wie der Völkermord“ (89).

Adorno wie die Kritische Theorie sehen das Ziel einer Erziehung zur Mündigkeit – und damit auch des Friedens – in der Vorbereitung eines kritischen Vernunftbegriffs, der sich zur „Einlösung der vergangenen Hoffnung“ in einer vernünftigen Gesellschaft befreit, indem er sich aus seiner „Verstrickung in blinder Herrschaft löst“9. Obwohl die bestehende Gesellschaft dieser Vernunft und Hoffnung auf Lösung ihrer Widersprüche hinderlich ist, hat nach Kant – wie nach Adorno – jeder Mensch die Fähigkeit zu solcher Vernunft und Friedfertigkeit; und zwar nochmals: von Kind auf. Adorno scheut nicht die Hypothese, „daß man im allgemeinen mit Kindern viel reifer und ernster sprechen kann, als die Erwachsenen, um ihre eigene Reife dadurch sich zu bestätigen, es Wort haben wollen“ (84). Praktizierte Vernunft, wie sie sich in der Erziehung zu Frieden und Friedfertigkeit niederschlägt, muß zur Pflicht und Maxime des Handelns aller werden: diese Lehre des kategorischen Imperativs und der ethisch-praktischen Philosophie Kants10 erhält in Adornos Konzept der Erziehung zur Mündigkeit als Ausgangspunkt einer Erziehung zum Frieden die sozialkritische Komponente, daß nur durch eine solche von früh an gelehrte und gelernte praktizierte Vernunft die Macht des gesellschaftlichen Apparats, dessen Anonymität und Undurchdringlichkeit und die daraus folgende „Kälte“ (101ff.), Barbarei und Unbildung (29ff.) gebrochen werden kann.

Gesellschaftliche Friedenserziehung in der Philosphie Kants und Adornos

Am Schluß dieses Beitrages sind die über die praktische Vernunftkritik und die pädagogischen Impulse Kants hinausführenden und sie ergänzenden gesellschaftsphilosophischen und -kritischen Elemente des Erziehungs-, Friedens- und Mündigkeitsdenkens Adornos bzw. der Kritischen Theorie zusammenfassend wiederzugeben. Es handelt sich bei der Kritischen Theorie der Gesellschaft und besonders bei Adornos Konzept der Erziehung zur Mündigkeit als Ausgangspunkt einer Friedenserziehung um die Einsicht in die Bedrohung des einzelnen Individuums mit all dessen Vernunftmöglichkeiten und -rechten. Der autonome Wille, qualifizierte Widerstand und Ungehorsam dieses Individuums scheinen angesichts der Liquidation durch eine anonym und undurchsichtig gewordene Massengesellschaft des technisch-industriellen Zeitalters und dessen Aggressions- und Destruktionspotentialen bedroht zu sein. Diese gesellschaftliche Situation im allgemeinen und pädagogische Situation im besonderen versucht die Kritische Theorie und Pädagogik Adornos sowie der »Frankfurter Schule« mit Hilfe der Vernunfteinsichten Kants zu durchschauen, im Sinn einer Erziehung zur Mündigkeit und zum Frieden aufzuklären und damit schließlich – so ist zu hoffen – praktisch zu verändern.

Adorno wie die übrigen Kritischen Theoretiker finden in der gegenwärtigen Gesellschaft ein Massensubjekt, das auf Reize und Signale wie gewünscht reagiert, Vorurteilen und Aggressionen hilflos ausgesetzt ist, ja sich dieser Mechanismen gar nicht mehr bewußt wird. Es handelt sich um einen Reaktionsmechanismus „Mensch“ ohne Bewußtsein und Besinnung (90). Über allem baut sich gesellschaftliche Herrschaft in Form von Verwaltung und Bürokratie auf. Angesichts dieser verwalteten und vergesellschafteten Gesellschaft – „verwaltetes Leben“11 – werden deren Widersprüche und Gegensätze nicht mehr scharf genug, d.h. kritisch gesehen, sondern verwischt und verschleiert: sowohl die Strukturen des Einzelnen wie diejenigen der „organisierten Friedlosigkeit“ und „organisierten Massenvernichtung“12. Nach dem Erziehungskonzept Adornos sowie der Kritischen Theorie und praktischen Philosophie Kants wären jene Widersprüche und Verschleierungen aufzuklären, kritisch zu analysieren und damit möglicherweise zu beseitigen. Vor allem aber wäre das entrechtete und entmachtete Individuum wieder in seine Rechte und Möglichkeiten einzusetzen. Denn sonst käme es wieder zu dessen Liquidierung, wie Adorno paradigmatisch an der für ihn zentralen Lebens- und Leidenserfahrung von Auschwitz dargestellt hat. „ Erziehung nach Auschwitz“(88ff.) heißt für ihn Erziehung zur Mündigkeit als „Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“ (145) gegen jene Entrechtung und schließlich Auslöschung des Einzelnen durch ein undurchdringliches System und einen gesellschaftlichen Apparat. Dessen Anonymität und Inhumanität führt auch zur Tilgung aufgeklärter und kritischer Friedenserziehung. Orientiert am Denken Kants und Adornos sowie der Kritischen Theorie haben Begriffe der Vernunft und Kritik, Aufklärung und Mündigkeit einen zentralen Stellenwert in einer gegenwärtigen und auch künftigen Erziehung zum Frieden. Eine solche Friedenserziehung im Sinn Kants und Adornos hat es schwer. Aber diese Schwierigkeit ist kein Einwand gegen eine solche Erziehung. Vielmehr ist sie eine stetige Aufforderung, sich in ihrem Rahmen des eigenen Mutes, Verstandes und schließlich der eigenen Vernunft bewußt zu werden, um so der Unmündigkeit, Unbildung und damit auch der Inhumanität und Friedlosigkeit in der bestehenden Gesellschaft Herr zu werden.

Anmerkungen

1 Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung zum Thema „Friedenserziehung – eine Chance zum Überleben?“ im Rahmen der Ringvorlesung „Wettrüsten oder Frieden“ an der Universität Münster/Westf. (Sommersemester 1983). Zurück

2 I. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). In: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1968 (1983), Bd. 9, S. 53. Zurück

3 Th. W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit H. Becker 1959 – 1969, hrsg. v. G. Kadelbach. Frankfurt/M. 1973 (61976), S. 133. Die Seitenzahlen werden im folgenden in Klammern zitiert. Zurück

4 I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788). In: Werke, a.a.O., Bd. 6, S. 141. – Vgl. zum Folgenden das hilfreiche Buch von D.-J. Löwisch: Erziehung und Kritische Theorie. Kritische Pädgogik zwischen theoretischem Anspruch und gesellschaftlicher Realität. München 1974. Zurück

5 Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S. 120 – 132: „Erziehung zur Entbarbarisierung“. Vgl. das Zitat vorher M. Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, hrsg. v. A. Schmidt. Frankfurt/M. 1967, S. 188. Zurück

6 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Tl. (1781, 21787). Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 677. – E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt/M. 1974. Zurück

7 Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a.a.O., S. 178. Zurück

8 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? a.a.O., Bd. 9, S. 53. Zurück

9 M. Horkheimer/Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosphische Fragmente. Frankfurt/M. 1969, S. 5f. Zurück

10 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785, 21786). Werke, a.a.O., Bd. 6, S. 28ff. Ders.: Zum ewigen Frieden. Ein philosphischer Entwurf (1795, 21796). Werke, a.a.O., Bd. 9, S. 218: ein „praktischer … Pflichtbegriff vom ewigen Frieden“. Zurück

11 H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Darmstadt/Neuwied 181982, S. 266. Zurück

12 Vgl. D. Senghaas: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt/M. 21972, bes. S. 242 – 252: „Die Erziehung zum Frieden in einer friedlosen Welt“; sowie D. Sölle: Aufrüstung tötet auch ohne Krieg. In: Für den Frieden – Aufgaben der Philosophie und der Wissenschaften. Dialektik Bd. 4, hrsg. v. H.H. Holz/H.J. Sandkühler. Köln 1982, S. 89. Zurück

Karl Brose ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Münster.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/2 Sind Gesellschaft und Militär noch vereinbar, Seite