W&F 1991/3

Europa: Die Teilung überwinden

von Dieter Senghaas

Viel wird derzeit über eine Friedensordnung im Mittleren Osten geredet, auch in Europa. An guten Ratschlägen aus der Ferne fehlt es nicht. Aber was ist eigentlich aus der 1990 viel beschworenen »Europäischen Friedensordnung« geworden? Die vergangenen Monate haben deutlich werden lassen, daß auch in Europa Friedenspolitik kein Selbstläufer ist und ein Rückfall in alte Nationalismen keineswegs gebannt ist.

Weltpolitische Großereignisse wie der Golfkrieg ziehen unvergleichlich Aufmerksamkeit auf sich; darüber werden dann anderswo eigentlich noch bestehende Handlungschancen leicht vertan. Aber auch Entwicklungen in Europa lassen viele am friedenspolitischen Projekt einer gesamteuropäischen Friedensordnung zweifeln: Das krisengeschüttelte Dahinsiechen der Sowjetunion ohne Durchbruch zu neuen politischen Verhältnissen, aber auch ohne die Möglichkeit für die Kräfte der Vergangenheit, die alten Verhältnisse wiederherzustellen, ist nicht gerade ermutigend. Dasselbe gilt hinsichtlich der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im verfallenden Jugoslawien. Auch die in der westlichen Hälfte Europas seit dem Ende des Golfkrieges aufblühenden Phantasien über schnelle Eingreiftruppen müssen nachdenklich stimmen. Doch ist es nicht gerade in solcher Lage die Aufgabe eines friedenspolitischen Engagements, weiterhin konstruktiv über eine gesamteuropäische Friedensordnung nachzudenken? Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, d.h. der weltpolitischen Konfrontation, dem ideologischen Konflikt und der Rüstungskonkurrenz der vergangenen Jahrzehnte ist die Überwindung der Teilung Europas sicher nicht die einzige Aufgabe, die sich der Politik stellt, aber für Europäer sollte sie eine von hoher Priorität sein: So wie sich die Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 nur innerhalb weniger Monate bot, so besteht möglicherweise nur in den ersten Jahren dieses letzten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert für Europa die Möglichkeit, die Grundlagen für eine Struktur dauerhaften Friedens in Europa zu schaffen. Die Geschichte wiederholt ihre Angebote nicht.

Altlastenbewältigung und kooperative Friedensgestaltung

Mit Blick auf Europa lassen sich zwei Aufgaben benennen: Sie können mit den Stichworten Altlastenbewältigung und kooperative Friedensgestaltung umschrieben werden. Die Altlasten aus der Nachkriegskonstellation des Ost-West-Konfliktes, die es jetzt zu »entsorgen« gilt, bestehen vor allem in Restbeständen konfrontativen Denkens und in den aufgehäuften Rüstungen. Vor allem die Abwicklung der Altrüstungen bleibt eine enorme, auch kostspielige Aufgabe, die mit Engagement weiter verfolgt werden sollte. Auf das erste wirkliche Abrüstungsabkommen im konventionellen Bereich muß ein zweites weitreichendes folgen, das mit viel mehr Energie in Wien ausgehandelt werden sollte, als es derzeit der Fall ist. So wie es früher eine Rüstungsdynamik gab, so benötigen wir im neuen Europa eine Abrüstungsdynamik. Dabei sind drei Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung: Kein Abrüstungsschritt darf durch anhaltende Modernisierung, also Innovation und Leistungssteigerungen der Restrüstungen, entwertet, gewissermaßen wieder rückgängig gemacht werden. Man muß darauf achten, daß die verbleibenden Militärapparate in Europa nicht in neue militärische Ersatzrollen hineinschlüpfen, so wie es sich in der Diskussion über schnelle Eingreiftruppen andeutet. Und schließlich sollten die verbleibenden Militärapparate und die Restrüstungen strengen Prinzipien unterworfen werden, beispielsweise dem Prinzip der Angriffsunfähigkeit, der umfassenden Bereitschaft zur Inspektion von seiten gesamteuropäischer Kontrollinstitutionen sowie der Eingliederung in gesamteuropäische Institutionen: Nur gesamteuropäische Institutionen garantieren, daß Sicherheitspolitik schon vom Ansatz her auf gemeinsame Sicherheit ausgerichtet ist.

Der militärische Faktor wird aber im Europa nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nur dann randständig werden und auch randständig bleiben, wenn es auch praktische Fortschritte in der konstruktiven Gestaltung einer europäischen Friedensordnung gibt. Der bloße Abbau von Rüstung schafft noch nicht Frieden. Frieden wird es nur dann geben, wenn Konflikte prinzipiell ohne Anwendung und Androhung von Gewalt, d. h. zivilisiert, bearbeitet werden: Die eigentliche friedenspolitische Herausforderung in Europa besteht heute also darin, eine Struktur dauerhaften Friedens aufzubauen, die einen zivilisierten Umgang mit Konflikten garantiert. Auf diese Herausforderung sollte die Aufmerksamkeit von Regierungen, Parteien und sozialen Bewegungen gerichtet werden. Zielsetzung muß die kooperative Friedensgestaltung sein. Dabei handelt es sich im wesentlichen um vier Problembereiche:

Bausteine europäischer Friedensordnung:

1. Netzwerk der Kooperation

Erstens müssen im gesamten Europa, also vom Atlantik bis zum Ural, vielmaschige Netze der staatlichen und gesellschaftlichen Kooperation geknüpft werden, aus denen unabweisbare Zwänge für eine anhaltende Koordinierung der Politik erwachsen. Souveräne Staaten außerhalb solcher Vernetzungen neigen zu nationalistischer Politik und zu Nationalismus: Dann entsteht zwischen ihnen ein chronisches Sicherheitsdilemma, das in aller Regel zu Aufrüstung und Militarisierung führt. In Westeuropa ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, nationalistischer Politik weitgehend den Boden zu entziehen: Niemand erwartet mehr im Bereich der Europäischen Gemeinschaft im Falle zugespitzter Interessenkonflikte die Androhung militärischer Gewalt bzw. kriegerischer Auseinandersetzungen. Die Institution des Krieges, die herkömmlicherweise internationale Politik charakterisiert und die in weiten Teilen der übrigen Welt immer noch im Grenzfall politikbestimmend bleibt, wurde in Westeuropa praktisch abgeschafft. Hier wurden Grundlagen verläßlichen und stabilen Friedens geschaffen. Vergleichbares gilt es auch auf gesamteuropäischer Ebene zu erreichen. Deshalb sollte ohne Verzug und mit großer Energie am Aufbau gesamteuropäischer Institutionen, insbesondere im Rahmen der sich nunmehr institutionalisierenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) gearbeitet werden.

Was in dieser Hinsicht auf der letzten KSZE-Konferenz in Paris im November 1990 erreicht wurde, ist erfreulich, zumal wenn man sich an die jahrelangen unfruchtbaren Auseinandersetzungen zwischen Ost und West während des Kalten Krieges und des Ost-West-Konfliktes zurückerinnert. Aber das bisher Erreichte ist bei weitem nicht ausreichend. So gibt es beispielsweise auf gesamteuropäischer Ebene bisher keinerlei Instrumentarien, mit deren Hilfe sich hochschaukelnde Konflikte friedlich bearbeitet werden könnten. Wenn zwischen Serbien und Albanien um Kosovo ein Konflikt entbrennen sollte, wenn die ungarische Minorität in Rumänien weiterhin von Rumänen drangsaliert wird und daraus ein Konflikt zwischen Ungarn und Rumänien erwächst, wenn der Konflikt zwischen den baltischen Staaten und der Moskauer Zentrale sich erneut zuspitzen sollte, um nur einige Beispiele zu nennen, so droht auch im jetzigen Europa die Gefahr, daß diese Konflikte sich hochschaukeln, militarisieren und daß es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen wird. Will man eine solche Eskalation verhindern, bedarf es der institutionellen Vorkehrungen für friedliche Streitbeilegung. Es ist erstaunlich, wie wenig darüber in der östlichen und in der westlichen Hälfte Europas nachgedacht wird, obgleich doch alle innergesellschaftliche Erfahrung lehrt, daß solche institutionellen Vorkehrungen für friedliche Streitbeilegung von äußerstem Nutzen sind: Verhandlungen, Vermittlungsverfahren, Schlichtungsverfahren, Schiedssprüche und gerichtliche Entscheidungen werden in zivilisierten Gesellschaften wie selbstverständlich als Mittel der Konfliktlösung akzeptiert. Wenn solche Verfahren der Konfliktbearbeitung in der großen, weltweiten internationalen Politik immer noch undenkbar sind, warum sollte man sie nicht wenigstens in den zukünftigen Konflikten innerhalb Europas erproben? Hat doch dieses Europa die Chance, wie Immanuel Kant gesagt hätte, zu einem »Friedensbund«, in dem die Außenpolitik der europäischen Staaten eigentlich zu europäischer Innenpolitik würde, zu werden.

2. Demokratische und rechtstaatliche Ordnung

Damit komme ich zum zweiten Baustein einer stabilen Friedensordnung in Europa: Nicht anders als im westeuropäischen Zusammenhang setzt auch auf gesamteuropäischer Ebene ein solcher Friedensbund intakte Demokratien in den einzelnen europäischen Staaten voraus. Es ist eine realistische Perspektive, daß alle Staaten des Kontinents in absehbarer Zeit auf demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnung aufbauen, d.h. auf dem Schutz von Grundfreiheiten und Menschenrechten, auf dem Prinzip der Gewaltenteilung, insbesondere der Unabhängigkeit der Gerichte, auf der gesicherten Pluralität politischer Kräfte, auf freien Medien, usf.. Demokratien mit rechtsstaatlicher Ordnung sind nicht immer und nicht unter allen Umständen in ihrem Außenverhalten friedlich gesonnen, aber ihre potentielle Friedensfähigkeit ist weit höher zu veranschlagen als im Falle von Despotien und Diktaturen. Was man jedoch behaupten kann, ist folgendes: Wenn rechtsstaatliche Demokratien sich wechselseitig vernetzen, wird ihre Friedensfähigkeit zu einer verläßlichen Größe. Die einschlägige Erfahrung der skandinavischen Staaten während vieler Jahrzehnte, aber auch die viel kürzeren Erfahrungen im Westeuropa der Nachkriegszeit, sind ein hilfreicher Beleg für diese These. Von einer solchen Perspektive her muß man die Sicherung und die Stabilisierung der neuen Demokratien in der östlichen Hälfte Europas als eine elementare Friedensaufgabe begreifen.

Die friedlichen und sanften Revolutionen in Osteuropa im Jahre 1989/90 fanden unter dem Motto »Rückkehr nach Europa« statt. Walesa, Vaclav Havel und andere, die jahrelang für diesen Umbruch kämpften, meinten damit die rechtsstaatlichen Grundprinzipien westlicher Demokratien. Wie aber werden die nach Europa Zurückkehrenden dort aufgenommen?

Ökonomischer Ausgleich

Ich komme damit zum dritten Problembereich einer europäischen Friedensordnung, dem krassen Wirtschaftsgefälle zwischen Westeuropa und Osteuropa. Vielen, vor allem entwicklungspolitisch engagierten Menschen, ist inzwischen klargeworden, daß es Frieden nicht ohne ökonomischen Ausgleich und ohne Verteilungsgerechtigkeit gibt. Der Zusammenhang von Frieden und Verteilungsgerechtigkeit gilt im Innern von Gesellschaften nicht weniger als zwischen ihnen, letzteres zumal, wenn sie so dicht beieinanderliegen wie das reiche Westeuropa und Osteuropa, das in Verarmung abzugleiten droht. Während viele Politiker immer noch glauben, sich den weltweiten Entwicklungsaufgaben folgenlos entziehen zu können, wird ein solches Verhalten in Europa durch den unmittelbaren Druck der Verhältnisse unmöglich sein: 50 km östlich von Berlin und 100 km östlich von Nürnberg lassen sich keine Zäune errichten, die man ggf. gegenüber Afrika noch für möglich hält. Auch würde Westeuropa seine Glaubwürdigkeit verlieren, wenn es einer kurzsichtigen, egoistischen Politik des Beiseitestehens folgen würde.

Wenngleich die Entwicklungsprobleme Osteuropas nicht nur wirtschaftlicher Natur sind, gehören doch die wirtschaftlichen Probleme zu den schwierigsten. Die Umstellung von Befehls- und Kommandowirtschaften zu sozialen Marktwirtschaften wurde bisher in der Geschichte noch nie gewagt, und ob sie gelingt, ist die große Frage. Wie schwierig diese Umstellung selbst bei milliardenschweren Hilfeleistungen ist, zeigt sich derzeit im Gebiet der ehemaligen DDR. Doch wo bleiben die großzügigen Hilfeleistungen für Osteuropa? Das ist eine Frage, die von Monat zu Monat immer drängender gestellt werden muß, nicht nur an Deutschland, sondern auch an andere westeuropäische Staaten, letztlich an den Club der westlichen Industriestaaten, einschließlich USA und Japan. Denn ohne großzügige Hilfeleistungen von außen werden die Länder Osteuropas, so wenig wie die neuen Bundesländer innerhalb Deutschlands, die für eine erfolgreiche Wirtschaftsreform unabweisbare Roßkur unbeschadet überstehen. Und ohne solche erfolgreichen Wirtschaftsreformen wird sich Europa tiefgründig zerklüften: Es wird, wie schon seit Monaten immer häufiger zu hören ist, zu einer »Mexikanisierung« oder »Sizilianisierung« Osteuropas kommen, d.h. zur Herausbildung einer chronischen Armutsregion mit den sie kennzeichnenden Folgeerscheinungen, vor allem einem nicht eindämmbaren Strom von Wirtschafts- und Armutsflüchtlingen, die sich nicht an den Grenzen der Wohlstandsinseln werden abhalten lassen.

Westeuropa hat, selbst wenn es dies wollte, keine Chance, sich in eine Wohlstandsfestung einzuigeln. Entwicklungspolitik wird also auch innerhalb Europas zu einer Friedensaufgabe. Vielleicht besteht sogar jetzt in Europa die Chance, alte Fehler der Entwicklungspolitik nicht erneut zu wiederholen. Dann müßte bei der Hilfe zur Selbsthilfe die erste Aufmerksamkeit der Landwirtschaft und einer landwirtschaftsnahen Industrie gewidmet werden, weiterhin der Ausbildungsförderung, der Verbesserung der Infrastruktur, der Kompetenzsteigerung öffentlicher Verwaltung und vor allem auch der Förderung von mittelständischem Gewerbe, nicht aber industriellen Groß- und Prestigeobjekten. Und vielleicht könnten sich das hochentwickelte Europa bzw. die hochentwickelten Industrieländer des Westens aufraffen, ein halbes bis ein Prozent ihres Bruttosozialproduktes als verlorenen Zuschuß in den Ausbau Osteuropas zu investieren, ohne die Mittel der nach Süden gerichteten Entwicklungspolitik zu kürzen. Ein solcher Schritt wäre Ausdruck einer friedenspolitischen Weitsicht und würde einfühlendes Verständnis dokumentieren.

Einfühlvermögen und Solidarität

Damit komme ich zum vierten Baustein einer europäischen Friedensordnung: Auch er hat, wenngleich in anderer Hinsicht, mit einfühlendem Verständnis zu tun.

Auch das neue Europa wird konfliktträchtig sein, jedoch die Konflikte werden von ganz anderer Natur sein als der Großkonflikt in den vergangenen Jahrzehnten: Minderheitenkonflikte, ethnonationalistische Konflikte, Sezessionsbestrebungen, irredentistische Bewegungen und ähnliche Erscheinungen werden vielerorts die Politik bestimmen. Mit diesen Konflikten droht an vielen Stellen das Wiederaufleben von emotional aufgeladenen Feindbildern, von Fremdenhaß und nationalistischen Exzessen. Fälschlicherweise wurden solche Erscheinungen für Überbleibsel der Vergangenheit gehalten, nunmehr zeigen sie sich in verhängnisvoller Frische: in Feindbildern, in Ethnozentrismus, in militantem Rassenhaß, kurz: in den Vergiftungen des Bewußtseins und der Affekte. Wenn aber Europa auch zu einer sozio-kulturellen Einheit werden soll, dann ist das schiere Gegenteil zu aufgepeitschten Affekten erforderlich, nämlich Einfühlvermögen und solidarisches Handeln.

Nationalismus und Rassismus sind keine Selbstläufer. Die ihnen zugrundeliegenden Hetzargumente werden – so paradox das ist – in aller Regel von »Intellektuellen« aufbereitet. So auch heute wiederum in vielen Teilen Europas: Die Verführbarkeit der Massen bis hin zu Pogromen ist eine Sache, aber jede ethnonationalistische Aufwiegelung hat auch ihre intellektuellen Stichwortgeber. Deren fragwürdiges Geschäft aufzudecken, wäre ein wesentlicher Beitrag zur emotionalen Abrüstung, aber auch zur Herausarbeitung der ernstzunehmenden Bedürfnisse, um die es in solchen Konflikten auch geht. Solche Konflikte entstehen allermeist, wenn Minderheiten drangsaliert werden, wenn zu ihrer politischen Rechtlosigkeit die ökonomische Verelendung hinzukommt und wenn sie sich der Gefahr ausgesetzt fühlen, ihre eigene kulturelle Identität zu verlieren. Diese Konflikte lassen sich nur durch eine großzügige Minderheitenpolitik entschärfen, d.h. durch einen verfassungsmäßig garantierten Minderheitenschutz und durch Selbstverwaltung, die die Nutzung der eigenen Sprache in Schulen und öffentlicher Verwaltung und die Verfügung über eigene finanzielle Ressourcen sicherstellt.

Ethnonationalistische Konflikte, die leicht in Brutalität umschlagen, bedürfen zu ihrer Lösung der wohlwollenden Intervention von dritter Seite. Heute bietet sich an, auf der Ebene einer sich institutionalisierenden KSZE eine oder mehrere Plattformen zu schaffen, von denen aus die frühzeitige Auseinandersetzung mit solchen Konflikten zu einer legitimen Aufgabe wird. Auch könnte eine KSZE-Minderheitencharta auf die die Staaten verpflichtet würden, hilfreich und nützlich sein. Vor allem sollte es darin Kontrollinstanzen geben, denen gegenüber die Staaten Europas eine jährliche Berichtspflicht hinsichtlich ihrer Minderheitenpolitik hätten. Das Argument, es handle sich dabei um die inneren Angelegenheiten der Staaten, sollte in einem zusammenwachsenden Europa prinzipiell keine Gültigkeit mehr haben: Äußere und innere Angelegenheiten lassen sich in einem solchen Europa nicht mehr künstlich trennen, allein schon, weil sich die Konsequenzen der verhängnisvollen Innenpolitik eines Staates an vielen anderen Orten dokumentieren werden, beispielsweise in Gestalt von Armuts- und Wirtschaftsflüchtlingen und von Asylsuchenden.

Ich habe über vier Bausteine einer europäischen Friedensordnung gesprochen: erstens über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, womit ich den Schutz der Freiheit meinte; zweitens über die institutionelle Vernetzung der europäischen Staaten und Gesellschaften, wodurch Schutz vor Gewalt entsteht; drittens über ökonomischen Ausgleich und Verteilungsgerechtigkeit, in denen der Schutz vor Not begründet ist; und schließlich viertens über das Erfordernis von Einfühlvermögen zur Abwehr von Feindbildern und Ethnozentrismus, also über den Schutz vor Chauvinismus. Diese Bausteine oder Dimensionen einer Friedensstruktur habe ich einzeln zu begründen versucht; ihre wirkliche Bedeutung erhalten sie natürlich dadurch, daß sie sich wechselseitig stützen und verstärkend aufeinander zurückwirken.

Was jetzt getan werden muß

Die friedenspolitische Perspektive, die ich zu entfalten versuchte, hatte die verbleibenden Jahre des jetzt begonnenen Jahrzehnts im Blick. Was wäre – in tagespolitische Handlungserfordernisse übersetzt – jetzt unmittelbar zu tun?

Ich nenne abschließend fünf Handlungsbereiche, die mit hoher Priorität angegangen werden sollten:

  1. Die Wiener Abrüstungsverhandlungen zügig fortsetzen und eine sicherheitspolitische Struktur in Europa anstreben, deren Grundprinzip Angriffsunfähigkeit wäre.
  2. Institutionen und Instrumentarien der friedlichen Streitbeilegung in Europa aufbauen und den Prozeß der Institutionalisierung der KSZE beschleunigen.
  3. Den Demokratisierungsprozeß in Osteuropa stützen helfen; die Demokratien in Westeuropa sichern und vertiefen und den Demokratisierungsprozeß in Westeuropa dort beginnen, wo er kaum eingesetzt hat, nämlich in der Europäischen Gemeinschaft.
  4. Massive Sanierungshilfen in Westeuropa für den Umstellungsprozeß in der östlichen Hälfte Europas organisieren, mit festen Zusagen für den Rest des Jahrzehnts, beispielsweise in der Größenordnung von einem halben Prozent des Bruttosozialproduktes der OECD-Länder.
  5. Die rasche Bearbeitung und Verabschiedung einer KSZE-Minderheiten-Charta und vielfältige politische und gesellschaftliche Initiativen, die auf eine Deeskalation ethnonationalistischer Konflikte gerichtet sind.

Europa hat den großen Konflikt, der zur Vergeudung vieler geistiger und materieller Ressourcen beitrug, glücklicherweise hinter sich gelassen. Nun gilt es, eine vielgliedrige europäische Friedensordnung zu gestalten. Wenn es in Europa gelingt, innerhalb des letzten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert die Grundlagen für ein kooperatives Europa zu schaffen, wird auch die übrige Welt davon Nutzen haben. Europa wird sich dann nicht als eine abweisende Festung darstellen, schon gar nicht als Ausgangspunkt für sinnlose militärische Interventionen, sondern als ein Experimentierfeld für vernünftige Politik. Dafür politisch zu arbeiten sollte aller Mühe wert sein.

Prof. Dr. Dieter Senghaas ist Friedensforscher und Politikwissenschaftler an der Universität Bremen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1991/3 Zukunft der Rüstung, Seite