W&F 1997/2

Europäische Friedenspolitik

Zwischen Vision und Realität

von Gerald Mader

„Nicht ein vereinigtes Europa an sich ist die große visionäre Idee, sondern vielmehr ein Europa, das sich weniger als Machtblock und Festung, sondern mehr als Mitgestalter einer Friedensordnung, d.h. als Friedensmacht versteht. Primäre Aufgabe der EU sollte daher nicht der Aufbau einer militärischen Sicherheitsarchitektur, sondern der Aufbau einer neuen Friedensordnung sein, durch die sich niemand bedroht fühlt“ (ÖSFK-Studie 1995)1.

Aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit möchte ich die Prämissen benennen, von denen Friedenspolitik in dem von mir verstandenen Sinn ausgeht. Es handelt sich um drei Vorfragen. Ist der Prozeß der Geschichte überhaupt beeinflußbar? Diese Frage stellt sich jeder Politik. Bei den beiden anderen Fragen, ob die Menschen prinzipiell friedensfähig sind, ob die Institution des Krieges ein Naturgesetz oder abschaffbar ist, handelt es sich um zwei spezifische Fragen der Friedensforschung und Friedenspolitik, da sich bei ihrer Verneinung Friedensforschung und Friedenspolitik dem Grunde nach erübrigen. Die geringe finanzielle Ausstattung der Friedensforschung durch die Öffentlichkeit läßt den Schluß zu, daß die meisten staatlichen Akteure dazu neigen, sie zu verneinen bzw. ihre militärisch geschützte Sicherheitspolitik als Friedenspolitik auszugeben.

Gestaltbarkeit der Zukunft:

„Wir leben in einer Welt, in der alles möglich ist und nichts gewiß“ (Vaclav Havel).

Es gibt keinen Weltgeist, der den Gang der Geschichte bestimmt, wie Hegel vermeinte. Die Zukunft ist weder vorausbestimmt noch prognostizierbar, woran uns die Implosion der Sowjetunion erinnert hat, die weder vorhergesehen noch für möglich gehalten wurde. Das hindert aber niemand, Realitäten zu analysieren, konkrete Zielvorstellungen und Visionen über bessere Realitäten oder sogar Zukünfte zu entwickeln und darüber nachzudenken, wie diese mit Hilfe von Handlungsstrategien am besten umgesetzt werden könnten. Visionen und Strategien können sich hierbei zum gegenseitigen Vorteil beeinflussen. Mit anderen Worten: Die Zukunft ist offen für Analysen über denkbare Zukunftsentwicklungen, für Planungen und Beeinflussungen, für alternative Szenarien und vor allem für politisches Handeln von Akteuren, die Zukunftschancen wahrnehmen wollen, ohne damit einer Kolonisierung der Zukunft das Wort zu reden.

In Umbruchzeiten – Europa befindet sich unbestreitbar in einer solchen – sind die Chancen für die Umsetzung neuer Ideen günstiger als in Phasen langer Normalität (Eberwein). Diese Chancen wurden bisher von den Akteuren der Realpolitik vernachlässigt. Für Friedenspolitik sollte es nie zu spät sein, aber die existenzgefährdenden Bedrohungen werden größer.

Friedensfähigkeit:

„Der Mensch ist gut, sagte die Bestie, als sie ihn fraß“ (Alfred Polger).

Anthropologisch läßt sich die Frage nach der Friedensfähigkeit der Menschen damit beantworten, daß in der menschlichen Psyche friedensfördernde und aggressive Tendenzen wirken, daß sich lebensfördernde und lebensfeindliche Syndrome gegenüberstehen, weshalb der Mensch sein inneres Gleichgewicht erst selbst aufbauen muß (Conrad). Die menschliche Entwicklung läßt daher zwei Möglichkeiten zu: den Friedens- und den Machtpfad. Über die Friedensfähigkeit der Menschen entscheidet daher weniger die genetisch vorgegebene Disposition, sondern der frühkindliche Sozialisationsprozeß. Die Friedensfähigkeit der Menschen ist prinzipiell gegeben, auch wenn die Bedingungen der Moderne und der Globalisierungsprozeß diese nicht unbedingt fördert.

Krieg als Naturgesetz:

„Da Kriege in den Köpfen der Menschen entstehen, muß auch der Friede in den Köpfen der Menschen befestigt werden“ (UNESCO-Präambel).

Bei der dritten Prämisse scheiden sich die Geister, da die Möglichkeit, den Krieg abzuschaffen, nicht nur eine Voraussetzung, sondern gleichzeitig die zentrale Aufgabe von Friedensforschung und Friedenspolitik ist; ohne hierbei die Gewaltantriebe (Geiz, Neid, Rivalität) zu verkennen, die von einer ungezähmten kapitalistischen Marktwirtschaft ausgehen (Kitzmüller). Es sollte klargestellt werden, daß eine Friedenswissenschaft, die Gewaltfreiheit als Ziel und Norm versteht, die Überwindung des Krieges ebenso für möglich hält wie die Abschaffung der Fehde und der Sklaverei. Der Mensch ist nicht zum Krieg verdammt, wie die Bellizisten vermeinen. Der Krieg hat eine lange, blutige Tradition, das ist richtig. Dahinter verbirgt sich die Geschichte von nationalen und internationalen Verbrechen, Massenmorden sowie die Behauptung von der Ubiquität des Krieges, dessen generelle Möglichkeit die Existenzgrundlage für das Militär bildet. Im westfälischen Frieden wurde dem »heiligen« Krieg abgeschworen, aber gleichzeitig den Landesfürsten, also dem Souverän, das Recht auf Krieg, auch zu reinen Machtzwecken, und Eroberung fremder Territorien zugestanden. Erst der Völkerbund bzw. die UNO haben den Krieg moralisch geächtet, den Krieg als Mittel der Politik verboten, dem Aggressor Sanktionen angedroht. Die Tatsache, daß der Krieg von der Staatengemeinschaft geächtet ist und nicht länger als legitimes Mittel der Politik anerkannt wird, zeigt, daß der Krieg als unverrückbares Naturgesetz bereits auf schwankendem Boden steht, auch wenn die Nutzniesser des Krieges diese Vorstellung weiter aufrechterhalten wollen.

Die dritte Nachkriegsperiode

Von der Euphorie zum Rückfall in traditionelle Sicherheitspolitik:

Europa erlebte mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes bereits seine dritte Nachkriegsperiode. Sie hat die weltpolitische Machtkonstellation, die Konfliktstrukturen und das internationale System insgesamt grundlegend verändert. Wohin die Reise geht, läßt sich noch nicht endgültig sagen. Integration, Zentralisation und Globalisierung sind von Fragmentierung, Segmentierung und Dezentralisierung begleitet. Die Osterweiterung der EU – nach Aufnahme von Österreich, Finnland und Schweden – hat sich verzögert. Die EU als Zivilmacht tendiert zur Militärmacht als Pfeiler der NATO. NATO-Offiziere – nicht nur in der Pension – erklären heute, wie kritisch sie der NATO-Doktrin und ihrer Entwicklung gegenüberstehen. Die NATO habe eine überholte Struktur (Militärbündnis), verfolge überholte Machtpolitik (weltweite militärische Durchsetzung von egoistischen Interessen) und sei ein militärischer Dinosaurier, der nicht in der Lage ist, erfolgreich in jene kriegerischen Konflikte einzugreifen, die in Europa aktuell sein könnten. Hinzu kommt, daß die NATO, die von den USA dominiert werde, über eine undurchschaubare politische und militärische Machtkonzentration verfüge, die sie jeder demokratischen Kontrolle der Parlamente entziehe. Im Verhältnis zur NATO ist die EU geradezu eine vollendete Demokratie.

Die NATO selbst will sich gegen den Willen Rußlands nach Osten erweitern. Ob sich daneben eine institutionelle Kooperation zwischen NATO und Rußland entwickelt, ist noch ungewiß (die russische Föderation ist mit dem inneren und dem nahen Ausland voll beschäftigt, der Zustand der russischen Armee ist nach Schätzungen des Westens so schlecht, daß sie für die nächsten 10 bis 15 Jahre für militärische Operationen nicht operativ einsetzbar ist. Rußland sieht daher in seiner Rolle als Atommacht die einzige Chance, sich als militärische Großmacht weiterhin zu definieren). Die OSZE wurde nicht ausgebaut, da dies den Legitimationsinteressen der NATO ebenso widerspricht wie die Stärkung der UNO. Trotz vieler Kriege seit 1945 hatte das Gewaltverbot der UNO im OECD-Bereich, aber schließlich ganz allgemein insofern Erfolg, als die zwischenstaatlichen Kriege (zuletzt Golfkrieg) immer mehr verschwunden sind. Die neuen Herausforderungen sind Bürgerkriege, Staatszerfallsprozesse und ethnische Auseinandersetzungen auf einem sozio-ökonomischen Hintergrund. Die UNO ist zu deren Bekämpfung nicht eingerichtet, da ihr die innerstaatliche Einmischung grundsätzlich verboten ist.

Im Rahmen der OSZE wurde im Zusammenhang mit der geplanten Osterweiterung der NATO jedenfalls ein Diskurs über ein gemeinsames und umfassendes europäisches Sicherheitsmodell institutionalisiert, der zu einem zweiten Helsinki-Prozeß unter anderem Vorzeichen führen könnte (Goetschel). Als Ersatz für eine kooperative Sicherheitspolitik kreierte die NATO die Partnerschaft für den Frieden, die allen offensteht und auf Konsens beruht.

Unerfüllte Hoffnungen:

Die Friedensbewegung hat ihre Bedeutung verloren, während das Militär vordergründig an Bedeutung gewonnen hat, obwohl es keine militärische Bedrohung, sondern nur diffuse Bedrohungsphantasien gibt. Die Überzeugungskraft des Militärs hat aber durch den Verlust des Feindbildes gelitten. Insgesamt deutet vieles auf einen weiteren Zuwachs an Gewalt, auf ein friedensfeindliches Szenarium hin. Fest steht jedenfalls, daß sich die Hoffnungen, die mit der friedlichen Revolution des Jahres 1989, mit dem Machtverzicht Gorbatschows, mit der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Entstehen demokratischer Staaten im Osten verbunden waren, nicht erfüllt haben. Die europäische Friedensordnung und das gesamteuropäische Sicherheitssystem, das vielen zum Greifen nahe schien, erwies sich ebenso als Illusion wie die Friedensdividende, die damals mit 800 Milliarden Dollar pro Jahr beziffert wurde. Anstelle des zwischenstaatlichen Krieges sind Staatenzerfallskriege, Bürgerkriege und Terrorismus getreten. Dem Rückfall in Nationalismus und barbarische Kriege im Osten stehen ein Neo-Nationalismus und neue Formen der Barbarei im Westen (Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhaß, Rechtsextremismus) gegenüber, die uns an die Ambivalenz der europäischen Zivilisierung erinnern (Wasmuth). Europa ist nicht geteilt, aber auch nicht zusammengewachsen. Es besteht die Gefahr, daß die wirtschaftlichen Trennlinien nicht abgebaut, sondern sich neue Trennlinien und Konfrontationslinien entwickeln.

Die Militarisierung wird zur Ideologie:

Hinzu kommen die neuen Tendenzen einer europäischen Militarisierung (Umrüsten statt Abrüsten), deren Ursachen und Urheber nicht schwer auszumachen sind. Sie liegen im militärischen Sektor und bei jenen Kräften, die aus Legitimations- und Eigeninteresse Militärabbau und Abrüstung verhindern wollen, sich dabei aber trotz Medienunterstützung immer schwerer tun. Die politischen und militärischen Konsequenzen aus der veränderten Sicherheitslage in Europa werden nicht gezogen, wodurch Ressourcen und Finanzmittel im gewaltigen Ausmaß vergeudet und wichtigen privaten und öffentlichen Aufgaben entzogen werden.

Die Remilitarisierung nach dem Kalten Krieg hat die Höhe der Militäraufwendungen zur Gänze von der Bedrohung abgekoppelt, so daß die neue Militarisierung eine Ideologie wird, welche die traditionelle Sicherheitspolitik übertrifft, bei der es einen Konnex zwischen Sicherheit und Bedrohungswahrnehmung gegeben hat. Die Verantwortung liegt primär bei der NATO, sie rüstet nicht ab, sondern auf und um: von der Quantität auf Qualität, auf höhere Effektivität, von defensiven auf offensive Militärstrukturen (mobile Einsatztruppen) und veranstaltet in der Militärforschung einen Rüstungswettbewerb gegen sich selbst. Ergebnis: Die Militarisierung geht real weiter, obwohl die Voraussetzungen des Sicherheitsdilemmas nicht mehr gegeben sind, mit welchen das Wettrüsten im bipolaren Weltsystem begründet wurde.

Nicht die Abrüstung, sondern die Aufrüstung (auf NATO-Niveau) wird zur Eintrittsbedingung in die NATO gemacht. So findet eine Militarisierung ohne Feind, ein Wettrüsten ohne Konkurrenz statt. Die Akteure der Militarisierung geraten hierdurch in einen Aufklärungsnotstand, der in einer Demokratie unter den zunehmenden Belastungen einer neo-liberalen Wirtschaftspolitik zum Schrei nach Revision, ja selbst zu einem Aufstand der Benachteiligten führen könnte; wenn nämlich die Bevölkerung erkennt, daß es nicht um Sicherheit, sondern um die Aufrechterhaltung eines Militär- und Rüstungsestablishments geht, das durch die veränderte Sicherheitslage vielfach funktionslos geworden ist. Die einzigen Gewinner der NATO-Osterweiterung und der NATO Neu sind die Rüstungskonzerne der NATO-Länder. Auf Dauer wird sich aber die Debatte darüber nicht unterdrücken lassen, wieso die Arbeitslosenzahlen steigen, Sozialleistungen massiv gekürzt werden, aber genügend Geld vorhanden ist, um dem Militär- und Rüstungsbereich gigantische Mittel zuzuführen.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem produziert Ungleichheit und Gewalt:

Unabhängig von dieser neuen Militarisierung auf der Basis traditioneller Sicherheitspolitik findet eine Zunahme der Gewalt und der Gewaltbereitschaft in unserer Alltagskultur statt, wozu der exzessive Wettbewerb die Menschen zwingt. Die Kultur der Gewalt äußert sich in einer Brutalisierung in Familie, Beruf und Gesellschaft und in der Zunahme von Gewaltexzessen aus immer nichtigeren Anlässen. Diese Entwicklung hängt mit einem entfesselten, ungezähmten Kapitalismus zusammen, der zwar effizient wie kein anderes Wirtschaftssystem produziert, aber dessen Erfolg sich gegen ihn selbst zu wenden beginnt, weil er die menschlichen Grundlagen unserer Kultur zerstört. Eine wachsende und immer bedrohlicher werdende Ungleichheit, eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, ein zunehmender sozialer Widerstand und eine Hoffnungslosigkeit bei jenen, die nichts mehr zu verlieren haben, zeigt die Gefahr an, die sich daraus für die Privilegierten dieses Systems selbst ergeben könnte. Im Verhältnis Nord und Süd, aber auch innerhalb der Länder des Nordens steigt der Unmut, ja der Haß der Benachteiligten. Wie werden die Nutzniesser dieses Systems darauf reagieren? Durch friedliche Veränderung im wohlverstandenen Eigeninteresse oder wie die französischen Aristokraten vor der französischen Revolution, die die Zeichen der Zeit nicht erkannten und auf ihren Privilegien beharrten?

Friedensforschung, Friedenserziehung und Friedenspolitik sind herausgefordert, die Chancen zu sehen und wahrzunehmen, die in diesen Risken einer überholten Sicherheitspolitik im Zusammenhang mit den Folgen des neo-liberalen Wirtschaftskurses für die Neugestaltung einer europäischen Friedenspolitik liegen.

Visionäre Zielsetzungen

Das o.a. Zitat aus der ÖSFK-Studie (1995) macht deutlich, was unter europäischer Friedenspolitik – mit oder ohne GASP – verstanden werden soll. Eine europäische Politik, die sich an einer zivilen und nicht an einer Militärmacht Europa orientiert. Ein Europa, das darauf verzichtet, mit militärischen Mitteln eigennützige Macht- und Interessenspolitik – sei es auf nationaler oder übernationaler Ebene – durchzusetzen. Ein Europa, das weder Festungsmacht noch militaristische Interventions- oder Supermacht sein will. Ein Europa der politischen Zurückhaltung, das sich nicht als Nabel der Welt versteht, aber als Teil einer globalen Welt die Verantwortung für die Bewältigung existenzgefährdender Krisen (Umwelt, Weltbevölkerung, Armut) trägt. Ein Europa, das dazu beiträgt, den Abstand zwischen Arm und Reich zu verringern. Ein Europa, das Krieg und Militär für antiquierte Institutionen hält. Ein Europa der Entmilitarisierung, das sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzt. Ein Europa, in dem Atomwaffen weder erzeugt noch gelagert werden. Ein Europa, das sich nicht von worst case Denken, sondern von best case Denken leiten läßt. Ein Europa mit defensiven und nicht mit offensiven Militärstrukturen. Ein Europa nicht der Militär- und Rüstungslobby, sondern ein Europa, dessen Bild von friedlichen Konfliktvermittlern und von Friedensdiensten geprägt ist. Ein Europa, in dem sich die NATO auflöst oder der UNO und der OSZE unterstellt wird. Ein Europa der kollektiven Sicherheit, das an die Stelle von Militärbündnissen und kollektiver Verteidigung tritt. Ein Europa der gemeinsamen und umfassenden Sicherheit, dem auch Rußland angehört.

Ein Europa, das keine Festungsmauer errichtet, sondern sich nach Osten öffnet. Kein Europa der Trennung, sondern ein Europa, das zusammenwächst. Eine EU, die niemand ausschließt und für alle offen ist. Ein Europa, das von niemandem dominiert wird, für das alle Staaten und Völker gleich sind. Ein Europa, in dem die strukturelle und kulturelle Gewalt abgebaut wird, in dem die kulturelle Identität Vorrang vor einer Verteidigungsidentität hat. Ein Europa, das für Toleranz, Demokratie, Menschenrechte, für Solidarität und Gerechtigkeit eintritt. Mit einem Wort: Ein Europa der nachhaltigen Entwicklung, in dem der Vorrang des Gemeinwohls gegenüber der Ökonomie gewährleistet ist.

Es ist wichtig, sich diese visionären Ziele immer wieder in Erinnerung zu rufen. Aufgabe einer Friedenspolitik, die sich zwischen Vision und Realität, zwischen Theorie und Praxis bewegt, muß es aber sein, sich auf Schwerpunkte und Themen zu konzentrieren, für welche gute Chancen bestehen, breite Bevölkerungsschichten für ein größeres Engagement zu gewinnen.

Chancen und Risiken eines Paradigmenwechsels

Die Überwindung des Krieges und die Abschaffung der Institution des Militärs in seiner bisherigen Form ist das langfristige Ziel und die zentrale Aufgabe von Friedensforschung und Friedenspolitik (Vogt / Koppe). Diese richtige Feststellung ändert nichts daran, daß im Zeitalter der Globalisierung und einer neo-liberalen Wirtschaftspolitik auch das Wirtschaftssystem verstärkt eine Quelle der Gewalt wird, so daß beide – Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik – Schwerpunkt einer systematischen Friedenspolitik sein müssen. Hierzu sei aber, so übereinstimmend die Friedenswissenschaft, eine Neuorientierung der Politik, ein fundamentaler Perspektivenwandel, ein Paradigmawechsel der Sicherheitspolitik notwendig, zu dem die Akteure der Realpolitik aber nicht bereit sind.

Wie läßt sich dieser Paradigmawechsel konkretisieren, differenzieren, welche Hindernisse stehen ihm entgegen und wie könnten diese überwunden werden? Von der Antwort auf diese Fragen – beginnend mit der Sicherheitspolitik – wird es abhängen, ob es kein oder ein Ende der militärischen Machtpolitik gibt, welche die Kriegsgeschichte der europäischen Nationalstaaten von Anfang an bestimmt hat. Nur so wäre der Beginn einer Friedensgeschichte im 21. Jahrhundert in Sicht.

Realistische Schule – Abschied in Etappen:

Die traditionelle Sicherheitspolitik basiert auf der Theorie der »realistischen Schule«, wonach die internationalen Beziehungen primär eine Frage der Macht sind, weshalb die Nationalstaaten als Akteure der Weltpolitik militärische Sicherheit nur durch den Aufbau überlegener Militärpotentiale erreichen könnten. Um die Überwindung dieser Macht- und Kriegslogik der realistischen Schule geht es bei einem Paradigmawechsel der Sicherheitspolitik.

Das Erklärungsmuster der realistischen Schule ist durch die Veränderungen der Welt, die nach dem Kalten Krieg eingetreten sind, überholt. Die Konfliktkonstellationen haben sich grundsätzlich geändert. Die gegenseitige Abhängigkeit der Nationalstaaten in einer globalen Welt mit ihren existenzgefährdenden Bedrohungen ist evident, potentielle militärische Feinde schwinden ebenso wie die militärischen Bedrohungen. Der Staat ist im Rückzug, die Nationalstaaten sind nicht die einzigen politischen Akteure, zwischenstaatliche und transnationale Gewalten sind im Entstehen und vor allem ist die Industriegesellschaft so verwundbar geworden, daß jeder Krieg keine Sieger und Verlierer kennt, da von den Folgen beide in gleicher Weise betroffen sind. Hinzu kommt, daß die Realitäten selbst, der OECD-Frieden, die realistische Schule widerlegt haben, da innerhalb des OECD-Raumes der Krieg de facto abgeschafft ist.

Das Problem eines Paradigmawechsels der Sicherheitspolitik besteht darin, daß die Nationalstaaten des OECD-Bereiches zwar den Krieg abgeschafft, aber nicht das Militär zumindest abbauen wollen, weil sich die USA und die europäischen Großmächte im Verhältnis der übrigen Welt das Recht zu militärischer Gewaltanwendung aus nationalem Interesse vorbehalten wollen. Die Abschaffung des Krieges hat daher nicht den Abbau des Militärs zur Folge gehabt. Die Ordnungsstruktur der »einen« Welt, die noch zweigeteilt ist (Arme und Reiche) kann aber nicht dergestalt sein, daß in einem Teil das Prinzip der zivilen, nichtmilitärischen Konfliktaustragung gilt, während für den Rest der Welt weiterhin die Macht- und Kriegslogik der realistischen Schule gelten soll, in der sich der militärisch Stärkere durchsetzt.

So widersprüchlich dies erscheint, ist der sogenannte Realismus weiterhin Handlungsanleitung für die westlichen Staatskanzleien, welche die obszöne Höhe ihrer Militär- und Rüstungsausgaben mit der fadenscheinigen Begründung zu rechtfertigen versuchen, daß das Militär der Abwehr der nichtmilitärischen Bedrohungen diene. Eine offensive Debatte über Militär- und Rüstungsstruktur und die Aufklärung dieser Zusammenhänge wäre eine vordringliche Aufgabe einer Friedensforschung und Friedenspolitik, die etwas bewegen will. Als primäre Adressaten einer solchen komplexen Strategie kommen jene Akteure und Nutzniesser des militärischen Systems in Frage, die sich der eigenen Gefahr im wohlverstandenen Eigeninteresse bewußt sind und jene benachteiligten Bevölkerungsschichten, welche einer wachsenden ökonomischen Belastung und Ungleichheit ausgesetzt sind. Je rascher beide Adressaten darüber nachzudenken beginnen, umso eher wird das Militärsystem auf jenes Maß reduziert werden, das der Bedrohungslage entspricht.

Präventivpolitik und dualistisches Sicherheitssystem:

Bei der Zielsetzung, militärisch gestützte Sicherheitspolitik zu überwinden, darf allerdings nicht übersehen werden, daß sich eine generelle Ordnungsstruktur der Gewaltfreiheit in einer Übergangsperiode nur in Etappen verwirklichen läßt. Eine Friedensstrategie, die eine breite Zustimmung erhalten soll, muß dieser Realität von Anfang an Rechnung tragen. Es kann in einer Übergangszeit, in der das Prinzip der zivilen, nichtmilitärischen Konfliktaustragung immer mehr zur Selbstverständlichkeit wird, dennoch nicht ausgeschlossen werden, daß es zu Ausnahmefällen kommt, in welchen Gewalt ausgeübt und daher Gegengewalt notwendig wird. Es muß daher eine Art internationales Gewaltmonopol geben, das Militär als letztes Mittel einsetzt. Für die traditionelle Sicherheitspolitik ist das Militär nicht das letzte, sondern das erste Mittel, an das sie denkt. Die Berufung auf Gewaltlosigkeit gegen Gewalt wäre aber ein Argument, das nur die traditionelle Sicherheitspolitik legitimiert, weil sie den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung nicht entspricht. Die militärische Vorsorge für solche Ausnahmsfälle braucht aber nicht den Aufbau einer ganzen Armada von Militärpotentialen, die auch in der Dritten Welt nicht einsetzbar sind, weil „die Technologie des automatisierten Schlachtfeldes nichts im Straßengewirr einer Dritt-Welt-Metropole nützt“ (Ruloff, Holitscher). Aus diesen Erkenntnissen ist die Konsequenz zu ziehen, daß sich Friedenspolitik und Friedensstrategie nicht auf die Abschaffung des Militärs, sondern auf eine drastische Kürzung der Militär- und Rüstungsausgaben (zumindest auf die Hälfte) konzentrieren sollte. Auf der Basis eines Konzeptes, das sich auf defensive vergemeinschaftete Militärstrukturen mit einem niedrigen Militärniveau (einschließlich atomwaffenfreier Zonen) und vor allem auf ein duales, gleichberechtigtes Sicherheitssystem stützt, mit dem eine konkrete friedenspolitische Vision umgesetzt wird, deren Zielrichtung die Agenda for Peace bereits vorgegeben hat.

Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik:

Der Neo-Liberalismus hat im Bereich der Wirtschaft eine ähnliche Bedeutung für die Richtung des Wirtschaftens wie die realistische Schule für die Sicherheitspolitik. In beiden sind richtige und falsche Argumente und Vorstellungen vereint. Während sich aber die realistische Schule bis in die Antike zurückverfolgen läßt, sind der exzessive globale Wettbewerb und der Neo-Liberalismus (seit 2 bis 3 Jahrzehnten) jüngeren Datums. Vor 5 Jahren formulierte die sogenannte Gruppe aus Lissabon aus Sorge über die Globalisierungsfolgen und aus Sorge über die Zukunft der Menschheit eine Empfehlung für einen „globalen Aufbruch, der auf Kooperation und nicht auf Eroberung“ basiert. Statt darauf positiv zu reagieren, setzen die Regierungen der EU-Länder den neo-liberalen Wirtschaftskurs fort. Sie erklären die Globalisierung für irreversibel und erwecken gleichzeitig den Eindruck, daß Politik die negativen Folgen der Globalisierung und vor allem des Neo-Liberalismus nicht verhindern könne. Das bedeutet nicht nur einen Abschied von der Politik, sondern ist auch falsch, was die EU selbst unter Beweis gestellt hat. Denn die EU ist sehr wohl in der Lage, die Hälfte ihrer Ausgaben für protektionistische Subventionen zum Schutz des Agrarmarktes zu verwenden. Der Rüstungsbereich ist zur Gänze dem Binnenmarkt und seinen Wettbewerbsregeln entzogen. Die negative Seite des Neo-Liberalismus liegt in einer Sparpolitik auf Kosten der Schwächeren und einer Überbetonung der Interessen des Finanzkapitalismus. Jede Beschäftigungspolitik verstößt gegen die Ideologie des Neo-Liberalismus, der ganz Europa infiziert hat. Das Ergebnis ist eine globale Konkurrenz in Form eines Kampfes aller gegen alle, wodurch selbst in den reichen Ländern immer mehr Menschen zu »Leistungsversagern« werden und zu den Armen gehören. Eine Revision des Wirtschaftens und der Wirtschaftspolitik – der Mensch ist nicht nur als »Homo öconomicus« zu begreifen –, ist daher auch aus Gründen einer gewaltverminderten Politik dringend notwendig, da der exzessive Wettbewerb neben einer militärisch gestützten Sicherheitspolitik zu den Hauptursachen der Gewaltzunahme zählt. Nicht brutale Konkurrenz, sondern eine bessere Kooperation hilft uns weiter. Da immer mehr Menschen von den negativen Folgen dieser menschenverachtenden Wirtschaftspolitik betroffen sind, könnten die Risiken dieser friedensfeindlichen Politik zu einer Wahrnehmung der Chancen führen, die sich einer Friedenspolitik von oben und unten für eine gewaltarme, gerechtere, für eine Kultur des Friedens bietet.

Mit Recht wird betont, daß es in der Europapolitik um die Weichenstellung geht, ob sich Europa mehr in Richtung Zivil- oder mehr in Richtung Militärmacht entwickelt. Die Hauptverantwortung werden sicher die EU und ihre Mitglieder zu tragen haben. Wer sich nicht bewegt, hat schon verloren. Es wird daher Zeit, daß sich die EU-Politik wieder mehr in Richtung Friedenspolitik bewegt. In der Sicherheitspolitik ebenso wie in der Wirtschaftspolitik.

Anmerkungen

1) Soweit in dem Beitrag AutorInnen zitiert werden, wird damit auf Beiträge in den drei Bänden des Forschungsprojektes des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) mit dem Titel »Friedensmacht Europa« Bezug genommen, von denen der dritte Band in Kürze erscheinen wird. Zurück

Dr. Gerald Mader ist Präsident des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), Stadtschlaining.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/2 Quo vadis Europa, Seite