W&F 2000/3

EU-USA: Zunehmende Differenzen?

von Jürgen Nieth

Europa kommt – und zwar mächtig. So jedenfalls sieht es aus, glaubt mensch den Schlagzeilen der Presse in den letzten Wochen.

Der „alte Kontinent (attackiert) die Wirtschaftsmacht USA“, titelt der Spiegel (Nr. 22-2000). Trotz schwächelndem Euro, trotz gewaltigem Vorsprung der USA, entdeckt er „wohin man auch blickt (…) ein neues europäisches Selbstbewusstsein“ und deutliche Anzeichen für eine erfolgreiche Aufholjagd der EuropäerInnen. Dokumentiert im schneller steigenden Aktienindex, Erfolgen in der Top-Technologie und der Herausbildung neuer Superkonzerne. Beispiele: Vodafone-Mannesmann als Nr. 1 im Mobilfunk und Nokia als Nr.1 bei den Mobilfunkgeräten, Daimler-Chrysler unter deutscher Führung und mit dem Zusammenschluss von Aerospatiale Matra, DASA und Aeronauticas zur European Aeronautic Defence and Space Companie (EADS) rückt in der Luft- und Raumfahrt ein europäischer Konzern auf Platz 2 in der Welt, der sich anschickt auch in der Rüstungsproduktion zum wichtigsten Konkurrenten der US-Konzerne zu werden.

Wer aber die US-amerikanische Politik der letzten Jahrzehnte betrachtet, weiß, dass die USA jederzeit bereit sind zu protektionistischen Maßnahmen zu greifen und ihre Supermachtposition auszureizen, wenn es um ihre ökonomischen Interessen geht. Wie heißt es doch in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA von 1997: „Unsere Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen sind unauflösbar miteinander verbunden.“

Schon heute beinhaltet das Verhältnis Europa-USA wesentlich mehr Differenzen, als die Herrschenden beiderseits des Atlantiks zugeben möchten. Vieles deutet darauf hin, dass diese weiter zunehmen werden und zwar sowohl im ökonomischen, im politischen wie auch im militärischen Bereich.

Auffälligstes Beispiel ist die gegenwärtige Debatte um die Neue Raketenabwehr der USA – dem Nachfolgemodell von Regans-SDI-Plänen.

Der US-Präsident will noch in diesem Sommer das Ja geben zum Bau eines Raketenabwehrsystems und damit eine Politik festschreiben, die statt auf Rüstungskontrolle auf einseitige militärische Stärkung setzt. Eine Politik, die den ABM-Vertrag aushebelt und Anlass gibt zu einem erneuten Wettrüsten.

Ein funktionierendes Raketenabwehrsystem würde auch innerhalb der NATO Zonen unterschiedlicher Sicherheit schaffen. Hinzu kommt, dass die USA ihre »Verbündeten« vor vollendete Tatsachen stellen, die diese nicht beeinflussen, sondern nur ablehnen oder akzeptieren können. Die maximale Ausnutzung der Hegemonialposition wird den Dissens vertiefen, sie zwingt die EU-Staaten, sich zu emanzipieren.

So unausweichlich wie diese Emanzipation ist, so kompliziert ist sie allerdings auch. Zum einen ist offen, ob die EU in diesem Prozess zu einer eigenen und einheitlichen Interessenvertretung findet. Zum anderen geht es darum, welche Politik im Mittelpunkt einer europäischen Emanzipation steht: Kommt es über den Weg einer eigenen Militärmacht zu einer Militarisierung Europas oder findet Europa den Weg zu einer Zivilisierung der Außenpolitik?

Eigentlich liegt auf der Hand, dass auch eine noch so große militärische Überlegenheit nicht in der Lage ist, internationale Probleme zu lösen. Das haben die USA in Vietnam erfahren, Russland in Afghanistan, die NATO am Golf usw. Auch der Misserfolg des ersten Kriegseinsatzes der Bundeswehr gegen Jugoslawien dürfte nicht zur Nachahmung reizen.

Doch gerade diesen Konfliktherd kannte die westeuropäische Gemeinschaft seit Jahren. Jetzt gibt es zaghafte – leider auch halbherzige – Schritte hin zu einem Stabilitätspakt für den südlichen Balkan. Vor zehn Jahren wäre eine solche Initiative sicher ein wichtiger Beitrag gewesen, um die Konflikte im zerfallenden Jugoslawien zivil zu bearbeiten. Noch vor zwei Jahren waren die europäischen Staaten nicht einmal bereit alle 3.000 OSZE-BeobachterInnen, die sie selbst beschlossen hatten, zur Konflikteindämmung im Kosovo einzusetzen. Heute ist dort auf unbegrenzte Zeit im Rahmen der KFOR ein Mehrfaches an Soldaten stationiert. Das demonstriert nicht nur, um wie viel teurer die militärische Variante – von den Kriegskosten ganz abgesehen – gegenüber der zivilen Konfliktbearbeitung ist, es zeigt vor allem, dass in den Köpfen der Regierenden nach wie vor das Denken in militärischen Kategorien dominiert.

So sind dann auch große Zweifel angebracht, dass die EU-Staaten die Chance des Einigungsprozesses nutzen, um die Armeen drastisch zu verkleinern und die Wehretats deutlich zu senken; dass eine Emanzipation Europas von den USA zur Entwicklung einer Politik genutzt wird, der es darum geht, Konflikte rechtzeitig zu erkennen und sich politisch und ökonomisch einzumischen um sie zu lösen, bevor sie in eine Gewaltspirale entgleiten; dass Europa endlich seine ökonomische und politische Potenz in die Waagschale wirft für eine Zivilisierung der Außenpolitik.

Jürgen Nieth

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/3 Europa kommt, Seite