W&F 2023/1

Es geht gar nicht um Mali!

Eine kritische polit-ökonomische Analyse des Bundeswehreinsatzes1

von Michael Berndt

Der Bundeswehreinsatz in Mali steht immer wieder im Brennpunkt öffentlicher Debatten. Häufig geht es in diesen Debatten jedoch um Terrorbekämpfung oder Mandatsfragen. Selten werden die dem Einsatz zugrunde liegenden Interessen thematisiert. Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung sind diese Interessen jedoch als Basis militärisch gewaltsamer Politik aufzudecken, um zu einem Wandel sowohl der Interessen als auch der Politik beizutragen. Dazu kann Ekkehart Krippendorffs polit-ökonomischer Ansatz zur Analyse inter­nationaler Beziehungen herangezogen werden. Die Konsequenzen einer solchen Politik und Analyse stehen im Fokus dieses Beitrags.

Seit 2013 beteiligt sich die Bundeswehr an der UNO-Mission MINUSMA und der militärischen Ausbildungsmission der Europäischen Union EUTM in Mali. Aus Ekkehart Krippendorffs materialistischem Ansatz, dass die Staaten in ihren Handlungen objektive Interessen verfolgen, die in der Organisation der kapitalistischen Reproduktionsbedingungen begründet sind, könnte man schließen, dass der Bundeswehreinsatz in Mali objektiven ökonomischen Interessen Deutschlands folgen müsste. Nur: Die Anteile Malis am deutschen Im- und Export sind verschwindend gering. Es gibt auch keinerlei Waren aus Mali, auf die die deutsche Ökonomie angewiesen wäre, und deutsche Direktinvestitionen in Mali gibt es nahezu auch keine. So erscheint der Gedanke an die Dominanz der objektiven Interessen Deutschlands beim Militäreinsatz in Mali ziemlich abwegig. Dennoch möchte ich bei Krippendorffs Herangehensweise bleiben. Ein Rückbezug auf einen Ansatz aus den 1960er und 70er Jahren wirkt vielleicht anachronistisch, denn sowohl die Friedensforschung als auch die politische Ökonomie haben sich seitdem weiterentwickelt. Allerdings – so die These – öffnet Krippendorffs Herangehen eine neue Perspektive auf die aktuelle deutsche Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik, wie sie bisher so noch nicht im Blick war.

I) Krippendorffs materialistischer kritischer Friedensforschung

Ekkehart Krippendorff geht in seinem Ansatz (vgl. Berndt 2021) davon aus, dass Militär, Krieg und Rüstung Mittel des Staates zur Ausdehnung von Märkten und Direktinvestitionen oder auch dem Erschließen von Rohstoffquellen sind – also der ständigen Reproduktion von Wachstum durch die »politischen Eliten« dient (Krippendorff 1975, S. 30). In Konkurrenz mit anderen staatlich verfassten Gesellschaften im Rahmen des kapitalistischen Weltmarktes ist Militär also ein normales Mittel.

Die Politik der Staaten basiert auf objektiven Interessen, die ihre Wurzeln in den Reproduktionsbedingungen haben. Deshalb hat eine Analyse von Außenpolitik bei der gesellschaftlichen Struktur zu beginnen und die objektiven Interessen herauszuarbeiten (Krippendorff 1963, S. 246). Diese Interessen sind objektiv vorhanden, egal wie und ob sie von den Handelnden artikuliert werden (siehe dazu z.B. auch Senghaas 1993, S. 469). Eine Nichtbeachtung der objektiven Interessen durch die Handelnden bedroht letztlich aber die konkreten kapitalistischen Reproduktionsbedingungen und damit auch die politische Herrschaft. Erst wenn die objektiven Interessen herausgearbeitet sind, kann die Frage gestellt werden, warum im konkreten Fall auf militärische Mittel gesetzt wird.

II) Objektive, deutsche Interessen?

2018 betrug das BIP Deutschlands laut statistischem Bundesamt 3.386 Mrd. Euro. Dabei wurden Waren im Wert von 1.089,6 Mrd. Euro importiert und von 1.317,9 Mrd. Euro exportiert. Das zeigt, dass die bundesdeutsche Ökonomie sehr stark vom Außenhandel abhängig ist, ja dass Deutschland schon seit Jahrzehnten ganz zentral vom Exportüberschuss lebt. Betrachtet man nun diesen Außenhandel genauer, hier also die wertmäßig stärksten Branchen, die zusammen für 50 % des Außenhandels verantwortlich sind, so fällt auf, dass es im Im- und Export jeweils die gleichen Branchen des produzierenden Gewerbes (56,45 % des Exports und 43,4 % des Imports) sind: Kraftwagen und Kraftwagenteile, Maschinenbau, Chemische Erzeugnisse, elektrische und optische Erzeugnisse.

Nicht nur, dass also der Außenhandel (und hiermit auch der Exportüberschuss) vom produzierenden Gewerbe bestimmt wird, das produzierende Gewerbe ist auch bezüglich der Beschäftigten (14,8 %) und des Anteils an der Bruttowertschöpfung (30,38 %) zentral. In den für den Export relevanten Branchen waren 2017 nur 1,3 % der Unternehmen in Deutschland aktiv, sie beschäftigten aber 10,7 % der Arbeitskräfte, tätigten 18,1 % des Umsatzes und trugen mit 18,1 % zur Bruttowertschöpfung bei. Gerade der Automobilindustrie kommt hier eine herausragende Rolle zu.

Betrachtet man nun die Importe und Exporte 2018 nach Herkunft bzw. Zielstaaten und gehandelten Waren, so ist feststellbar, dass die EU-Staaten die Basis des deutschen Außenhandels sind. 59,08 % der Exporte gingen in die EU und 57,18 % der Importe kamen aus der EU – dabei aus Frankreich 7,99 % der Exporte und 5,98 % der Importe und aus den Niederlanden 6,92 % der Exporte und 9,01 % der Importe.

Noch etwas ist hier feststellbar: 68,15 % des bundesdeutschen Außenhandelsüberschusses wird im Handel mit den anderen EU-Staaten erwirtschaftet, darin enthalten 17,60 % mit Frankreich, die sich nur leicht von den 21,41 % im Handel mit den USA unterscheiden. D.h. die deutsche Ökonomie ist extrem abhängig vom innereuropäischen Handel und Warenfluss und darin v.a auch von Frankreich.

Importe in die Sahelstaaten: europäische Verflechtungen

Damit richtet sich der Blick auf den Handel mit Mali bzw. den Staaten der Sahel-Region, hier den sogenannten G5-Sahel (Burkina Faso, Mali, Mauretanien, Niger, Tschad). Betrachtet man zunächst die Exporte 2018 in die G5-Sahel, so sieht es bei Frankreich und den Niederlanden ähnlich aus wie für Deutschland. Die Werte sind, gemessen an den Gesamt­exporten, eher marginal und kommen nicht über 0,066 % (Anteil des Exports Frankreichs nach Mali am Gesamtexport Frankreichs) hinaus. Deutschlands Export nach Mali machte 2018 nur 0,008 % des gesamten deutschen Exportes aus. Nun ist zwar eine tendenzielle Steigerung sichtbar – von 0,0069 % in 2010 auf 0,012 % im Jahr 2017. Daraus einen zu sichernden Exportmarkt abzulesen, wäre aber gewagt.

Betrachtet man, welche Bedeutung die drei genannten EU-Staaten 2018 für die Importe in die G5-Sahel Staaten hatten, sehen die Zahlen schon anders aus. Hier ist festzuhalten, dass von den drei europäischen Staaten Frankreich dominiert. Der Import des Tschad wird zu knapp 12 %, Nigers zu ca. 11 %, Malis zu 10 %, Burkina Fasos zu 8 % und Mauretaniens zu 6,5 % von Waren aus Frankreich bestimmt, allerdings oft auch überholt z.B. von der VR China, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder auch der Elfenbeinküste. Nur für Niger war Frankreich der größte Importeur und das einzige EU-Land, das in den G5-Sahel-Staaten relevante Anteile am Import hatte, die aber im Vergleich zum gesamten französischen Außenhandel wiederum eher marginal waren.2

Französische Dominanz

Was 2018 nicht mehr auffiel, aber 2017 ins Auge sprang, war der Wert (45 %) für den Anteil Frankreichs am Export des Nigers. Davon bestanden 98 % aus radio­aktiven Chemikalien bzw. Uran, womit Niger mit einem Anteil von 32 % am Uran­import Frankreichs wichtigster Lieferant war. Und dies auch schon über die letzten Jahre. Obwohl Uran 2017 nur einen Anteil von 2,24 % am französischen Import ausmachte, ist es doch wichtig für die französischen Kernkraftwerke und Atomwaffen. Frankreich hat also gerade am Niger und seinen Uranvorkommen ein massives Interesse, auch wenn es sich an dieser Stelle seit 2017 relativiert hat. Hier ist aber festzuhalten, dass die Uran-Verbindung zwischen Niger und Frankreich noch eine Besonderheit aufweist, die die These von Frankreichs objektiven Interessen in der Region untermauert. Nicht nur, dass Frankreich Uran aus Niger importiert. Das Uran wird in Niger auch vom französischen Unternehmen Orano (früher Areva) abgebaut. Dazu kommt, dass Orano mehrheitlich im Besitz des französischen Staates ist, was das ökonomische Interesse auf die Politik durchschlagen lässt.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund nun noch die Direktinvestitionen Frankreichs (auch im Vergleich mit Deutschland) in der Region, wird das französische Interesse noch deutlicher: Während französische Firmen in Nord- und Subsaharaafrika (ohne Südafrika) 2016 ca. 40 Mrd. US$ investierten, dürften die deutschen Investitionen kaum die 5 Mrd. US$ Linie erreicht haben (Heinemann 2018). Eine Suche nach Unternehmen, die in Afrika in größerem Rahmen investiert haben, fördert ein ganzes Bündel an französischen Unternehmen zutage (siehe z.B.: International Finance Corporation 2018, S. 14). Deutsche Unternehmen sind hier kaum gelistet (ebd.).

Die Masse an französischen Unternehmen ergibt sich aber nicht nur daraus, dass in vielen der Staaten Französisch eine Amtssprache ist und sie (nur) früher französische Kolonien waren, sondern auch über ihre Währung, den CFA-Franc, der früher an den Franc und heute an den Euro gekoppelt ist. Damit verfügen französische Unternehmen historisch gewachsen „über ein kommerzielles Quasimonopol in der Franc-Zone“ (Mbaye 2014, S. 17).

Damit noch nicht genug: Im Rahmen der CFA-Konstruktion mussten die CFA-Staaten 50 % ihrer Währungsreserven in Frankreich – nicht etwa bei der Zentralbank, sondern beim Finanzministerium hinterlegen (Koddenbrock 2019, S. 140). Der französische Staat konnte schließlich „diese Reserven (mehrere zehn Milliarden Euro) in Schatzanweisungen investieren, die wiederum als Sicherung für Kredite dienen, mit denen er sein eigenes Haushaltsdefizit finanziert“ (Mbaye 2014, S. 18). 2019 wurde die Hinterlegungsverpflichtung für die Mitglieder des westafrikanischen CFA abgeschafft (Tull 2022, S. 2), doch behielt die französische Regierung noch diverse Kontrollmöglichkeiten (Pigeaud und Sylla 2022, S. 59f.).3

Dazu kommt abschließend noch die schwer zu quantifizierende Zahl der in der Region lebenden Französ*innen (Ehrhart 2021, S. 200) – teilweise als Angestellte der französischen Unternehmen, teilweise aber auch als Privatpersonen, z.B. Hotelbetreiber*innen –, die sich letztlich auf den Schutz durch den französischen Staat berufen können.

Während Frankreich also massive objektive ökonomische Interessen in der Region hat und diese ausbaut, gibt es kaum vergleichbare objektive Interessen Deutschlands in der Sahel-Region. Wohl aber hat Deutschland objektive Interessen an der EU und Frankreich, die sich in den Außenhandelsüberschüssen Deutschlands gegenüber der EU und Frankreich manifestieren. Für Frankreich besteht das Interesse an Deutschland, neben der Kooperation zum Funktionieren der EU, gerade auch darin, dass Deutschland seine Außenhandelsüberschüsse gegenüber Frankreich kompensiert. Sollte der Mali-Einsatz der Bundeswehr also Teil dieser Kompensation sein, dann ist festzuhalten, dass es für Deutschland bei dem Einsatz nicht um Mali oder die Lage im Sahel geht.

III) Die Bundeswehr als Mittel deutscher Außenpolitik

Bleibt die Frage, warum diesem Interesse gerade mit dem physischen Gewaltinstrument der deutschen Politik, der Bundeswehr, gefolgt wird und nicht anders. Diese Frage stellt sich auch allein ökonomisch: Der Bundeswehreinsatz in Mali kostete allein im Jahr 2018 satte 286 Mio. Euro (Deutsche Welle 2019), während die Bundesrepublik in den drei Jahren zwischen 2015 und 2017 nur 131 Mio. Euro an staatlichen Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit mit Mali aufgewendet hat (Kane und Köpp 2020).

Hier lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit des Ost-West-Konfliktes. Die Mär, dass die Bundeswehr damals nur den Zweck hatte, die Bundesrepublik im NATO-Bündniskontext zu verteidigen, konnte schon insofern relativiert werden, dass das Einbringen der Bundeswehr in internationale Kooperationen immer dem Ziel diente, den bundesdeutschen Einfluss sowohl auf die konkrete Form der (Bündnis-)Verteidigung als auch auf außenpolitische Fragen zu vergrößern (Berndt 1997, S. 135ff). In diesem Kontext ist die bundesdeutsche Strategie zu verstehen, in Kooperation mit Frankreich schon ab den 1980er Jahren dem europäischen Integrationsprozess eine militärische Komponente zu geben (ebd.). Das »Glück« bei dieser Strategie im Ost-West-Konflikt bestand darin, dass Kampfeinsätze der Bundeswehr ausgeschlossen waren, zu groß war auch das Misstrauen der europäischen Partner, gerade auch Frankreichs – noch bis zur Vereinigung 1990 (siehe: Ruf 2020, S. 28f.). Davon ausgenommen war natürlich der Fall, wenn es zu einem heißen Krieg zwischen NATO und WVO gekommen wäre, aber der blieb aus. Diese Strategie wurde auch nach dem Ost-West-Konflikt (siehe: Berndt 1997) und auch unter Rot-Grün (siehe: Berndt 2001) fortgesetzt. Jedoch wurde es fortan immer schwieriger, das Ziel zu verfolgen, über militärische Beteiligung außenpolitischen Einfluss im Interesse der deutschen Ökonomie zu erhalten, sich dabei aber aus Kampfeinsätzen herauszuhalten. Erst recht, wenn man diese prinzipiell auch gar nicht (mehr) ablehnte, ja gar die Bundeswehr (bei allen Mängeln) zu diesem Zweck umbaute. Unter diesen Bedingungen wurde es schließlich auch zunehmend schwieriger, sich entsprechenden Anliegen von Verbündeten – und für den Fall Malis konkret gesprochen 2013 eben dem Anliegen Frankreichs – zu widersetzen.

Gerade im Kontext der Europäischen Union waren es ja immer wieder die bundesdeutschen und die französischen Regierungen (egal welcher Couleur), die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht nur eine Stärkung der Rolle der EU in der Welt forderten, sondern diese Stärkung auch dezidiert mit einem Ausbau der eigenständigen militärischen Fähigkeiten der EU verbanden.4 Neben den Vorhaben im Kontext der EU (siehe: Aust 2019) sind auch noch die deutsch-französischen »Sonderbeziehungen« zu berücksichtigen. Ein Ausdruck davon manifestierte sich u.a. zum 56. Jubiläum des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages von 1963 – der auch schon eine verstärkte militärische Kooperation anvisierte – am 22.1.2019 im sogenannten »Aachener Vertrag«. Es ist durchaus beachtenswert, dass in diesem Dokument „Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ direkt in Verbindung mit Verteidigung und der Rolle Europas gebracht werden (Art. 3) und Afrika zu einem gemeinsamen Interessensgebiet erklärt wird (Art.7). Sind die Interessen Deutschlands in Afrika aber eher unklar, liegen die französischen auf der Hand.

Das Problem für die französischen Regierungen stellt sich jedoch dergestalt dar, dass das französische Militär nicht fähig ist, in größerem Umfang Militäreinsätze durchzuführen (siehe auch: Kempin 2017, S. 264). Dies zeigt sich unter anderem am Libyen-Krieg 2011/12. Hier drängten zwar die britische und die französische Regierung auf ein militärisches Eingreifen und sie waren die ersten, die militärisch aktiv wurden (Lindström und Zetterlund 2012, S. 17ff.), doch zu Ende führen konnten sie dies nur unter Mithilfe der USA. Ähnlich sieht es im Sahel aus: Die französische Regierung braucht die Unterstützung anderer EU-Mitglieder und vor allem Deutschlands, um seine Interessen durchzusetzen.

IV) Die Lage in Mali bzw. in der Sahel Region

Die Lage in Mali im Konkreten und in der gesamten Sahel-Region allgemein ist 2022, also zehn Jahre nach Beginn der französischen Intervention, weit schwieriger als noch 2012. Nicht nur der Rückhalt für die französischen und westlichen Truppen im Sahel schwindet zunehmend (Sembdner 2020).

Auf der einen Seite zeigt die bisherige militärische Strategie kaum Wirkung und weder »Frieden« noch »Entwicklung« sind in Sicht. Dazu kommen in Mali und zuletzt in Burkina Faso die Putsche, die Aussetzung der Demokratie und die Präsenz russischer Ausbilder und Angehöriger der russischen (Söldner-)Gruppe Wagner in Mali (Dörries 2022) und evtl. perspektivisch auch in Burkina Faso (Perras 2022). Auf der anderen Seite steht das Drängen Frankreichs, auch in Richtung Bundesrepublik (Szymanski 2020), sich verstärkt an militärischen Aktionen zu beteiligen (siehe auch Reuß 2021). Die deutsche Bekundung, dass die Entwicklung in der Sahel-Region im deutschen Interesse sei (Kramp-Karrenbauer 2019), macht es – neben den ökonomischen Interessen des fortgesetzten Außenhandels mit Frankreich – für die Bundesrepublik immer schwieriger, sich zurückzuziehen bzw. umzuschwenken.

Die französische – und in diesem Sinne auch die europäische – Strategie im Sahel ist aber in allen Punkten gescheitert (siehe auch Leymarie 2021): Terrorismusbekämpfung, Frieden, Demokratie, Entwicklung, Fluchtursachenbekämpfung, Stabilität – in allen Bereichen sind keine Fortschritte oder Erfolge zu vermelden. Anstatt sich, wie Frau Kramp-Karrenbauer (2019) vorschlug, verstärkt militärisch zu engagieren, wäre ein grundsätzlicher Wandel der französischen, europäischen und deutsche Strategie notwendig (siehe dazu: Kinzel 2020). Das Problem: Frankreich setzt aufgrund seiner objektiven Interessen in der Region auf militärische Terrorismusbekämpfung, in Kooperation mit durchaus kritikwürdigen Regimen. Und Deutschland beteiligt sich daran, vor dem Hintergrund seiner objektiven Interessen an seiner Außenhandelsstruktur mit Frankreich und der EU.

V) Fazit

Auf der Basis des Krippendorff’schen Ansatzes konnte aufgezeigt werden, dass gerade die objektiven Interessen Deutschlands an einer funktionierenden EU als zentraler Region für den bundesdeutschen Export(-überschuss) und das chronische französische Handelsbilanzdefizit gegenüber Deutschland zentrale „übergeordnete Gründe (Wiedemann 2018, S. 9) für die Entscheidung für den Mali/Sahel-Einsatz der Bundeswehr gewesen sein dürften. Nun ist anvisiert, dass die Bundeswehr bis 2024 aus Mali abzieht. Die EUTM Truppen sind auch schon abgezogen, allerdings nur nach Niger. Auch dort ist Frankreich nach seinem Abzug aus Mali militärisch weiter im Sahel präsent (Krüger 2022).

Nun treffen die Thesen aus Krippendorffs Ansatz aus den 1970er Jahren auf neue Verhältnisse, die von europäischer Integration, Globalisierung und Liberalisierung geprägt sind. Hier bedarf es einer Aktualisierung. Es gibt zwar immer noch, wie am Beispiel Frankreichs sichtbar, objektive Interessen an bestimmten Regionen, die nicht zum Kreis der westlichen Industriestaaten zählen. Es gibt aber auch dominante objektive Interessen, wie im Fall Deutschlands, die sich genau auf die Haupthandelspartner in der Welt der westlichen Industriestaaten richten. Hier kommt nun das Gefüge mittelbarer objektiver Interessen zum Einsatz.

Objektives Interesse Deutschlands (und auch Frankreichs und der Niederlande) ist es, den verflochtenen Welt- und EU-Markt als Export- wie als Importmarkt zu erhalten, was bei der Durchsetzung zur Folge haben kann, Militär einzusetzen und sich damit an Kriegen zu beteiligen, wo selbst nur mittelbare objektive Interessen vorhanden sind. Ein solches Modell vermittelter objektiver Interessen kann helfen, heutige Bündniseinsätze der Bundeswehr v.a. im Rahmen westlicher Allianzen zu entschlüsseln.

Aus der Perspektive kritischer Friedensforschung ist die Rolle von Militär als gewaltsamem Mittel der Außenpolitik zu thematisieren. Während für Frankreich hier nahezu die klassische Annahme (mit Militär objektive Interessen durchzusetzen) adäquat erscheint, trifft dies im Sahel so für Deutschland nicht zu. Wie aber die Diskussion der bundesdeutschen militärpolitischen Strategie gezeigt hat, benutzten alle Bundesregierungen die Bundeswehr als eine »Karte« unter anderen, um sowohl ihren Anspruch an Mitsprache als auch ihre Bereitschaft zur Kooperation (weit über den militärischen Bereich hinaus) zu signalisieren, letztlich auf der Basis der mittelbaren objektiven Interessen.

In der verflochtenen europäischen und globalen Ökonomie und auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs wird Militär – wenn man ihm nicht fundamentalkritisch gegenüber steht (Berndt 2013) – zu einem multifunktionalen Instrument der Wahrung dieser objektiven Interessen.

Wenn nun mit diesem Herangehen herausgearbeitet werden konnte, dass Deutschlands objektive Interessen, auch wenn sie nicht auf das Einsatzgebiet gerichtet sind, dazu führen, dass Bundesregierungen die Bundeswehr in Kampfeinsätze schickt, dann wäre es für eine deutsche Friedenspolitik an der Zeit, an der Struktur der objektiven Interessen und den Reproduktionsbedingungen anzusetzen. Tragen diese doch nicht nur dazu bei, sich in »Sachzwänge« zu manövrieren, in denen Militär und das Leben von Soldat*innen »Spieleinsätze« sind in einem Spiel aus dem man nicht mehr – ohne politischen Schaden – herauszukommen scheint. Mit der besonderen Basis der bundesdeutschen Reproduktionsbedingungen, der gesamtökonomischen Dominanz der Automobilindustrie, tritt hier noch ein massives Problem zutage: Gerade der verbrennungsmotorbasierte Individualverkehr und seine Reproduktionsbedingungen sind für einen Großteil der ökologischen Pro­bleme mit verantwortlich, die im Sahel zu den sozialen und politischen Problemen führen, die als Gründe angeführt werden, um dort wiederum europäisches Militär einzusetzen (siehe vertiefter: Berndt 2023).

Anmerkungen

1) Dies ist eine stark gekürzte und aktualisierte Fassung meines Beitrages zur DVPW-Tagung »Von Wertschöpfungsketten und Sicherheitsapparaten: Zur Beziehung von Ökonomie und Gewalt in den deutschsprachigen Internationalen Beziehungen«.

2) Aber: Frankreich, das insgesamt immer Handelsdefizite erwirtschaftete, konnte zumindest gegenüber den G5-Sahel einen Überschuss geltend machen.

3) Zur neokolonialen Abhängigkeit der CFA-Staaten siehe auch Afoumba 2022 (W&F 2/2022).

4) Die britischen Regierungen (egal welcher Couleur) standen diesem Ansinnen immer skeptisch gegenüber. Mit dem Ausgang des Brexit-Referendums hat sich die Möglichkeit der britischen Regierungen erledigt, hier bremsend zu wirken.

Literatur

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Dr. habil. Michael Berndt ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und Oberstudienrat an einer nordhessischen Schule. Er ist Mitglied im Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der AFK.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/1 Jenseits der Eskalation, Seite 43–47