W&F 2017/2

Fluchtursachen und Verantwortung

Das Beispiel Afghanistan

von Katja Mielke

Das Beispiel Afghanistan verdeutlicht, wie klassische Fluchtursachen – vordergründig Krieg und Gewalt sowie damit verbunden fehlende Rechtstaatlichkeit, Diskriminierung und Verfolgung – durch das Fehlschlagen der internationalen militärischen, insbesondere aber auch der zivilen Intervention in den letzten 15 Jahren verstärkt wurden. Der gescheiterte Wiederaufbau des Landes kann aus dieser Perspektive durchaus als eigenständige Fluchtursache gelten, bedingt er doch die steigende Armut, zunehmende soziale Ungleichheit und als Ergebnis wachsende Perspektivlosigkeit. Daraus ergibt sich eine internationale Verantwortung für die würdevolle Aufnahme und Betreuung der geflüchteten Afghan*innen in Deutschland, Europa und weltweit.

Im April 2017 beginnt das vierzig­ste Kriegsjahr in Afghanistan. Der Gewaltkonflikt hat geschätzte 4,8 Millionen Menschen veranlasst, ihr Heimatland zu verlassen: Etwa 15 Prozent der Afghan*innen sind laut UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) über internationale Grenzen geflüchtet.1 Zum Jahresende 2015 wurden weltweit etwa 2,67 Millionen Afghan*innen offiziell als Flüchtlinge anerkannt; von ihnen ist fast jede/r Zweite (49 %) jünger als 18 Jahre (UNHCR 2016, S. 16). Afghan*innen stellen weltweit die zweitgrößte Flüchtlingsbevölkerung (die größte kommt aus Syrien). Hinzu kommt die immense interne Vertreibung. Sie belief sich allein im Jahr 2016 auf mehr als eine halbe Million Menschen (UN OCHA 2016). Mit den bereits vor 2016 vertriebenen 1,17 Millionen Binnenvertriebenen (Amnesty International 2016, S. 13) beläuft sich die offiziell registrierte Zahl der Vertriebenen im Inland auf 1,7 Millionen Menschen.2

Fluchtursache Gewalt und Krieg

Die Vertreibungszahlen spiegeln die zunehmende Unsicherheitslage in Afghanistan wider. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen ist von 2010 bis heute stetig fast um das Fünffache gestiegen. Parallel weist auch die Zahl ziviler Opfer von politischer Gewalt jedes Jahr neue Rekordwerte auf. Im letzten Jahr (2016) wurden 7.929 Zivilisten getötet und 3.498 verletzt, darunter immer mehr Kinder (923 getötet, 2.589 verletzt) (UNAMA 2016).

Zum Jahresende 2016 waren so genannte »Taliban« – eigentlich ein Kon­glomerat diverser bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen auf lokaler Ebene und mehr ein Label als eine kohärente Bewegung – so sehr erstarkt wie seit 2001 nicht mehr. Das Ausmaß der Kontrolle von Landesteilen durch regierungsfeindliche Truppen ist zum Politikum geworden. Trotz der sehr unterschiedlichen Einschätzung zwischen unabhängigen Beobachtern und US-Militär auf der einen und zwischen den Regierungen der USA und Afghanistans auf der anderen Seite ist unbestritten, dass die Regierung Einfluss und Kontrolle verliert.

Laut US-Militär (Roggio 2016) kontrollierten Taliban (»Aufständische«) Ende August 2016 lediglich acht von 407 Distrikten und besaßen Einfluss in weiteren 25 Distrikten, während die Regierung 88 Distrikte vollständig kontrollierte und in 170 Distrikten Einfluss ausübte (7,1 % weniger als Ende Januar 2016 und 15 % weniger als Ende November 2015); in 28,5 % der Distrikte konkurrierten die »Auständischen« und die Regierung um den Kontrollanspruch. Schon drei Monate später, Ende November 2016, hatte die Regierung weitere 6,2 % der Distrikte verloren (SIGAR 2017). Unabhängige Beobachter*innen schätzen die Regierungszahlen überdies als zu hoch ein. In Wirklichkeit hätten die Taliban bereits Ende Oktober 2015 70 Distrikte unter ihrer Kontrolle gehabt und bis November 2016 weitere 27 Distrikte hinzugewonnen, würden also knapp ein Viertel der Distrikte kontrollieren (Rogio 2016). Zudem waren bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen in der Lage, landesweit mehrere militärische Offensiven gleichzeitig zu koordinieren, zum Beispiel in Helmand, Urusgan, Kundus, Farah und Baghlan. Die respektiven Provinzhauptstädte befinden sich seit Monaten, wenn nicht Jahren, permanent in Gefahr, von Taliban erobert zu werden. Die zeitweise Eroberung von Kundus durch Taliban Ende September 2015 war daher keine Ausnahme, sondern ist symptomatisch für den Kontrollverlust der Regierung.

Im Januar 2017 lebte fast ein Drittel der afghanischen Bevölkerung (9,2 Millionen) in Gebieten, die zwischen Regierung und Aufständischen »umkämpft« sind. Etwa zweieinhalb Millionen Personen lebten noch in Gebieten, die von Aufständischen, also Taliban oder Daesh (IS-Khorasan), kontrolliert werden, die meisten Bewohner der von Daesh kontrollierten Gebiete (vier Distrikte in der östlichen Provinz Nangarhar) sind wohl geflohen.

Diese Zahlen sind jedoch nur ein Aspekt, der das Ausmaß der Unsicherheit, dem die Bewohner*innen Afghanistans ausgesetzt sind, beschreibt. Die kürzlich erfolgten Anschläge – wie auf das Krankenhaus in Kabul im Februar 2017 – zeigen, dass auch die urbanen Zentren nicht mehr sicher sind. In Großstädten wie Kabul (ca. 4 Mio. Einwohner), Dschalalabad (mehr als 350.000) und Herat (über 800.000) sind die Menschen täglich in Gefahr, Selbstmordattentaten und Entführungen zum Opfer zu fallen. Der Verkehr außerhalb der Städte ist sehr riskant. Neben diversen Taliban-Fraktionen kämpfen zahlreiche andere bewaffnete Gruppen gegen den Staat, teilweise auch miteinander. In den ländlichen Gebieten hat sich die Unsicherheit nach der strategisch motivierten (Wieder-) Aufrüstung vormals entwaffneter Milizen seit 2009 enorm verschärft. So gibt es beispielsweise aus verschiedenen Provinzen, u.a. Baghlan, Berichte, dass Angehörige der staatlichen Afghan Local Police (ALP) ihre Waffen und Munition an »Aufständische« verkaufen.

Komplexe Unsicherheitslage

Der geschilderte Grad tatsächlicher und wahrscheinlicher physischer Unsicherheit – insbesondere die quantifizierbaren Faktoren von Unsicherheit, wie die Frequenz und Opferzahlen von Anschlägen, – sind ein harter Indikator dafür, dass Afghanistan kein sicheres Land ist. Zwei Aspekte verstärken diese Einschätzung zusätzlich: zum einen die Volatilität der (Un-) Sicherheitssituation, zum anderen das grundlegende Fehlen rechtstaatlicher Strukturen.

Volatilität der Sicherheitssituation meint, dass die Gewaltdynamiken in Afghanistan grundsätzlich unberechenbar sind und keine Planungsgewissheiten bestehen. Manche Distrikte befinden sich offiziell unter Regierungskontrolle, aber nur, weil Distriktbeamte zwischen 10 und 14 Uhr im Verwaltungsgebäude der Distriktregierung ihrer Tätigkeit nachgehen. Wenn sie allerdings gezwungen sind, ab 14:30 Uhr den Heimweg in die wenige Kilometer entfernte Provinzhauptstadt anzutreten, weil sie sonst Gefahr laufen, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, scheint die Einstufung »unter Regierungskontrolle« höchst fragwürdig. Regional verschieben sich zudem Einflussbereiche auch ad hoc und in nicht vorhersehbarer Weise, zum Beispiel wenn Taliban-Anhänger in ein Gebiet vordringen und im Namen ihrer Gruppe gewaltsam Steuern erheben, aber auch dann, wenn – wie unter Vize-Präsident Dostum in Farjab – regierungsloyale Fraktionen und afghanische Sicherheitskräfte Militäroperationen gegen regierungsfeindliche bewaffnete Gruppen unternehmen. Für Letzteres belegen die Statistiken steigende zivile Opferzahlen (UNAMA 2016).

Der Grad der Verwobenheit von Regierungsvertretern und Beamten mit kriminellen Netzwerken, korrupten Praktiken und wenig durchsetzungsfähigen Justizorganen bedingt zudem, dass die Bevölkerung bislang kaum Vertrauen in rechtstaatliche Institutionen aufbauen konnte. Solange derjenige mit den umfangreicheren Machtressourcen (Geld, Waffen, Gefolgschaft, traditioneller Status) Rechtsprechungsinstitutionen (ob Ältestenräte auf lokaler Gemeindeebene oder staatlich benannte Richter und Gerichte) zu seinen Gunsten beeinflussen kann, regiert das »Recht des Stärkeren«, und Diskriminierung und Verfolgung der Schwächeren sind an der Tagesordnung.

Die afghanische Regierung ist in dem Dilemma, dass sie ihrer Bevölkerung und zurückkehrenden Flüchtlingen trotz gegenteiliger Proklamationen weder physische Sicherheit noch Rechtssicherheit garantieren kann. Häufig sind Regierungspraktiken, insbesondere das Handeln von Regierungsvertretern (Ministern, Angehörigen der Streitkräfte, Verwaltungsbeamten auf subnationaler Ebene, Parlamentsabgeordneten) eine wesentliche Ursache der Unsicherheit oder tragen maßgeblich dazu bei. Zum Beispiel unterhalten einzelne Parlamentsabgeordnete private Milizen, die je nach Interessenslage auch gegen öffentliche Interessen und staatliche Politik ausgespielt werden. Diese Sachlage verschärft das Legitimationsdefizit der afghanischen Regierung zusätzlich und demonstriert, wie hochkomplex die Unsicherheitslage ist.

Fluchtursache fehlgeschlagene Intervention

Die internationale Gemeinschaft trägt Mitverantwortung für die gegenwärtige Situation in Afghanistan. Dies wird in drei Bereichen besonders deutlich:

  • Erstens haben Militär und zivile Interventen die Wahl ihrer Partner nicht ausreichend hinterfragt. Dies zeigte sich zum Beispiel auf nationaler Ebene in der bedenkenlosen Unterstützung der Nordallianzfraktion, die mit Schützenhilfe der USA im November 2001 Kabul einnehmen konnte und der die Ausrichter der kurz danach durchgeführten Petersberg-Konferenz die Besetzung von Schlüsselpositionen im Zuge der Regierungsneubildung ermöglichten. Parallel erfolgte der Ausschluss der Verliererfraktion, der Taliban, von den Friedensverhandlungen. In den Folgejahren wurden »die Taliban« zum Feindbild Nummer Eins stilisiert, nachdem die internationalen Truppen Osama bin Ladens, dem Drahtzieher hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht habhaft werden konnten. Die daraus abgeleitete systematische Delegitimierung der Taliban als abzulehnend und zu bekämpfend (Schetter und Mielke 2016) erfolgte parallel zu einer tendenziösen Gleichsetzung von Paschtunen – einer Ethnie – mit Taliban, wodurch vorhandene anti-paschtunische Tendenzen in der afghanischen Bevölkerung weiter Aufwind erfuhren. Seitens der Paschtunen hat dies wiederum zu Ablehnung und Radikalisierung geführt. So lässt sich beispielsweise in etlichen Regionen der Provinz Kundus beobachten, dass ein wichtiger Grund für den erneut zunehmenden Einfluss von Taliban in der systematischen Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen bei der Verteilung von Ressourcen durch die Nordallianz-dominierte Provinzregierung besteht. Die gegenwärtige Stärke von Taliban speist sich in beträchtlichem Maß aus dem Zulauf von Männern verschiedener ethnischer Herkunft (zunehmend Nicht-Paschtunen), die sich von der Unterstützung der Taliban versprechen, ihre Interessen und Teilhabeansprüche besser durchsetzen zu können.
  • Zweitens war die Entscheidung folgenreich, ab 2009 den Ausbau staatsnaher paramilitärischer Verbände (direkt) und privater Milizen (indirekt) zu fördern, nachdem in den Jahren zuvor umfangreiche Bemühungen für eine Demobilisierung potenzieller Kämpfer stattgefunden hatte und deren Waffen eingesammelt worden waren.
  • Drittens führten der Wiederaufbau sowie die Ausrichtung der Wirtschaft und des Beschäftigungssektors, die sich einseitig an den Bedürfnissen der Interventen orientierten, dazu, dass ab Mitte 2013 schon die bloße Ankündigung des Abzugs der westlichen Truppen zum Jahresende 2014 zu einem Einbruch der Wirtschaft führte. Dieser ökonomische Schock konnte bis heute weder durch lokale Nachfrage noch durch einen an lokalen Bedarfen orientierten Umbau des Beschäftigungssektors aufgefangen werden (Mielke und Grawert 2016).

Ausblick

Die Interventionspolitik der internationalen Gemeinschaft trug maßgeblich dazu bei, dass breite Bevölkerungsschichten nach 2001 nicht in den Genuss einer »Friedensdividende« kamen. Die genannten drei Faktoren verstärken die desolaten sozioökonomischen Indikatoren, die Afghanistan nach 15 Jahren Wiederaufbau aufweist: Die Armut steigt, mehr als ein Drittel der Bevölkerung kann sich nicht ausreichend ernähren, die soziale und Einkommensungleichheit ist seit 2001 stetig gewachsen.

Die afghanische Regierung ist in der gegenwärtigen Situation nicht in der Lage, Anreize zum Bleiben zu schaffen, also die Aussicht zu erhöhen, dass ein Verbleib in Afghanistan eine genauso aussichtsreiche und valide Option zur Lebensgestaltung bietet wie die Abwanderung ins Ausland. Zwar beharrt die afghanische Regierung im Rahmen ihrer Strategie für breitere Eigenständigkeit (Reformprogramm »Realizing Self-Reliance«) auf der Absorptions- und Integrationsfähigkeit aller afghanischen Flüchtlinge, de facto verfügt sie aber nicht über die Durchsetzungskraft (Kapazität und Willen), Bevölkerung und Rückkehrer*innen ausreichend Schutz und Sicherheit zu bieten, inklusive der Wahrung ihrer Persönlichkeits- und Menschenrechte, Schutz vor interner Vertreibung und Zukunftsperspektiven.

Bei der jährlichen Meinungsumfrage der Asia Foundation in Afghanistan gaben 52 % der befragten Afghan*innen 2016 an, dass sie Afghanistan verlassen würden, um eine Beschäftigung zu finden, wenn sie könnten (Burbridge et al. 2016). Gleichzeitig war Unsicherheit der meistgenannte Grund für Pessimismus (49 % der Befragten), noch vor Arbeitslosigkeit und schlechter Wirtschaftslage (38 %).

Aus dem Befund, dass nach 15 Jahren ziviler und militärischer Intervention die Schaffung menschengerechter Lebensverhältnisse in Afghanistan nicht erreicht wurde, leitet sich eine internationale Verantwortung für die würdevolle Aufnahme und Betreuung der geflüchteten Afghan*innen in Deutschland, Europa und weltweit ab.

Anmerkungen

1) Die Zahl 4,8 Millionen bezieht sich auf den offiziellen Stand Ende 2015 (UNHCR 2016). Es gibt keine vergleichbaren neueren Angaben; UNHCR aktualisiert die Statistiken jeweils zum Juni des laufenden Jahres (zum Weltflüchtlingstag am 20.6.). Allerdings ist davon auszugehen, dass die Zahl in etwa unverändert ist, denn die Zahl der Geflüchteten im Jahresverlauf 2016 muss mit der Zahl der (zum großen Teil de facto unfreiwillig) Repatriierten aus Pakistan (511.762 bis 20.11.16) und Deportierten aus Iran (406.022 bis 20.11.16) aufgerechnet werden.

2) Addiert man zu den 1,7 Millionen Binnenvertriebenen die Zahl der 2016 Repatriierten und Deportieren (= 1.023.840 Personen, siehe Endnote 1), die vermutlich zum großen Teil ebenfalls kein Zuhause haben, in das sie zurückkehren können, so muss von einer Zahl von bis zu 2,7 Millionen Entwurzelten innerhalb der Grenzen Afghanistans ausgegangen werden.

Literatur

Burbridge, H. et al. (2016): A survey of the Afghan people – Afghanistan in 2016. Washington, D.C.: Asia Foundation.

Amnesty International (2016): My children will die this winter – Afghanistan’s broken promise to the displaced. London: Amnesty International.

Mielke, K. und Grawert, E. (2016): Warum ­Afghanistan kein sicheres Herkunftsland ist. BICC Policy Brief 1/2016. Bonn: Internationales Konversionszentrum Bonn (BICC).

Roggio, B. (2016): Analysis – US military assessment of Taliban control of Afghan districts is flawed. Long War Journal, 2.11.16.

Schetter, C. und Mielke, K. (2016): Was von Kundus bleibt – Intervention, Gewalt und soziale Ordnung. Politische Vierteljahresschrift 57(4), S. 614-642.

Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction/SIGAR (2017): High Risk List 2017. Arlington/Virginia, January 11. 2017. SIGAR ist eine Einrichtung der US-Regierung.

United Nations Assistance Mission in Afghanistan/UNAMA (2016): Afghanistan – Protection of civilians in armed conflict. Annual Report 2016. Kabul, February 2017.

United Nations High Commissioner for Refugees/UNHCR (2016): Global trends. Forced displacement in 2015. Geneva.

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs/UN OCHA (2016): Afghanistan: Conflict induced displacements (as of 27 November 2016).

Katja Mielke, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC) und beschäftigt sich seit 2005 intensiv mit Afghanistan.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/2 Flucht und Konflikt, Seite 11–13