W&F 2016/2

Flucht, Stadt und Rassismus

Geflüchtete in europäischen Städten

von René Kreichauf

Lagerähnliche Aufnahme- und Unterbringungspraktiken wurden im Kontext einer europäischen Angst vor Flüchtlingen als Teil asylfeindlicher Gesetzesvorhaben über Jahrzehnte etabliert. Die städtische Wohnversorgung von Geflüchteten spiegelt daher die Verräumlichung einer Gesetzgebung wider, die auf Ausgrenzung zielt. An den Beispielen Kopenhagen, Berlin und Madrid zeigt der Artikel die Strukturen, rassistischen Motive und Folgen dieser Lagerunterbringung auf.

Bis heute hat sich das System der Lagerunterbringung – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – verstetigt und fortwährend perfektioniert: Mittlerweile werden in allen EU-Mitgliedsstaaten Geflüchtete größtenteils in so genannten Aufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften in oder fernab von Städten zwangsuntergebracht. Der Umgang mit Geflüchteten, konkrete integrationspolitische Maßnahmen sowie insbesondere die Bereitstellung von Infrastrukturen und Wohnraum erfolgen zumeist lokal, aber nicht ohne Bezug zur europäischen und nationalen Flüchtlingspolitik.

Die Etablierung des Lagers in Kopenhagen, Berlin und Madrid

In Dänemark wird die Unterbringung der Asylsuchenden zentralistisch gesteuert. Das Udlandsservice (Einwanderungsbehörde) in Kopenhagen ist dem dänischen Justizministerium unterstellt und für das Asylverfahren und die Unterbringung zuständig. Es beauftragt das dänische Rote Kreuz oder Kommunen mit der Wohnraumversorgung. Die Unterbringung in Zentren ist in Dänemark Teil des Asylverfahrens und obligatorisch. Die Verteilung der Unterkünfte und von anerkannten Flüchtlingen erfolgt anhand der »Kommunekvoter«, einer Quote für die Zuweisung von Zugewanderten und Geflüchteten. Die Quote wird anhand der Einwohner_innenzahl einer Stadt und des Anteils (aller) Ausländer_innen berechnet. Kommunen, die bereits einen allgemein hohen Migrant_innenanteil haben (so genannte »Zero Communes« wie Kopenhagen, Arhus und Aalborg), dürfen keine weiteren Geflüchteten aufnehmen. In Kopenhagen gibt es daher keine Unterkünfte. Die Lager sind hier räumlich isoliert in Wäldern und alten Militäranlagen im Umland angelegt.

In Spanien werden die Lager direkt von der Subdirectora General Adjunta de Integración de los Inmigrantes (Integrationsbehörde) des Ministeriums für Arbeit und Soziales betrieben. Sie sind ein fester Bestandteil des spanischen Integrationsprogramms für Asylsuchende, das auf eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem und letztlich auf die Teilhabe der Flüchtlinge an der spanischen Gesellschaft abzielt. Mehr als die Hälfte aller Asylsuchenden in Spanien werden – zumindest in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft – in Madrid untergebracht: Zwei (von vier) der staatlich betriebenen Centros de Acogida a Refugiados (ähnlich den deutschen Gemeinschaftsunterkünften), ein Abschiebelager, von Nichtregierungsorganisationen angemietete Wohnungen sowie Spaniens einzige Erstaufnahmeunterkunft befinden sich in der Hauptstadt. Obwohl sich die Unterkünfte insgesamt durch ihre Lage in Nachbarschaften auszeichnen, sorgt die Architektur der Unterkünfte (vergitterte Fenster, Eingangstore, hohe Zäune etc.) für räumliche Barrieren.

In Deutschland ist die Aufnahme und Unterbringung der Asylsuchenden im Asylverfahrensgesetz sowie im Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Der »Königsteiner Schlüssel« entscheidet über die Verteilung der Geflüchteten auf die Bundesländer. Die konkrete Umsetzung der Gesetze und die Entscheidung über die Wohnformen obliegen den Ländern und Kommunen. Berlin ist, trotz der Möglichkeit, nach drei Monaten Aufenthalt privaten Wohnraum anzumieten, durch die Herausbildung eines Lagersystems geprägt, das aus drei offiziellen Erstaufnahmeeinrichtungen sowie ca. 60 Gemeinschafts- und Notunterkünften besteht und in dem ca. 75% der rund 40.000 Asylsuchenden untergebracht sind (Stand August 2015). Aufgrund der relativen Entscheidungshoheit über die Art der Wohnversorgung, die Auswahl von Betreiberfirmen bzw. -organisationen und von Standorten kann daher durchaus von einer Lagerpolitik als Stadtpolitik gesprochen werden.

Die untersuchten Städte beherbergen jeweils drei Lagerformen: Erstaufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft und Abschiebezentrum. In jüngerer Zeit wird ein Trend zur Zusammenführung der unterschiedlichen Funktionen erkennbar (Flughafenverfahren, Gemeinschaftsunterkünfte auch als Erstaufnahmezentren und Orte der Abschiebung, zentrale Lagerkomplexe wie Sandholm in Dänemark oder Tempelhof in Berlin). Durch die Dublin- und EURODAC-Verordnungen, die einen EU-weiten Austausch über die Identität der Flüchtlinge ermöglichen, sowie durch die Vereinheitlichung der Aufnahmebedingungen hat sich zudem ein untereinander verbundenes Geflecht von Lagern mit dem Ziel der europaweiten Organisation der Fluchtmigration und der Unterbringung herausgebildet (Kreichauf 2015).

Das Lager als sozialräumliche Exklusionsfigur und als Instrument der Abschreckung

Die (offizielle) politische und verwaltungstechnische Rechtfertigung für die Anlage der Massenunterkünfte verläuft in allen Fallbeispielen nach folgendem Argumentationsmuster: Der Anstieg der Zahl der Flüchtlinge war bzw. sei unvorhersehbar und zwinge Entscheidungsträger_innen zu einer spontanen und effizienten Antwort. Da die angespannten Wohnungsmärkte die Flüchtlinge nicht absorbieren können und die Unterbringung in privatem Wohnraum mit hohem Zeit- und Organisationsaufwand verbunden sei, entstehe ein Handlungsdruck, auf den nur pragmatisch mit der schnellen Bereitstellung großer Unterkünfte für die »Masse« der Asylsuchenden reagiert werden könne. So behauptete ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales: „Das ist einfach ein Gebot der schieren Not […]. Wir müssen kurzfristig reagieren. Da sind Wohnheime eben auch ein notwendiges Übel.“

Deutlich werden an diesem Vorgehen vor allem die Konstruktion eines fortwährenden Ausnahmezustandes und die Problematisierung der steigenden Flüchtlingszahlen, die die Massenunterkunft als vermeintlich unvermeidbare Reaktion legitimieren. Bei genauerer Betrachtung des empirischen Materials werden jedoch vier zentrale Ziele und soziopolitische Funktionen der Unterbringung in Lagern deutlich: 1.sozialräumliche Exklusion, 2. Abschreckung, 3. Disziplinierung und ökonomische Ausbeutung sowie 4. Kontrolle und unmittelbarer Zugriff auf die Flüchtlinge.

1. Sozialräumliche Exklusion

Anhand von 35 Kategorien wurde im Rahmen der Studie »The European Fortress City« die sozialräumliche Exklusion in zehn Unterkünften in den untersuchten Städten hinsichtlich ihrer Lage, ihren räumlichen Ausgrenzungstendenzen sowie symbolischer und individueller Isolationsmechanismen bewertet. Auffällig ist, dass vor allem die Erstaufnahmeeinrichtungen physisch und symbolisch von ihrer Umgebung abgetrennt sind. In Dänemark ist die systematische räumliche Ausgrenzung der Asylsuchenden – politisch gesteuert durch die »Kommunekvoter« – am offensichtlichsten. Alle Unterkünfte sind außerhalb städtischer Siedlungen angelegt. Besonders prägnant ist die Lage und Struktur des Center Sandholm. Es bildet einen nach außen abgeschotteten Raum, der über Zäune und Mauern sowie eine Pförtneranlage und Einlass- bzw. Ausgangskontrollen abgesichert wird. Unmittelbarer Nachbar des Center ist ein militärischer Stützpunkt der dänischen Armee samt Schießübungsgelände.

2. Abschreckung

Alle interviewten Flüchtlingsorganisationen und -initiativen in Berlin und Kopenhagen hoben die Bedeutung des Diskurses über den Missbrauch des Asylrechts und sozialstaatlicher Leistungen hervor, der als Instrument für die Einführung der Lagerunterbringung genutzt wird. In diesem Zusammenhang ist das Flüchtlingslager ein Instrument der politisch forcierten Abschreckung weiterer Migrantinnen und Migranten einerseits und der Stigmatisierung der Asylsuchenden als »Sozialschmarotzer« andererseits. Das Lager hilft, das Bild »fremder Eindringlinge« zu konstruieren, und dient gleichzeitig als Rechtfertigung für den Umgang mit dieser Gruppe.

3. Disziplinierung und ökonomische Ausbeutung

In Madrid funktioniert das Heim als ein Ort, der die Integration durch gezielte Integrationsmaßnahmen, Sprachunterricht und Arbeitsmarktvorbereitungskurse fördern soll.„Das ist keine Unterkunft zum Essen und Schlafen, sondern es ist eine Unterkunft mit einem Arbeitsprogramm“, erläuterte eine Mitarbeiterin einer Unterkunft. Das Programm korreliert mit der sozialräumlichen Struktur der Unterkunft als Ort unmittelbarer Kontrolle, Einschüchterung und Bestrafung. Dies wurde bei der Befragung der Heimleitung deutlich: „Manchmal nehmen sie nicht teil. Dann muss man sie per Lautsprecher ausrufen, und wir können die finanzielle Unterstützung kürzen oder ihre Zeit in der Unterkunft beschränken.“ Das Programm ist primär an der ökonomischen Integration der Flüchtlinge ausgerichtet sowie an der Bedeutung ihrer Arbeitskraft für die spanische Wirtschaft, die bis zur Krise 2008 wesentlich vom Niedriglohnsektor und vom irregulären Arbeitsmarkt abhängig war (Frenzel 2009). Dass ein direkter staatlicher Zweck des Arbeitsmarkts- und Integrationstrainings, das mit der Unterbringung in der Massenunterkunft verbunden ist, die Herausbildung einer Masse billiger Arbeitskräfte für den irregulären Arbeitsmarkt in Spanien sein könnte, wurde von vielen spanischen Interviewpartner_innen vermutet.

Disziplinierungspraktiken und ausgeprägte Machthierarchien werden nicht nur physisch-symbolisch (Militäranlagen als Unterkünfte, Gitter vor Fenstern einiger Unterkünfte etc.) erkennbar, sondern zeigen sich auch in Strategien des Heimpersonals. Im Berliner Lager Klingsorstraße werden Informationen über Mietwohnungen nur an einzelne ausgesuchte Bewohner_innen weitergegeben. Im Center Sandholm gibt es ein »Activation Program«, das aus der Reinigung aller Räumlichkeiten, Wäsche waschen und Gartenarbeit besteht. Abwesenheit wird mit der Kürzung des Taschengeldes und mit schlechteren Wohnbedingungen sanktioniert.

4. Kontrolle und Zugriff auf Geflüchtete

Schließlich garantiert die Lagerunterbringung die Kontrolle und den Zugriff auf Migrant_innen während des Asylverfahrens, wie der Berliner Flüchtlingsrat erläuterte: „Neben der Abschreckung ist immer auch ein definiertes Ziel die Kontrolle. Das heißt der Zugriff auf den Ausländer zum Zweck der Abschiebung.“ Innerhalb der Unterkünfte gibt es dabei sowohl direkte als auch indirekte Kontrollformen. Während die direkte Kontrolle vor allem durch Identitätsprüfungen der Geflüchteten und Besucher_innen, physische Grenzen wie Mauern und Zäune, Wachpersonal und – wie in Madrid – auch durch Videoüberwachung bestimmt wird, werden indirekte Kontrollmechanismen vor allem durch Eingriffe in die Privatsphäre der Bewohner_innen erkennbar. Das Personal, aber auch andere Asylsuchende, erzeugen einen Zustand permanenter Beaufsichtigung, wie ein Flüchtling im Center Sandholm beschrieb: „Alles, was ich tue, wird kontrolliert: wann ich gehe, wann ich zurückkomme, wann ich Post erhalte und wann ich Wäsche wasche.“

Das Lager als rassistisches Merkmal europäischer Asylgesetzgebung

In den Untersuchungen zu Unterbringungspraktiken als materielle Verwirklichung der Asylgesetzgebung wird unmittelbar deutlich, dass das Lager den physischen Raum administrativer und politischer Gewaltausübung in Bezug auf Geflüchtete darstellt. Es ist ein Raum, der zur Entwicklung und Manifestierung des Eigenen und des (ethnisch) Fremden dient und dafür (als gesetzlich vorgeschriebene Unterbringung für Flüchtlinge) auch politisch initiiert wurde und wird. Miles (2000) argumentiert, dass dieser Einschluss durch Ausschluss – je nach Kontext, in dem dies stattfindet, und wenn ein rassistischer Diskurs vorangegangen war – rassistisch sein kann.

Die Entstehung der Lager und die Etablierung regulierender Asylgesetze in den 1980er und 1990er Jahren gehen in Dänemark und Deutschland auf eine politische Zielsetzung zurück: Die Zuwanderung soll durch Abschreckung und durch Verschlechterung des Lebensstandards der Migrant_innen verhindert werden. Dabei wurde in aller Deutlichkeit offen auf „rassistische Argumentationsmuster rekurriert“ und „Flüchtlingen ein absichtlicher Missbrauch des Asylrechts unterstellt“ (Wichert 1994). Diese Debatte und die bis heute geltenden und weiter ausgebauten Asylrechtsverschärfungen sind laut Morgenstern (2002) durch einen kulturalistischen Rassismus, die Berufung auf kulturelle Unterschiede und die vermeintliche Unmöglichkeit eines Zusammenlebens geprägt. Morgenstern (2002), Herbert (2001) und Bade (2015) stellen fest, dass eine konservative, restriktive Reaktion der Politik vielfach bis heute als einzige Lösung gegen den vorgeworfenen Missbrauch des Asylrechts angesehen wird.

In Bezug auf Ausländergesetze und die Rolle des Staates sprechen Kalpaka und Räthzel (1990) sowie Jäger (1992) dann von Rassismus, wenn 1. die Andersartigkeit von Menschen, beispielsweise durch körperliche Erscheinungsformen und kulturelle Merkmale, herausgestellt wird, wenn 2. diese negativ (oder auch positiv) bewertet wird, die Bewertung eines Menschen also einen Bezug zu angenommenen andersartigen Erscheinungsformen und kulturellen Merkmalen herstellt, und wenn 3. diese Bewertung aus einer Position der Macht vorgenommen wird. Hall (2000) erläutert in diesem Zusammenhang, dass rassistische Ideologien immer dann entstehen, wenn die Produktion von Bedeutungen mit Machtstrategien verknüpft ist und diese dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu gesellschaftlichen, kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen. Essed (1991) und Link (2002) betonen, dass diese Form des Rassismus durch einen „weißen Konsens“ weniger erkennbar wird. Auch Pieper (2008) erklärt, dass durch die ideologische Funktion des Rechts als Basis des modernen Rechtsstaats diese rechtlichen Abwertungsprozesse „als normal, rechtlich geregelt und vor allem als gerecht und damit notwendig“ erscheinen und schließlich ihre rassistischen Komponenten verbergen.

In der Studie zu Berlin, Kopenhagen und Madrid wird deutlich, dass durch die Asylgesetzgebung und das Lager diskriminierende, ausgrenzende und rassisierende Markierungsprozesse stattfinden, die die Betroffenen als »fremd« und »nicht-zugehörig« bestimmen und ihnen dadurch eine untergeordnete Stellung in der Gesellschaft zuweisen. Asylsuchende in allen Untersuchungsstädten bezeichnen die Lager als Gefängnisse und als Orte, die sie nach außen kriminalisieren und in ihrer Lebensgestaltung unterdrücken. Befragte berichten von Diskriminierung (faul, da keine Arbeit; arm und dem Sozialstaat auf der Tasche liegend; kriminell, weil in einer gefängnisähnlichen Behausung lebend oder beim Schwarzfahren erwischt), die eng mit ihrem rechtlichen Status als Menschen ausländischer Herkunft mit unsicherem Aufenthalt und den durch die Asylgesetzgebung geschaffenen Zuständen zusammenhängen. Die Unterkünfte selbst spielen aufgrund ihrer Architektur, der städtebaulichen Anordnung und ihrer Lage eine besondere Rolle in der Entwicklung von Ressentiments gegenüber dem »Fremden«. Sie korrespondieren mit der rassistischen Markierung der Bewohner_innen und tragen gleichsam zu deren Verstärkung bei.

Die zwangsweise Unterbringung von Geflüchteten in Massenunterkünften erfolgt in allen Untersuchungsstädten seit der Verschärfung der jeweiligen Asylgesetzgebung in den 1980er und 1990er Jahren – nicht weil das Lager die humanitär oder ökonomisch »beste« Unterbringungsform darstellt und sinnvoll ist, sondern weil es die konkrete politische Aufgabe und Motivation verfolgt, als Symbol Zugewanderte abzuschrecken und als Raum die in einer fortschrittlichen Gesellschaft niedrigsten Lebensbedingungen anzubieten und rechtlich zu legitimieren. Die Lagersysteme und die einzelnen Lager sind als Räume der physischen wie sozialen Exklusion und als Folge der Ausländergesetzgebungen ein zentraler Bestandteil des – wie Pieper (2008) erörtert – institutionellen Rassismus.

Im Rahmen der Gesetzgebung entsteht Rassismus hiernach im Raum, und gleichermaßen entwickelt sich der Raum durch Rassismus. Die Lagerunterbringung zeigt damit zwei Dimensionen auf: Erstens werden die Geflüchteten durch die Verortung in diesem negativ konnotierten Raum als Gruppe überhaupt erst wahrgenommen – das ist der Ausgangspunkt rassisierender Markierungs- und Stigmatisierungsprozesse. Die Lagerunterbringung erzeugt Auffälligkeit durch bestimmte physische oder innere Strukturen (z.B. Konzentration von Menschen auf engstem Raum, Verlust der Privatsphäre, Abhängigkeit von Betreuenden bei der Verrichtung alltäglicher Aktivitäten,, erzwungene Erwerbslosigkeit etc.). Nach außen wird vermittelt, dass die Bewohner_innen einer Unterkunft nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, sondern als „subhuman beings“ (Untermenschen) oder „criminals and prisoners“ (Kriminelle und Zuchthäusler) wahrgenommen werden, wie Aktivist_innen in Berlin und Kopenhagen erläuterten. Diese Zustände tragen zur Entstehung von Konflikten innerhalb der Lagerbewohnerschaft und so wiederum zu Vorbehalten und irrationalen Ängsten in der Bevölkerung bei (=Rassismus durch Raumproduktion). Und zweitens ist dieser Raum überhaupt erst durch eine rassistische Gesetzgebung geschaffen wurden (= Raumproduktion durch Rassismus).

Das Lager als neuer Grenzraum in der europäischen Stadt

In allen drei Untersuchungsstädten schränken Asylgesetze den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen durch die gesetzlich vorgeschriebene Zwangsunterbringung in Lagern, Arbeits- und Ausbildungsverbote, das mittlerweile wieder in allen Untersuchungsstädten wirkende Sachleistungsprinzip, die Leistungskürzung unter das Existenzminimum und den systematischen Ausschluss von medizinischer Versorgung ein. Insgesamt verwehrt die Asylgesetzgebung damit den Geflüchteten rechtliche Möglichkeiten, für den Lebensunterhalt selbst zu sorgen und den Lebensalltag sowie das Lebensumfeld eigenständig zu wählen und zu gestalten.

Das Lager ist zentrales Resultat der Asylpolitiken auf supranationaler, nationaler und teilweise lokaler Ebene und gleichermaßen der Raum, in dem sich Asylpolitiken manifestieren. Herz (2008) bringt das prägnant zum Ausdruck: „The camp is politics having become space.“ (Das Lager ist zum Raum gewordene Politik.) Europaweit hat sich die Massenunterkunft als materielles Instrument von Asylpolitiken etabliert. Das Lager übernimmt die Funktion eines Grenzraums, der durch materielle wie symbolische Barrieren gekennzeichnet ist und den systematischen Ausschluss Zugewanderter mit unsicherem Aufenthaltsstatus von der Teilhabe am urbanen Leben garantiert – obwohl sie räumlich in (oder in der Nähe von) europäischen Städten leben.

Anmerkung

Dieser Artikel basiert auf Forschungsergebnissen des Projekts »The European Fortress City – The Socio-Spatial Exclusion of Asylum Seekers in Copenhagen, Berlin and Madrid«. Die Forschungsarbeit wurde im Rahmen des internationalen Masterstudiums »4 Cities – Unica Euro Master in Urban Studies« an der Vrije Universiteit Brussel, der Université Libre de Bruxelles, der Universität Wien, der Københavns Universitet, der Universidad Autónoma de Madrid und an der Universidad Complutense de Madrid von 2013 bis 2015 durchgeführt. Für diesen Beitrag wurden die Originalzitate aus den Interviews in Kopenhagen und Madrid ins Deutsche übersetzt.

Literatur

Klaus J. Bade (2015): Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik – Essay. Aus Politik und Zeitgeschichte/APuZ 25/2015 – Flucht und Asyl.

European Migration Network (2013): The Organisation of Reception Facilities for Asylum Seekers in Different Member States – Spain. Hrsg. von der Europäischen Kommission.

Philomena Essed (1991): Understanding Everyday Racism – An Interdisciplinary Theory. Newbury Park, London, New Delhi: Sage Publications.

Veronika Frenzel (2009): Schwarzarbeit – Schattenbrüder. E+Z – Entwicklung und Zusammenarbeit, Ausgabe 6/2009.

Stuart Hall (2000): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Nora Räthzel (Hrsg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument.

Ulrich Herbert (2001): Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland – Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtling. München: C.H. Beck.

Manuel Herz (2008): Refugee Camps – or – Ideal Cities in Dust and Dirt. In: Ilka and Andreas Ruby (eds.): Urban Transformation. Berlin: Ruby Press.

Siegfried Jäger (1992): BrandSätze – Rassismus im Alltag. Duisburg: DISS.

Annita Kalpaka und Nora Räthzel (1990): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. In: Otger Autrata et al. (Hrsg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument.

René Kreichauf (2016): From Fortress Europe to the European Fortress City – The Translation of EU Asylum and Border Policies into Space. In: René Seyfarth und Frank Eckardt (eds): Urban Minorities. Bauhaus Urban Studies Bd. 6. Würzburg: Königshausen u. Neumann (im Erscheinen).

Jürgen Link (2002): Institutioneller Rassismus und Normalismus. In: Margarete Jäger und Kauffmann (Hrsg.): Leben unter Vorbehalt – Institutioneller Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast.

Robert Miles (2000) Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In: Nora Räthzel (Hrsg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument, S.17-33.

Christine Morgenstern (2002): Rassismus – Konturen einer Ideologie. Einwanderung im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg: Argument.

Tobias Pieper(2008): Die Gegenwart der Lager – Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Frank Wichert(1994): Das Grundrecht auf Asyl – Eine diskursanalytische Untersuchung der Debatten im deutschen Bundestag. Unveröffentlichte Magisterarbeit, online beim Duisburger Institute für Sprach- und Sozialforschung (DISS).

René Kreichauf studierte Stadt- und Regionalplanung sowie Stadtsoziologie in Berlin, Brüssel, Wien, Kopenhagen und Madrid. Aktuell forscht er als Doktorand der Freien Universität Berlin und der Vrije Universiteit Brüssel zu Formen urbanen Asyls in europäischen und nordamerikanischen Städten.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/2 Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume, Seite 34–37