Folgen der Atomkatastrophe für Mensch und Natur
Symposium »10 Jahre Leben mit Fukushima«, IPPNW, Berlin, 27. Februar 2021
von Dr. med. Alex Rosen
Am 11. März 2021 jährte sich die Atomkatastrophe von Fukushima zum 10. Mal. Anlässlich des Jahrestages stellte die Organisation »Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) auf ihrem Symposium »10 Jahre Leben mit Fukushima« die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Folgen dieser Katastrophe für Mensch und Natur vor. Der Fokus lag insbesondere auf den physischen gesundheitlichen Auswirkungen, wie steigenden Krebsraten und genetischen Effekten, aber auch psychosoziale Aspekte wurden eingehend beleuchtet. Fachvorträge über Flora und Fauna der Region rundeten das Bild ab. Die Mediziner*innen der IPPNW sandten mit Ihrer Fachtagung ein klares Signal an die japanische Regierung: Unabhängige, wissenschaftliche Forschung darf nicht länger unterbunden werden, sondern muss im Sinne der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt in der Region effektiv gefördert werden.
Die Auswirkungen der Atomkatastrophe auf die menschliche Gesundheit werden in Japan, aber auch weltweit, heruntergespielt. Institutionen wie die »Internationale Atomenergie Organisation« (IAEO) oder der vielzitierte »Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung« (UNSCEAR) behaupten regelmäßig, es gäbe keine nachweisbaren gesundheitlichen Folgen des Super-GAUs von 2011 – eine grobe Falschauslegung der Studien, wie das Symposium unter Beweis stellte. Als Hintergrund ist zu vermuten: Beide Organisationen werden von den Regierungen Atomenergie produzierender Staaten personell besetzt – hauptsächlich mit ehemaligen Beschäftigten nationaler Atomunternehmen oder Mitgliedern industrienaher Aufsichtsbehörden.
Insbesondere Schilddrüsenkrebsstudien werden von diesen Institutionen bewusst verzerrt dargestellt, wie ich in meinem Fachvortrag »Krebserkrankungen in Fukushima am Beispiel von Schilddrüsenkrebs« verdeutlichen konnte. Die atomfreundliche Regierung Japans spielt die Folgen der Katastrophe für Mensch und Umwelt herunter. Das zeigt auch die von mir analysierte Studie der Fukushima Medical University (FMU) zur Entstehung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in Fukushima.
Eine der meistgefürchteten Spätfolgen von radioaktiver Exposition ist die Entstehung von Krebserkrankungen durch Mutation der DNA. Schilddrüsenkrebs bei Kindern ist zwar nicht die gefährlichste, wohl aber die am einfachsten nachzuweisende Form der strahlenbedingten Krebserkrankung. Zum einen sind die Latenzzeiten bis zur Entstehung eines Krebsgeschwürs mit wenigen Jahren vergleichsweise kurz. Zum anderen ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern eine extrem seltene Krankheit, so dass auch ein geringfügiger Anstieg statistisch signifikant nachzuweisen ist. Entsprechend groß war 2011 der Druck auf die japanischen Behörden, Schilddrüsenkrebszahlen in Fukushima zu untersuchen.
Seit knapp zehn Jahren untersucht die FMU nun in regelmäßigen Abständen die Schilddrüsen von Menschen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs in der Präfektur Fukushima lebten und unter 18 Jahre alt waren. Seit 2011 wurden drei Untersuchungsreihen durchgeführt, die vierte läuft seit 2018.
In der Erstuntersuchung in Fukushima fanden die Forscher*innen 101 bestätigte Krebsfälle, die so aggressiv waren, dass sie operiert werden mussten. Diese unerwartet hohe Zahl ist von der FMU damals mit einem Screening-Effekt erklärt worden: Bei groß angelegten Reihenuntersuchungen würden mehr Krankheitsfälle identifiziert werden, als in derselben Bevölkerung und im selben Zeitraum durch symptomatisch werdende Erkrankungen zu erwarten seien. Das genaue Ausmaß des Screening-Effekts ist unbekannt. In den Folgestudien lässt sich jedoch ausschließen, dass es sich bei den erhöhten Krebsraten um Folgen eines Screening-Effekts handelt, da alle Kinder im Vorfeld untersucht und für krebsfrei befunden wurden. Sie müssen die Krebserkrankung also zwischen den Screening-Untersuchungen entwickelt haben. Die Behauptung, die stark erhöhte Anzahl von Krebsfällen liege daran, dass man mehr Untersuchungen durchgeführt habe, ist damit hinfällig.
Da zudem Teilnehmer*innen der Studie ab dem 25. Geburtstag in eine neu geschaffene Untersuchungskohorte der Über-25-Jährigen übertragen werden und von diesen gerade einmal 8 % an der Studie teilnehmen, dürfte die Dunkelziffer von Schilddrüsenkrebs in der ursprünglichen Untersuchungskohorte deutlich höher liegen. Darüber hinaus wurden elf Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern diagnostiziert, die ebenfalls Teil der Untersuchungskohorte waren. Allerdings fielen ihre Erkrankungen nicht im Rahmen der regulären Screening-Untersuchungen auf, sondern bei Nachuntersuchungen. Diese elf Fälle sind nicht zu den offiziellen Ergebnissen hinzugerechnet worden, obwohl sie identische Tumore zeigten wie die anderen Kinder. Diese offensichtliche Datenmanipulation wurde im Juni 2017 bekannt. Wie viele weitere Fälle seitdem hinzugekommen sind, ist unbekannt.
Fakt ist: allein die Zahl an offiziell bekannten Schilddrüsenkrebsfällen in Fukushima liegt aktuell bei 213 (198 offizielle Fälle aus den Reihenuntersuchungen, 4 Fälle aus der Ü25-Kohorte und 11 Fälle aus Nachuntersuchungen). Interessant wird es aber erst bei einem Vergleich dieser Zahlen mit der japanweiten Neuerkrankungsrate. Die offizielle Neuerkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs bei Kindern unter 25 Jahren in Japan beträgt pro Jahr rund 0,59 auf 100.000. Das bedeutet, dass in der letzten Kohorte von rund 218.000 Kindern circa 1,3 neue Schilddrüsenkrebsfälle pro Jahr zu erwarten wären. Zehn Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe wären es demnach insgesamt knapp 13 Schilddrüsenkrebsfälle. Die tatsächliche Zahl liegt aber mit 213 fast 16fach so hoch.
Erfahrungen aus der Atomkatastrophe von Tschernobyl zeigen zudem: Neben Schilddrüsenkrebs muss auch mit einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet werden, die durch ionisierende Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Ergebnisse der Studien aus Fukushima zeigen dabei ein deutliches Bild: Relativ gesehen treten die meisten Schilddrüsenkrebsfälle in den am schwersten verstrahlten Gebieten auf und zeigen so den Zusammenhang zwischen ionisierender Strahlung durch den Super-GAU und der Entwicklung von Tumorerkrankungen überdeutlich auf. Besonders betroffen sind in Fukushima Kinder, die sich im Jahr der Kernschmelzen noch im Mutterleib befanden.
Die Auswirkungen einer Atomkatastrophe auf die menschliche Gesundheit kurz vor der Geburt ist ein wenig bearbeitetes Thema. Auf dem Symposium thematisierte Dr. rer. nat. Dipl.-Math. Hagen Scherb die perinatalen Folgen ionisierender Strahlung.
Die Zeit der Perinatalität von der 22. Schwangerschaftswoche bis zum siebten Tag nach der Geburt ist nach der Embryonalzeit die vulnerabelste Phase eines menschlichen Lebens. Das ungeborene Kind sei dabei der Radioaktivität, die über die Nabelschnur in seinen Körper gelangt, viel ungeschützter ausgeliefert als ältere Kinder oder gar Erwachsene. Ähnlich wie in der Region um Tschernobyl, seien auch in Fukushima infolge der Atomkatastrophe Effekte in Bezug auf Statistiken über perinatale Krankheitsbilder und Sterblichkeitsraten beobachtet worden. Dabei seien ein mangelndes Geburtsgewicht oder die Frühgeburtlichkeit sowie eine erhöhte Zahl an Totgeburten und ein Ungleichgewicht zwischen den geborenen Geschlechtern besonders auffällig, so Scherb.
Neben den Auswirkungen auf die physische Gesundheit ging es auf dem Symposium auch um die weitreichenden psychosozialen Folgen der Atomkatastrophe. So sei die Rate an Depressionen, Suizidalität und Posttraumatischen Belastungsstörungen in den verstrahlten Gebieten weiterhin erhöht, berichtete Dr. med. Angelika Claußen, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und IPPNW-Europavorsitzende. Mehrere japanische Studien belegten: Es gibt eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß der radioaktiven Belastung am jeweiligen Wohnort in der Präfektur Fukushima und dem psychosozialen Stress, dem die Bevölkerung ausgesetzt war.
Laut Claußen fehle allen Studien jedoch die notwendige Einbettung in eine ganzheitliche Perspektive: Körperliche und psychische Befunde gehörten zusammen betrachtet, Diagnostik und Behandlung müssten Teil ein- und desselben Versorgungsprozesses sein. Fallvignetten, die die schwierige Situation der evakuierten Bevölkerung und der betroffenen Aufräumarbeiter*innen illustrierten, wären sowohl für das medizinische und psychologische Personal als auch für die internationale Fachöffentlichkeit wichtig. Klinische Studien hätten über die psychosozialen Bewältigungsmechanismen einer durch kollektive Strahlenexposition geprägten Gesellschaft Aufschluss geben können. Dies wurde jedoch versäumt, so Dr. Claußen.
Auf der Fachtagung vorgestellte biologische Studien zeigten außerdem, dass die erhöhte Radioaktivität bei Bäumen, Insekten und Vögeln bereits zu Mutationen und verminderten Populationen geführt hat. Auch in wilden Affen und Rindern fanden Forscher*innen erhöhte Strahlenwerte und zahlreiche schwere Krankheiten. Untersuchungen des Meeresbodens wiesen eine anhaltende Verstrahlung von bodennahen Meeresbewohnern nach, während Flüsse kontinuierlich Radioaktivität aus höher gelegenen Regionen in Seen, Buchten und ins Meer beförderten und sich so vor allem an Stränden und entlang der Flussmündungen erhöhte Strahlenwerte nachweisen ließen.
Insgesamt machte das Symposium vor allem eines deutlich: Die Atomkatastrophe von Fukushima ist noch lange nicht verjährt. Die havarierten Reaktoren sind noch immer nicht unter Kontrolle, täglich tritt weiter Radioaktivität aus. Millionen Tonnen radioaktiven Wassers und abgetragener Erde lagern in der Präfektur von Fukushima. Dabei sind die Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und auf die Natur schon jetzt enorm. Die japanische Atomindustrie und ihre Unterstützer*innen in Regierung und Verwaltung waren bislang erfolgreich darin, unabhängige Forschung über die Folgen der atomaren Strahlung, wie im Fall der Schilddrüsenkrebsstudien, zu unterdrücken und Fördergelder durch eine gezielte Platzierung im eigenen Interesse zu nutzen. Dabei wurden sie von den internationalen Atomorganisationen IAEO und UNSCEAR unterstützt. Zu vielen wichtigen Fragestellungen gibt es deshalb bis heute keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die letzten zehn Jahre sind somit auch eine vergebene Chance für die Wissenschaft. Mit ihrem Symposium setzte die IPPNW dem nun etwas entgegen.
Wissenschaftliche Hintergrundinformationen zu allen Themen der Fachtagung sowie die Mitschnitte der Vorträge zum Ansehen finden Sie hier: fukushima-disaster.de/
Dr. med. Alex Rosen