W&F 1995/2

„Es war eine Räubertat der Amerikaner“

Interview mit Dr. Igor N. Golovin

von Dr. Igor N. Golovin und Bernd W. Kubbig

Kubbig: Herr Golovin, wie haben Sie spontan reagiert, als Sie von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki erfuhren?

Golovin: Wissen Sie, den größten Eindruck machte auf mich die Reaktion unserer Regierung, und die reagierte sehr nervös.

Nachrichten über die Zahl der Opfer und darüber, wie zerstört die Städte waren, erreichten uns recht schnell. Nach einigen Wochen wurde uns auf schauerliche Weise gezeigt, was für eine Räubertat es von den Amerikanern war, ungeschützte Städte und Menschen zu vernichten. Unsere Regierung erklärte, daß die Abwürfe eine Agitation der Amerikaner gegen die sowjetische Bevölkerung, gegen uns, seien. Man sagte uns, daß die Amerikaner nach diesen Abwürfen versuchten, diplomatisch starken Druck auf uns auszuüben. Daher müßten wir so schnell wie möglich unsere eigene Bombe haben, um diesem Druck etwas entgegensetzen zu können.

Kubbig: Was waren Ihre Gründe, am sowjetischen Atombombenprojekt mitzumachen? Reizte Sie persönlich die Nuklearphysik, weil sie damals Spitzenphysik war?

Golovin: Die Gründe? Das war eine sehr gute Physik, es war sehr interessant. Ja, das war echte Physik, da hatten wir theoretische Fragen zu lösen!

Wir haben nicht die Bombe direkt konstruiert, das war in Arsamas, wo Chariton, Sacharov und viele andere arbeiteten. Dort herrschte ein sehr hohes intellektuelles Niveau. Aber ich habe nie davon gehört, daß es dort Diskussionen darüber gab, ob es nötig oder richtig sei, die Bombe zu bauen. Diese Frage gab es nicht.

Erst in den sechziger Jahren, als beide Supermächte sehr viele Waffen angehäuft hatten, wurde Sacharov bewußt, wie gefährdet die Menschheit ist. In den fünfziger Jahren dachten wir: „Ja, die Atombombe ist eine Waffe, aber Flinten wurden schon viele erfunden und gebaut, Pfeil und Bogen auch.“ Aber von Jahr zu Jahr wurde das Zerstörungspotential der Bomben größer und erreichte eine neue Qualität.

Kubbig: Haben die Versuche von Niels Bohr und amerikanischen Wissenschaftlern in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, die Bombe durch internationale und US-sowjetische Abmachungen unter Kontrolle zu bringen, Sie damals interessiert?

Golovin: Diese Fragen waren außerhalb unserer Möglichkeiten. Hierfür war die Regierung zuständig, und es war in der Stalin-Zeit und auch in der Chruschtschow-Ära streng verboten, darüber zu sprechen. Die Devise der Politiker war: Eure Sache ist es, die Waffen auszudenken und zu bauen – wir Politiker werden sie anwenden, und Sie müssen sich nicht kümmern, wie wir das tun werden. Das war sehr streng geteilt.

Kubbig: Sie sprechen in Ihrem Vortrag davon, daß das Laborleben nicht ungetrübt gewesen sei. Wie ging es denn in Ihrem Alltag zu angesichts der Tatsache, daß der Leiter des Atomprogramms Geheimdienstchef Berija war? Es muß doch schwierig gewesen sein, bei so viel Geheimnistuerei und politischem Druck zu arbeiten.

Golovin: Von Berija weiß ich nur dies: Als wir an der Isotopentrennung arbeiteten, hatten wir immer Kontakt mit ihm. Berija hatte einen General in unserem Institut, der mit uns allen bekannt war, der unsere Meinung und unsere Resultate kannte. Er informierte Berija immer darüber, wie die Stimmung ist und wie die Arbeit geht. Und außerdem mußten wir Berija alle halbe Jahre Berichte über unsere zukünftigen Vorhaben schicken. Er wollte wissen, welche Resultate wir erwarten, welche Ergebnisse wir in den vorangegangenen sechs Monaten erzielt hatten und wie die Arbeit geht. Nach zwei Wochen kam die Antwort. Berija schrieb mit eigener Hand Fragen zu unseren Papieren auf, und er äußerte seine Meinung. Wir wußten also, daß er unsere Papiere liest und interessiert ist.

Er hatte wohl Leute, die ihm erklären konnten, was er nicht verstand, aber wir bekamen immer mit seiner eigenen Hand geschriebene Papiere in unser Laboratorium zurück. Das war eine echte Leitung. Und nach Berijas Tod verschwand alles. Sowohl die Fragen als auch die Antworten.

Berija war ein sehr starker Mann von großer Geschwindigkeit. Er reagiert sofort.

Kubbig: Haben Sie ihn selbst kennengelernt?

Golovin: Ich saß in einigen Sitzungen im Kreml, in Berijas Arbeitszimmer, sie waren immer sehr straff geleitet. Und immer ergebnisorientiert. Es wurde etwas besprochen, es wurde eine Meinung erarbeitet und dann sagte er: „Na schön, das verstehe ich. Ich habe Eure Papiere gelesen, sie haben die Fragen beantwortet. Also, dann berichte ich Stalin, wir werden Euch unterstützen und die Resultate werden kommen.“ Keine langen Gespräche ohne Resultate. Immer mit Erfolg.

Ich hatte fünf Treffen mit Berija. Er war streng, aber zu gleicher Zeit auch ein guter Leiter, ein guter Organisator. Und während Stalin nur in Moskau und auf seiner Datscha bei Moskau saß, reiste Berija durch das ganze Land, bis zum Ural, wo die Reaktoren gebaut wurden, zu den Anlagen, wo die Isotopen getrennt wurden, zu den anderen Einrichtungen, in denen etwas Wichtiges gemacht wurde. Überall war er, hat es gesehen, hat seine Meinung geäußert und so war alles sehr …

Kubbig: … effizient?

Golovin: Effizient. Ja, ja.

Kubbig: Haben Sie vor und bei einem Treffen mit Berija, der doch sehr gefürchtet war, gezittert?

Golovin: Berija war sehr schnell im Überlegen, ein impulsiver Mensch. Wenn man in sein Arbeitszimmer kam, so reichte er einem die Hand. Ich verstand, daß er ein sehr strenger Mann war.

Ich hatte ein kleines Erlebnis mit Berija in seiner Eigenschaft als Vorsitzender einer Regierungskommission, die zum Ural kam, um einen Plutonium produzierenden Reaktor in Betrieb zu nehmen. Er ging durch alle Räume, in die Halle, in den Kontrollraum und so weiter und Kurchatov erklärte ihm alles, und Berija sagte immer: „Schön, verstanden. Schön, verstanden, verstanden.“ Seiner Stimme merkte ich jedoch an, daß er nichts verstanden hatte. Und in diesem Augenblick treffen sich unsere Augen, meine und seine. Oh, wie ich erschrecke und ich sehe, daß er es verstanden hat, daß ich verstehe, daß er nichts versteht. Ich dachte, oh, ich muß ihm nicht so nahe sein, es wäre besser, auf Distanz zu bleiben, denn sonst, was wird folgen?

Kubbig: Was wäre denn passiert oder was haben Sie denn befürchtet, falls der erste Test 1949 ein Fehlschlag geworden wäre?

Golovin: Befürchtet? Aber ach, ich weiß nicht, was folgen kann. Nichts Konkretes. Aber so was, ein Schauer.

Kubbig: Haben Sie auch mit Sacharov über fachliche und politische Fragen gesprochen?

Golovin: Was physikalische Probleme anbelangt, so war unsere Regel, nichts zu fragen in den Gebieten, in denen ich selbst nicht arbeite. Das wurde sehr streng gehandhabt. Sacharov entwickelt die Wasserstoffbombe, ich entwickle sie nicht. Ich arbeite nicht mit ihm in der theoretischen Gruppe zusammen, die die Bombe entwickelt. Und deshalb hatte ich kein Recht, etwas über die Wasserstoffbombe zu fragen.

Ich habe ihn jedoch gefragt, wie die Erde aussah nach einem Test auf dem Versuchsgelände von Semipalatinsk und wie die Kruste unter den Maschinen brach, wie verbrannt die Flügel der Vögel waren und so weiter. Solche Gespräche gab es. Und politische Fragen haben wir erörtert.

Aber ich war nicht in seiner Gruppe, die aktiv protestierte. Ich blieb doch in der indifferenten Gruppe.

Kubbig: Herzlichen Dank, Herr Golovin, daß Sie uns dieses Interview gewährt haben.

Über Igor N. Golovin
Igor Nikolajewitsch Golovin, 1913 geboren, war seit 1944 als Physiker im sowjetischen Nuklearwaffenprojekt der Stalin-Ära tätig. Von 1950 bis 1958 war er Erster Stellvertreter Kurchatovs im gleichnamigen Institut für Atomenergie in Moskau. Von 1958 bis 1991 leitete er dort die Abteilung für kontrollierte Kernfusion. Gegenwärtig ist er der Direktor eines Labors für Plasmaphysik innerhalb des Kurchatov-Instituts, das jetzt »Russisches Wissenschaftliches Zentrum – Kurchatov Institut« heißt. Golovin ist Autor einer in Englisch und Deutsch erschienenen Biographie über den »sowjetischen Oppenheimer« Igor Kurchatov (I.W. Kurtschatow. Wegbereiter der sowjetischen Atomforschung, Urania-Verlag, 1976).
Daß Golovin Deutsch mit charmantem Grazer Akzent spricht, verdankt er seiner Mutter, die dort Anfang des Jahrhunderts studierte. Wie Edward Teller setzt auch Golovin gläubig auf die Technik, wenn es um die Lösung vitaler Probleme geht – etwa bei der Gewinnung von „reiner Energie“. Die politische Dimension hat er dennoch im Blick. Er verabschiedete sich aus Frankfurt mit dem Wunsch, daß unsere Kinder und Enkel an die Jahrhunderte alte Freundschaft zwischen Rußland und Deutschland auch in Zukunft anknüpfen mögen.
Dieses Interview mit Dr. Igor N. Golovin führte Dr. Bernd W. Kubbig am 1. Juni 1995.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite