W&F 2011/2

EUropas Staatsbildungskriege

13. Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 6.-7. November 2010, Tübingen

von Jonna Schürkes

Am 6./7. November 2010 veranstaltete die Informationsstelle Militarisierung (IMI) ihren Kongress 2011, »EUropas Staatsbildungskriege: Zerschlagen – Umbauen – Dirigieren«. Thema war die Praxis der Europäischen Union, Staaten des globalen Südens auf- bzw. umzubauen und sie unter der Androhung von Zerschlagung dauerhaft zu gängeln. Ziel des Kongresses war es, die steigende Bedeutung des Staatenbauens (und -zerschlagens) und die Rolle der EU dabei herauszuarbeiten.

Anhand verschiedener Beispiele wurde gezeigt, dass die Richtschnur für den Umgang der EU mit Staaten des globalen Südens nicht das Völkerrecht, sondern die jeweilige Interessenslage ist. Die besondere »Qualität« der EU-Politik, so eines der wichtigsten Fazits des Kongresses, liegt dabei in der Kombination »sanfter« und »harter« Machtmittel und ihrer systematischen Bündelung und Verzahnung im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD).

Bundeskanzlerin Angela Merkel fasste die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Instrumenten bereits auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2006 eindrucksvoll zusammen: „Die zentrale außenpolitische Zielsetzung lautet, Politik und Handeln anderer Nationen so zu beeinflussen, dass damit den Interessen und Werten der eigenen Nation gedient ist. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen von freundlichen Worten bis zu Marschflugkörpern.“ Denselben »integrierten Ansatz« propagierte jüngst auch der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 16.09.2010, „alle einschlägigen Instrumente und Politiken der EU und der Mitgliedstaaten [werden] vollständig und auf kohärente Weise im Dienste der strategischen Interessen der Europäischen Union eingesetzt“.

Von freundlichen Worten …

Als Beispiele für »sanfte« Machtmittel wurden in einem ersten Panel die Außenwirtschaftpolitik, die Beitritts- und Nachbarschaftspolitik, sowie zwei Finanzierungsinstrumente (das »Instrument für Demokratie und Menschenrechte« und das »Instrument für Stabilität«) der EU näher betrachtet.

Mit Hilfe einer neoliberalen Außenwirtschaftspolitik – vor allem in Form so genannter Freihandelsabkommen – gestaltet die EU Staaten des Südens um, mit desaströsen Folgen für die Bevölkerung der betroffenen Länder. Gleichzeitig ist eben jene neoliberale Wirtschaftspolitik Triebfeder für den Aufbau und die Zerschlagung von Staaten, schließlich ist die EU darauf angewiesen, dass Regierungen im globalen Süden gewillt oder genötigt sind, die wirtschaftspolitischen Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Anhand der schwierigen und noch immer nicht abgeschlossenen Verhandlungen über Freihandelsabkommen – beispielsweise mit dem Mercosur – werden aber auch die Grenzen dieser »sanften« Machtpolitik deutlich, die in naher Zukunft möglicherweise durch die beispiellose Verschmelzung von Handels-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik im Rahmen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) überwunden werden.

Mittels der Beitritts- und Nachbarschaftspolitik wird derzeit ein »Imperium Europa«, ein hierarchisch strukturierter Großraum geschaffen. Im Kern befinden sich die EU-Großmächte, darum gruppieren sich die alten Mitgliedsländer (EU-15) und darum herum die politisch und wirtschaftlich peripher angebunden Staaten der EU-Osterweiterung. Den äußeren Ring bilden die 16 Staaten, die an der Europäischen Nachbarschaftspolitik teilnehmen und schließlich die Mitglieder der „Eurosphere“ (Mark Leonard, Direktor des European Council on Foreign Relations), jener Großraum, bestehend aus 80 Staaten in Afrika und dem Mittleren Osten, in dem sich die EU immer offensiver als imperiale Ordnungsmacht gebärdet und auch bereit ist, militärische Gewalt zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und strategischen Interessen anzuwenden.

Die beiden Finanzinstrumente der EU, die zum Ende des ersten Panels näher analysiert wurden, dienen der Zerschlagung und dem Aufbau von Staaten. Welches Instrument zur Anwendung kommt, richtet sich nicht danach, ob ein Land die Menschenrechte achtet oder nicht, sondern, ob es nach der Pfeife der Europäischen Union tanzt. Mit dem »Instrument für Demokratie und Menschenrechte« werden vor allem Oppositionsbewegungen finanziert, um pro-westliche Eliten an die Macht zu bringen. Ganz entgegengesetzt hierzu funktioniert das Stabilitätsinstrument. Mit ihm werden v.a. Maßnahmen zum Aufbau von Armeen und Polizeien und generell die Stützung »befreundeter« Regime finanziert.

… und Marschflugkörpern

Den »harten« Machtmitteln widmete sich das zweite Panel des Kongresses. Diese reichen von den im Ausbau befindlichen militärischen Einheiten der EU über die Ausbildung von Repressionsorganen für befreundete Regime bis hin zur »robusten« Bevölkerungskontrolle, u.a. durch gezielte Tötungen.

Für kleinere, gezielte Operationen baut sich die EU spezialisierte Einheiten (Battlegroups) auf, die Regime – je nach gusto – vor Angriffen schützen oder auch destabilisieren können. Dabei agiert die EU häufig im Zusammenspiel mit anderen weltpolitischen Akteuren wie der NATO, den Vereinten Nationen oder auch der Afrikanischen Union, da sie meist selbst nicht in der Lage oder willens ist, ausreichend Soldaten zu entsenden. Als weiteres Mittel wurde die European Gendarmerie Force genannt, an der sich alle EU-Mitgliedsstaaten mit paramilitärischen Truppen beteiligen. Sie kann sowohl im In- als auch Ausland, unter zivilem und militärischem Kommando eingesetzt werden und spielt daher gerade für den »Aufbau« von Staaten bzw. die Verteidigung von Regimen gegen unliebsame Oppositionen eine zunehmend wichtigere Rolle.

Zusätzlich zu diesen Instrumenten, die der direkten militärischen Intervention dienen, entdeckte die EU Sicherheitssektorreformen als ein geeignetes Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen vor allem in Ländern des globalen Südens. Diese Reformen beschränken sich im Allgemeinen darauf, Soldaten und Polizisten auszubilden und auszurüsten sowie Militär- bzw. Polizeiberater in die jeweiligen Länder zu entsenden. Ziel dieser Missionen ist, die Kontrolle der EU über diese Sicherheitskräfte zu erhöhen und pro-westlichen Regimen Repressionsorgane aufzubauen, wobei es weitgehend gleichgültig ist, ob es sich dabei um demokratische oder autoritäre Regime handelt.

Unliebsame Einzelpersonen und Gruppen schaltet die EU unter anderem mit Hilfe von so genannten Terrorlisten und gezielten Tötungen aus. Für Personen, die auf diesen Terrorlisten stehen, bedeutet dies nicht nur, dass sie fast in allen Bereichen des zivilen Lebens handlungsunfähig werden (Konten werden eingefroren, Reisen werden unmöglich, etc.) sondern im schlimmsten Fall, dass sie auf so genannten »Todeslisten« landen und damit im wahrsten Sinne des Wortes zum Abschuss freigegeben werden. Dieser wird zunehmend von Drohnen ausgeführt, wobei es sich um außergerichtliche Tötungen auch außerhalb des Kriegsgebietes, wie beispielsweise in Pakistan, handelt. Bisher setzten vor allem die USA Drohnen für diese Art der Kriegsführung ein. Allerdings intensiviert auch die EU ihre Bemühungen in diesem Bereich. So hat die Europäische Rüstungsagentur von Anfang an die Entwicklung von unbemannten Drohnen als ihr Flaggschiff erklärt und in diesem Bereich umfangreiche Forschungs- und Sponsoringprogramme aufgelegt.

Am Ende des ersten Kongresstages ging es um den EAD, der am 1. Dezember 2010 seine Arbeit aufnahm und in dem all diese Instrumente zusammengefasst werden. Er wird von Befürwortern wie Ulrike Guérot vom European Council on Foreign Relations nicht zu Unrecht als „Kronjuwel des Vertrags von Lissabon“ bezeichnet, denn er wird die Politik der Europäischen Union grundsätzlich verändern. Mit dem EAD soll die »Schlagkraft« der Europäischen Union über die Bündelung der sanften und harten Machtmittel erhöht werden. Diese Bündelung bedeutet vor allem, dass Militärs künftig mit am Tisch sitzen werden, wenn es um Fragen ziviler Konfliktbearbeitung oder die Vergabe von Entwicklungshilfe geht. Dies wiegt umso schwerer, da die wesentlichen Posten innerhalb des EAD nahezu ausschließlich von den EU-Großmächten besetzt werden und das neue Superministerium weder vom Europäischen Parlament noch den nationalstaatlichen Parlamenten effektiv kontrolliert werden kann.

Durchsetzung EUropäischer Interessen

Der Einsatz der am ersten Tag besprochenen Instrumente und die Interessen, die die EU damit verfolgt, wurden am zweiten Tag anhand von Länderbeispielen aufgezeigt.

Die doppelten Standards der EU-Politik wurden vor allem im Umgang der EU mit den nach Unabhängigkeit strebenden Regionen auf dem Balkan und im Kaukasus deutlich. Während die gesamte Bandbreite der zur Verfügung stehenden Machtmittel im Fall des Kosovo dazu eingesetzt wurden, einen neuen Staat zu schaffen, wurde mit eben jenen Instrumenten im Kaukasus verhindert, dass sich Süd-Ossetien und Abchasien von Georgien abspalten. Hier wird deutlich, dass Sezessionen aus westlicher Sicht dann legal sind, wenn es sich um pro-westliche Regionen handelt, und illegal, wenn dies nicht der Fall ist. Das Völkerrecht wird dabei durch bloße Willkür ersetzt.

Besonders deutlich wird dies im Umgang mit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Unabhängigkeit des Kosovo, das im Juli 2010 veröffentlicht wurde. Auch wenn das Gutachten keinesfalls feststellt, dass die Unabhängigkeit des Kosovos rechtmäßig gewesen ist, wurde es durch westliche Politik und Medien als Persilschein für die Zerschlagungs- und Anerkennungspolitik des Westens auf dem Balkan gewertet. Gleichzeitig betont die Europäische Union, dass sich daraus keinesfalls das Recht ableite, in ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls auf eine Sezession zu drängen.

Im sehr unterschiedlichen Umgang mit afrikanischen Staaten konnte eindrucksvoll gezeigt werden, wie sehr die Entscheidung, Regime zu stabilisieren oder zu destabilisieren, von den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen der EU abhängt. So wird einerseits die Besetzung der Westsahara durch Marokko von der EU geduldet und sogar inoffiziell unterstützt, weil Marokko die Ausbeutung der dortigen Fischgründe und Phosphatvorkommen (knapp 40% der weltweiten Reserven) ermöglicht. Andererseits wird im Sudan die Abspaltung des ölreichen Südens mit dem Aufbau neuer Polizeikräfte und Infrastruktur vorbereitet und unumkehrbar gemacht. Gleichzeitig wird versucht, die Zentralregierung mit allen denkbaren Mitteln – vom Haftbefehl gegen Al-Bashir über Wahlbeobachtungsmissionen und einen Militäreinsatz im benachbarten Tschad – zu destabilisieren.

In Somalia wird wiederum die Übergangsregierung, die erst durch eine Invasion Äthiopiens mit der tatkräftigen Unterstützung des Westens an die Macht gelangen konnte, durch die EU unterstützt, auch wenn sie kaum mehr als einige Viertel in Mogadischu kontrolliert. Die Regierung ihrerseits erlaubt es der EU und anderen Staaten, in ihren Hoheitsgewässern Piraten militärisch zu bekämpfen.

Auf dem Abschlusspodium des Kongresses wurden Möglichkeiten diskutiert, sich dieser Art Politik entgegen zu setzen. Dringend notwendig ist weiterhin die Formulierung einer linken EU-Kritik, die darauf abzielen muss, der weit verbreiteten Europhilie den Boden zu entziehen.

Zusätzlich wurde am Beispiel der Oppositionsbewegung in Honduras gezeigt, wie internationale Solidaritätsarbeit heute funktionieren kann. Diese Bewegung kämpft gegen die gegenwärtige Regierung, die erst durch einen Putsch im Juni 2009 an die Macht gekommen war, und ist daher massiver Repression ausgesetzt. Die EU hatte diese Regierung trotz der vorangegangenen Verurteilung des Putsches anerkannt, um ein Freihandelsabkommen mit dem Land abschließen zu können. Die Möglichkeiten, solche Gruppen zu unterstützen, sind vielfältig: Die Anliegen der Bewegungen und die Politik der EU müssen in Europa bekannt gemacht werden, von Repression betroffene Menschen in Honduras können von Menschen aus Europa begleitet werden, um der Regierung über die Schaffung einer internationalen Öffentlichkeit den repressiven Umgang mit den Oppositionellen zu erschweren, und schließlich ist auch die finanzielle Unterstützung dieser Gruppen notwendig.

Somit wurde zum Abschluss des Kongresses gezeigt, dass wir der zuvor ausführlich analysierten Politik der EU nicht ohnmächtig gegenüber stehen.

Jonna Schürkes

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/2 Kriegsgeschäfte, Seite 66–68