W&F 1991/1

Frieden in Europa – Krise im Baltikum – Krieg am Golf

Fragestellungen aus sozialpsychologischer Sicht

von Hanne-Margret Birckenbach

Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, ging der Satz um die Welt: „Das ist Wahnsinn“. Der gleiche Satz hat heute, im Februar 1991, eine ganz andere Bedeutung. Aus dem von den Regierungen vertretenen Programm »Frieden in Europa« ist beinahe über Nacht die Realität von Bürgerkrieg und Krieg in, mit und durch Europa geworden. Das Wort »Frieden«, das den Gegenstand unserer Disziplin konstituiert, bleibt vielen zur Zeit im Hals stecken. Sie verstehen sich nicht mehr als Teil einer Friedens-, sondern als Teil einer AntiKriegsbewegung. Wie läßt sich am konkreten Fall und aus der Sicht der Politischen Psychologie, in der es um das Wechselverhältnis zwischen der sog. objektiven, äußeren politischen Lage und den subjektiven, inneren Stimmungslagen geht, die von E. Krippendorff aufgeworfene Frage beantworten: Warum hat sich die »Logik der Unvernunft« durchsetzen können?

Systematische Forschungsergebnisse zu dieser konkreten Fragestellung gibt es noch nicht. Aber bezugnehmend auf grundlegende Arbeiten aus der Politischen Psychologie des Friedens läßt sich die Hypothese aufstellen: Die »Logik der Unvernunft« konnte sich wider den erklärten Friedenswillen der meisten beteiligten Regierungen durchsetzen, weil die Zivilisierung des Ost-West-Konfliktes nicht gelungen und stattdessen ein wechselseitig eskalierendes Zusammenspiel von Ängsten entstanden ist, die aus ganz verschiedenen Quellen gespeist werden. Diese Angstdynamik hat vernünftiges Handeln blockiert.

Theoretische Bezugspunkte meiner Hypothese sind Arbeiten aus der Friedensforschung, die in den vergangenen AFK-Kolloquien diskutiert und in den von der AFK herausgegebenen bzw. in Zusammenarbeit mit ihr enstandenen Schriften gut dokumentiert sind. Es handelt sich um Arbeiten über das Wesen des Ost-West-Konfliktes1, die Zivilisierung Internationaler Beziehungen2 und die Entwicklung von Angstdynamik3.

Statt Zivilisierung Verlust des Ost-West-Schemas

Die Kriegsereignisse am Golf und der Unfrieden in Europa sind Glieder in einer Kette von Ereignissen, deren Interpretation im einzelnen strittig ist, die sich aber alle auf die Veränderungen des Ost-West-Konflikts beziehen lassen. Diesen hatten wir als Ideologiekonflikt (um global konkurrierende Ordnungs- und Wertvorstellungen mit Alleinvertretungstendenz), als Machtkonflikt (um Ausbeutungsobjekte, vorteilhafte Austauschbeziehungen und politische Einflußbereiche) und als Herrschaftskonflikt (zur innen- und bündnispolitischen Legitimation von Abhängigkeit) mit regional und global sinnstiftender Metafunktion analysiert.4 Aus diesen Funktionen ergab sich die Ambivalenz des Konflikts. Einerseits behinderte er gemeinsame Problemlösungen und beinhaltete die Gefahr des Krieges. Andererseits diente er der Befriedung Europas und der Einbindung Deutschlands.

Was immer aus dem Ost-West-Konflikt geworden ist – als sinnstiftendes Beziehungsmuster hat er aufgehört zu existieren. Mancher sehnt sich nun zu ihm zurück. Denn mit dem Ende der Möglichkeiten, das politische Geschehen im Rahmen des Ost-West-Schemas zu interpretieren und die persönliche wie kollektive Identität mit Hilfe der Haltung zum realen Sozialismus zu definieren, ist ein nahezu universell angewandtes Orientierungsraster verloren gegangen, ohne daß es durch ein anderes ersetzt worden wäre. Dieser Verlust tangiert nicht nur die große Politik sondern auch den gesellschaftlichen Alltag.5

Der Sturz des Ost-West-Schemas war überfällig und die Friedensforschung hat dazu beigetragen, daß seine Legitimationswürdigkeit und Akzeptanz begründet in Zweifel gezogen werden konnte. Nicht oder nur wenig erfolgreich waren wir jedoch – trotz intensiver Arbeiten zum Thema der sicherheits- und friedenspolitischen Alternativen – was die Gestaltung der Zukunft angeht. Das Ost-West-Schema ist nicht gestürzt, weil beide Seiten oder jedenfalls eine auf einer neuen Stufe friedenspolitischer Einsicht angekommen wäre, sondern weil die eine Seite nicht mehr in der Lage war, sich am Spiel zu beteiligen. Die für den Ost-West-Konflikt wesentlichen Konfliktinhalte – Ideologie, Macht und Herrschaft – sind jedenfalls nicht in der von den FriedensforscherInnen vorgestellten Weise zivilisiert worden. Dies hätte ein Ausscheiden physischer Gewaltandrohung aus dem Repertoire internationaler Politik und neue Institutionen, in denen Konflikte verhandel- und aushandelbar gemacht worden wären, verlangt. Ebenso wäre die Ausbildung von subjektiven und objektiven Kompetenzen notwendig gewesen, um Interessen ausgleichen und Verständigung verwirklichen zu können.

Statt einer Zivilisierung hat eine Verrohung6 der internationalen Politik stattgefunden. Nach meinem Eindruck begann diese Tendenz zur Entzivilisierung nicht erst mit der Eskalationspolitik nach der irakischen Annexion Kuwaits, sondern parallel zur Friedenseuphorie mit der Interpretation der Zusammenbrüche im Osten in den Kategorien von Sieg und Niederlage.

Zur Dynamik ratlos gewordener Angst

Weil Macht-, Herrschafts- und Ideologieansprüche nicht zivilisiert wurden und die Veränderungen im Ost-West-Konflikt nur sehr schwer in die persönliche und kollektive Identität der beteiligten Gruppen und Nationen integriert werden konnte, hat sich nicht nur in Ost-, sondern auch in West-Europa sowie global eine innergesellschaftliche und internationale Angstdynamik entwickelt. Sie hat – an den jeweiligen Orten in verschiedener Weise – Ohnmachtshaltungen gegenüber der Kriegslogik gefördert, einen Druck zur Gewalt erzeugt sowie die Bereitschaft zum Krieg entstehen lassen. Denn der Krieg hat ein doppeltes Gesicht. Er ist einerseits angsterregend, andererseits selber auch ein Mittel, um den »Gefühlsstau« zu entladen, Ängste zu kanalisieren oder zu beschwichtigen und damit beherrschbar zu machen.

Um erklären zu können, wie eine solche politisch wirksame Angstdynamik entsteht, unterscheiden wir idealtypisch, was in der Realität in der Regel vermischt ist, nämlich die lebenswichtige und rational überprüfbare »Realangst« und die lebensbedrohliche Angst, die Klaus Horn »ratlose« Angst genannt hat. Sie liegt vor, wenn es Menschen nicht mehr gelingt, ihre Angstgefühle und ihre Strategien der Gefahrenbewältigung in Übereinstimmung zu bringen. Klaus Horn hat gesagt, es sei eine Angst, die „vor Schreck verdrängt, wovor sie sich fürchten müßte.7 Sie kann vor den wirklichen Gefahrenquellen nicht schützen, sucht Ersatzobjekte und bewirkt unüberlegte Reaktionen, bei denen Aggressivität nicht mehr kontrolliert werden kann. Eine für die Entwicklung friedensfähiger Subjektivität unabdingbar im Sozialisationsprozeß von jedem Individuum mehr oder weniger erfolgreich erworbene Kompetenz wird auf diese Weise außer Kraft gesetzt.8

Zu dieser ratlosen Angst kommt es in politischen Konstellationen, in denen es Individuen, Gruppen oder nationalen Kollektiven nicht (mehr) gelingt, das wachsende Spannungsverhältnis zwischen politisch-sozialer Außenwelt und den eigenen Wünschen auszuhalten und in eine zeitgemäße Identität zu integrieren. Dieses Problem haben wir – so Klaus Horn – besonders dann, wenn in gesellschaftlichen Krisen Menschen so tun müssen, als gäbe es nichts, was sie beunruhigen könne, wenn niemand so recht weiß, wie mit dem entstandenen Problemdruck umzugehen sei, man verlegen die Augen verschließt und wenn man der steigenden Anspannung mit konservativer Starrheit begegnet. Realangst wird dann durch angststeigernde Ohnmachtsgefühle überlagert. Sie drängen dazu, Pseudoerklärungen, Feindbilder und andere Phantasmen zu akzeptieren und endlich in einer Erlösungsreaktion irgendwie befreiend zu handeln.9 Diese Dynamik gilt als die massenpsychologische Quelle des deutschen Faschismus.

Vor der Mobilisierung solcher Angst – sei es in Gestalt regierungsamtlicher Beschwörung der Gefahr aus dem Osten, sei es in Form alarmistischer Gefahrenanalyse aus friedenspolitisch motivierten Gruppen, derzufolge ein Krieg in Europa unmittelbar bevorstehe – haben FriedensforscherInnen immer wieder gewarnt. Gerade weil es zu einem unbeabsichtigten Zusammenspiel von BefürworterInnen und GegnerInnen der Aufrüstung im Umgang mit der Angst kommen kann, haben FriedensforscherInnen während und im Gefolge der Stationierung von Mittelstreckenraketen Friedensgruppen darin beraten, ihre Diskussionszusammenhänge intellektuell und emotional so zu gestalten, daß sie die Chance eröffnen, sich der eigenen Ängste anzunehmen, ohne ihnen zu erliegen, also Ängste und Strategien zur Gefahrenbewältigung auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen.10

Vor diesem Hintergrund friedensforscherischen Wissens wäre es m.E. lohnend, die jüngste Entwicklung genauer zu prüfen. Ich kann meine Beobachtungen, die nahelegen, daß es dabei (auch) um eine solche Angstdynamik geht, hier nur in groben Stichworten darlegen und in den von Klaus Horn geprägten Kategorien beschreiben, wie es zum emotionalen Spannungsaufbau und zu seiner politisch kriegerischen Verarbeitung gekommen sein könnte. Dies ersetzt allerdings nicht eine detaillierte Untersuchung. Diese müßte zum einen die behaupteten psychosozialen Verknüpfungen von Innen- und Außenpolitik für jedes Land getrennt aufarbeiten, um die internationale Angstdynamik empirisch erfassen zu können. Zum anderen müßte eine solche Untersuchung auch den politischen Gegenbewegungen gerecht werden. Warum sie sich nicht durchsetzen konnten und welche Chancen bestehen, daß sie langfristig doch noch wirken, ist für uns besonders interessant. Dennoch gehe ich auf diese Frage nicht weiter ein, denn die Einschätzung solcher Gegenbewegungen verlangt (vor allem wegen der oben erwähnten Möglichkeit eines emotionalen Zusammenspiels der Protestierenden mit denen, gegen die sie protestieren) eine sehr komplexe Analyse, die ich hier noch nicht zu leisten vermag. Das Defizit ist damit offen benannt.

Spannungsaufbau 1989/90

Sehr viele Menschen haben die deutsche, europäische und weltpolitische Entwicklung in den beiden letzten Jahren in unterschiedlicher Weise und je nach gesellschaftlichem Kontext als eine Krisensituation empfunden, in der sie keine ausreichenden Möglichkeiten fanden, ihre Ängste zur Sprache zu bringen und zu klären. Die Umbrüche in der Sowjetunion, in Osteuropa und Deutschland wurden von vielen Betroffenen als eine materielle und psychische Bedrohung erlebt. Bezugnehmend auf die Nationalitätenkonflikte in Osteuropa hat Eva Senghaas-Knobloch darauf hingewiesen, daß in ihnen Identitätskonflikte sichtbar werden, die erst in Interessenkonflikte umgewandelt werden müssen, bevor sie demokratisch gelöst werden können.11

Identitätskonflikte lassen sich aber nicht nur in Osteuropa, sondern, in je eigener Weise, auch in Westeuropa und anderen Regionen beobachten. Nachrichten aus der Sowjetunion und ihren Republiken über die politische Instabilität, Spekulationen über einen bevorstehenden Sturz des Hoffnungträgers Gorbatschow und Befürchtungen über eine Machtübernahme durch das sowjetische Militär bestärkten auch im Westen täglich das Gefühl, die Entwicklung in der Sowjetunion und damit auch die internationalen Beziehungen – wenn nicht das politische Geschehen generell – seien längst der politischen Kontrolle entglitten. Im In- und Ausland entstanden quer zu allen politischen Strömungen und parallel zu Fortschrittsphantasien und Friedensplänen, Zweifel an den Fähigkeiten, die politischen Veränderungen gestaltend zu beeinflussen.

Zwar hat das Stichwort »Demokratisierung«, mit dem die Reformen in Osteuropa zunächst bezeichnet wurden, anfangs zumindest für die politischen Eliten und die Intelligenz in Ost und West eine sinnstiftende Rolle erfüllt. Aber um diesen gemeinsamen Begriff ist es längst merkwürdig ruhig geworden. Parallel zur Ausbildung eines Parteienspektrums kam es – gefördert durch den Verfall sozialer und ökonomischer Grundlagen einer demokratischen Entwicklung – in Osteuropa auch zu antidemokratischen Entwicklungen. Der gewachsene Antisemitismus ist dafür ein sicheres Zeichen. Wenn die Relationen unvergleichlich sind, so muß jedoch auch darauf hingewiesen werden, daß die Mitte der 80er Jahre so nachdrücklich vertretenen Demokratisierungsansprüche auch in westlichen Gesellschaften verklungen sind. Das Verschwinden der Grünen aus dem Deutschen Bundestag wurde selbst von AnhängerInnen der dort verbliebenen Parteien als Verlust für die Demokratie empfunden und das schlechte Abschneiden der Bürgerbewegungen in der ehemaliegen DDR bei den vier Wahlentscheidungen 1990 machte sichtbar, wie die Substanz demokratischer Willensbildung unter dem Druck von Mehrheitsentscheidungen leiden kann.

Debatten um das Ob und Wie der deutschen Einheit fanden zwar in der Intelligenz statt, konnten aber als kritische Impulse nicht politisch wirksam werden. Sie wurden in Einheitsbeschwörungen erstickt, obwohl die Teilung jahrzehntelang als Sicherheitsfaktor erster Ordnung (gegenüber dem Systemgegner ebenso wie gegenüber Deutschland) gegolten hatte.

Nicht nur in Deutschland entstand Unruhe über „die Deutschen“, sondern auch im Ausland. Bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war ja gerade überraschend, wie wenig die vorhandenen Vorbehalte gegenüber der Entwicklung sich artikulieren und durchsetzen konnten. Das wurde sehr schnell als Resultat vernünftiger Argumentation verklärt. Übersehen wurde dabei, daß ein rationales Abwägen – wie es einige FriedensforscherInnen eher nachträglich als vorbereitend versucht haben – eben nicht vorausgegangen war. Den »zu spät vorgetragenen Argumenten« fehlte es dann an Glaubwürdigkeit; sie erschienen häufig nicht mehr als das Ergebnis von Analyse, sondern von Anpassung. Das in den europäischen Nachbarstaaten verbreitete Unbehagen über den Aufstieg Deutschlands war bei den Verhandlungen nicht in einem deutschland- und europapolitischen Plan integriert, sondern weitestgehend vom Verhandlungsthema abgespalten und der Öffentlichkeit zur freien Assoziation überlassen worden. So hätte es nahegelegen, frühzeitig danach zu fragen, was sich aus den Vorbehalten gegenüber den Deutschen an politischen Rechtfertigungsstrategien entwickeln könnte. Abgesehen von der Reflexion der deutsch-polnischen Ressentiments unterblieben solche Fragen – auch seitens der FriedensforscherInnen. Mich wundert es heute nicht, daß der Vergleich Saddam Husseins mit Hitler zu einem politikleitenden Interpretations- und Rechtfertigungsmuster während des Golfkrieges wurde. Dieser Vergleich brachte das kritische Deutschland zum Schweigen und setzte die deutsche Regierung unter Zahlungsdruck; es verhalf der kriegführenden Allianz zum Glanz der Erinnerung an historische Größe und diente den arabischen Kritikern der Allianz dazu, ihre antiisraelischen Einstellungen zu immunisieren, indem sie die Deutschen immer wieder dafür entschuldigten, daß sie eine Anklage gegen Israel nicht unterstützen mochten.

Auch wenn das erforderliche Wissen über die konkreten Verbindungen von gesellschaftlich empfundenen Ängsten mit der Politik der Regierungen bislang nur bruchstückhaft vorliegt, gibt es doch schon jetzt zahlreiche Hinweise, die zu dem allgemeinen Befund hinführen: Nahezu überall hatte sich im »Vorkrieg« ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und des Betrogenseins verbreitet. In Großbritannien z.B. verband sich die Unruhe über die deutsch-europäische Entwicklung mit Enttäuschung und Wut über massenhaft erfahrenen sozialen Abstieg infolge der ökonomischen Krise. Für die USA hat der Psychohistoriker Lloyd de Mause den Zustand der »Kriegs-Trance« als eine rituelle Opferreaktion erklärt. Mit ihr versucht eine puritanisch geprägte Nation sich von Schuldgefühlen zu reinigen, die periodisch aus der Furcht vor einem Übermaß an Wunschbefriedigung (vor »Fortschritt, Prosperität, Sex und Feminismus«) entstehen.12 Feministische Friedensforscherinnen haben auf die Kriegsbereitschaft als Gegenbewegung zur Krise patriarchaler Geschlechterverhältnisse aufmerksam gemacht.13

Auch in der Dritten Welt bzw. in der Dritte-Welt-Diskussion machten sich Befürchtungen breit, die Ost-West-Veränderungen könnten zur Verschlechterung der schlechten Situation bei Entwicklungshilfe, Kapitaltransfers, Handel, Ordnungspolitik und Friedenspolitik beitragen.14 In der arabischen Region, so wurde schon im Frühjahr 1990 sichtbar, drängte nicht nur Saddam Hussein zu irrationalen Ersatzhandlungen, sondern ein in weiten Kreisen empfundenes Gefühl einer »arabischen Ohnmacht«, das sich angesichts des Wegfalls der Sowjetunion als Gegengewicht zur amerikanischen Nah-Ost-Politik, angesichts der Unfähigigkeit der Region, sich in und über die Zukunft von Israelis und Palästinensern zu verständigen, und angesichts der Verarmung in Jordanien und Ägypten ausgebreitet hatte.15

In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre hatte die Besetzung Kuwaits am 2. August 1990 und das Ultimatum des UN-Sicherheitsrates an den Irak vom 29. November 1990 mit seiner Fristsetzung, bis 15. Januar 1991 Kuwait zu räumen, eine psychosoziale Bedeutung jenseits des militärischen und politischen Anlasses. Diese Ereignisse trugen dazu bei, die »ratlose Angst« in einen zunehmenden Druck auf die Verantwortlichen zu überführen, Macht auszuüben, Entscheidungen zu treffen, die es erlauben würden, das jeweils »Böse« mit Gewalt zu bekämpfen. Wie immer diese Mechanismen der wechselseitigen Übersetzung von Stimmungslagen und politischen Entscheidungen im Detail beschrieben werden können: die in ihren fatalen Wirkungen vielfach und gerade in der Auseinandersetzung mit dem Abschreckungsdenken analysierte Politik der Selbstbindung, die es so schwierig macht, sich aus der Spirale von Selbstverpflichtungen gerade dann zu lösen, wenn befriedigende Ergebnisse nicht mehr zu erwarten sind, gewann die Oberhand. Antizipatorisches Denken und Realitätsprüfung waren auf der außenpolitischen Ebene mehr und mehr beeinträchtigt. Der Ausbruch eines Krieges wurde einkalkuliert, gerechtfertigt und toleriert. Man machte Glauben, ein militärischer Schlag würde genügen, um die zu einem einzigen Problemfall (Saddam hält Kuwait besetzt) zusammengezogene Problemfülle zu lösen, und übersah die Warnung, daß der Schlag weitere provozieren werde. Die politische Sprache entdifferenzierte sich, Männerjargon griff bei den Hauptkontrahenten in einer Weise um sich, die erneut belegte, daß in Zeiten militärischer Konfrontation die politischen Kulturen der Kontrahenten sich ähnlich werden.

Gebannt schaute die deutsche Fernsehnation zu, wie die Chancen auf Frieden systematisch verbaut wurden – bis es dann »geschafft« war und die (meist unbewußten) Wünsche nach spannungslösender Aktion in Erfüllung gingen. Dann erst löste sich die allgemeine Lähmung und die Geister schieden sich an der Frage, ob – wie der französische Außenminister am 15. Januar formulierte – der Pazifismus nun weichen muß und mit ihm der von allen europäischen Regierungen noch 1990 versprochene Wille zur Abschaffung des Krieges – oder ob es gelingt, den Pazifismus zumindest in der politischen Kultur Europas fest zu verankern. Protestierenden SchülerInnen auf der Straße versuchten ihre sprachlosen LehrerInnen zu mobilisieren und verstanden nicht, in welche Zerreißprobe die politische Opposition in der BRD geraten war.

Die Macht der FriedensforscherInnen

Es gibt Kräfte, die weiterhin auf die gerade in der Arbeiterbewegung verankerte Strategie »Krieg dem Kriege« drängen. Sie haben Angst. In ihrer stimmungsmäßigen Unruhe gleichen sie denjenigen, die auf die friedliche Abschaffung des Krieges setzen. Kollektive Angstverarbeitung kann aber nur eine von den Kriterien Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit und Integration geleitete Richtung nehmen, sofern es umfassend gelingt, die entstandenen Ohnmachtsgefühle zurückzudrängen und Perspektiven zu entwickeln, die aufzeigen, wie Ideologie, Macht und Herrschaftskonflikte zivilisiert werden können.

Der Erfolg von Friedensbewegung und Friedenspolitik wird davon abhängen, ob es gelingt, die nicht unmittelbar vom Golf-Krieg verursachten, aber nun an ihn fixierten »ratlosen Ängste« im In- und Ausland explizit in die Friedensdiskussion einzubeziehen. Sonst verstellen sie weiterhin den Blick auf politische Lösungen; sonst kann die aktuelle Erregung nicht in politischen Dialog überführt werden; sonst wird Herrschaftskultur nicht durch Verständigungskultur abgelöst; sonst können SympathisantInnen und auch OpponentInnen nicht zu MitstreiterInnen werden.

Im Thema dieses Kolloquiums „Zur aktuellen Funktion von Friedensforschung“ wird gefragt: „Ist Wissen Macht?“ Ich möchte auf der Basis der hier vorgetragenen Skizze zu den sozialpsychologischen Grundlagen der »Logik der Unvernunft« mit fünf Vorschlägen auf die etwas veränderte Frage antworten: Was kann Friedensforschung mit den ihr eigenen Mitteln tun, um die Angstdynamik einzufangen?

  1. Wir sollten unser eigenes, in umfangreichen Analysen erarbeitetes Wissen ernster nehmen und deutlicher machen, daß die Transformation von Macht, Herrschaft und Ideologien in friedenspolitischer Absicht auch hierzulande viel stärker eine sozialpsychologische Frage ist, als Politik und Wissenschaftspolitik zugeben.
  2. Es gibt kritische Friedensforschung auch jenseits der »Kritischen Theorie«. Aber es gibt sie nicht ohne das methodische Prinzip der Reflexivität im Hinblick auf die Gefühlslagen der forschenden WissenschaftlerInnen. Wenn wir uns darüber nicht Rechenschaft ablegen, jubeln wir sie beinahe zwangsläufig anderen unter, weil wir alle, so sachlich wir uns auch gebärden, persönlich in diese sozialpsychologischen Aspekte der politischen Veränderungen verstrickt sind. Die durch den Golf-Krieg sichtbar gewordene Verunsicherung der Intelligenz über ihr Verhältnis zur kriegerischen Gewalt und die nun provozierten Kontroversen finden sich auch in der Friedensforschung, die Gegenbewegung zur Irrationalität in der Politik zu sein, beansprucht. Unser Umgang mit dieser Kontroverse wird anzeigen, welche transformierende Kraft der Friedensforschung innewohnt oder ob sie nur Teil des herrschenden Spieles ist.
  3. Laßt uns mit den Versuchen aufhören, Ängste und Emotionen wegzureden. Es kann nicht gelingen, auch nicht, indem man sie diffamiert oder sich von ihnen abgrenzt, wie das in objektivistisch orientierten Analysen immer wieder geschieht. Machen wir es statt dessen zu einem Kriterium wissenschaftlicher Redlichkeit, wenn zugegeben wird, daß auch unsere Analysen von Sicherheitsbedürfnissen und Ängsten durchzogen sind, sei es die Angst ausgegrenzt oder mit dem falschen Lager identifiziert zu werden oder sei es das Gefühl, gegenüber dem Ausmaß von Gewalt doch machtlos zu bleiben.
  4. Auch scheint es mir dringlich, die Arbeitsteilungen in der Friedensforschung neu zu durchdenken und die Neigung zur disziplinären Separation in Sozialpsychologie, Politologie, Ökonomie usw. zugunsten von projektbezogenen Arbeitsbündnissen zu überwinden. Zumindest gelegentlich könnten wir versuchen, die jeweils andere Perspektive einzubeziehen und eine Kollegin oder einen Kollegen bitten, einen z.B. auf ökonomische oder außenpolitische Fragen abstellenden Text auf die unter der Hand in ihn eingegangenen sozialpsychologischen Auffassungen zu prüfen. Häufig entsprechen sie nicht mehr dem Forschungsstand.
  5. Für diejenigen unter uns, die im pädagogischen Bereich arbeiten – und irgendwie tun wir das mit unseren Vorträgen, Rundfunkinterviews alle mehr oder weniger – will ich abschließend ergänzen, daß es mir dringend notwendig erscheint, nicht nur Antikriegsbewegung zu sein und nicht nur auf die Kriegsangst, sondern auch auf deren Verbindungen mit anderen klärungsbedürftigen Ängsten, speziell auf die in Ohnmachtsgefühlen interpretierten Erfahrungen der Machtlosigkeit immer wieder explizit einzugehen. Sonst wird der neue Impuls, der von der aktuellen Antikriegsbewegung ausgeht, versiegen und eine politisch verzweifelte, handlungsunfähige Generation hinterlassen.

Alle fünf Schlußfolgerungen können wir mit unserem Wissen unmittelbar in unserer Praxis umsetzen. Es steht in unser Macht dies zu machen.

Der Artikel ist eine Kurzfassung des Beitrages zum Kolloquium 1991 der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) zum Thema: Ist Wissen Macht? Zur aktuellen Funktion von Friedensforschung

Anmerkungen

1) Vgl. Christiane Rix (Hrsg.), Ost-West-Konflikt Wissen wir, wovon wir sprechen? Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1987. Zurü

2) vgl. Bernhard Moltmann / Eva Senghaas-Knobloch (Hrsg.), Konflikte in der Weltgesellschaft und Friedensstrategien, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens und Konfliktforschung Band XVI, Baden-Baden 1989; Bernhard Moltmann (Hrsg.), Perspektiven der Friedensforschung, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1888; Reiner Steinweg, Christian Wellmann (Red.) Die vergessene Dimension internationaler Konflikte: Subjektivität, Friedensanalysen Band 24, Frankfurt 1990. Zurü

3) vgl. Klaus Horn, Gewalt <196> Aggression <196> Krieg, Studien zu einer psychoanalytisch orientierten Sozialpsychologie des Friedens, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung Band XIII, Baden-Baden 1988. Zurü

4) Vgl. Gert Krell, in: Christiane Rix, a.a.O. (s. Anm. 1). Zurü

5) Vgl. Birgit Volmerg, Ute Volmerg, Thomas Leithäuser, Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnis. Zur Sozialpsychologie des Ost-West-Konflikts im Alltag, Frankfurt 1983. Zurü

6) Zu diesem Begriff in den internationalen Beziehungen vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Subjektivität in der internationalen Politik. Über das Zusammenspiel persönlicher und institutioneller Faktoren der Konfliktverarbeitung, in: Reiner Steinweg/Christian Wellmann (s. Anm. 2), S.33-37. Zurü

7) Klaus Horn, Kriegsangst als politischer Ratgeber. Die Friedensbewegung <196> Sammelbecken erschreckter Betroffenheit oder Teil einer Kulturrevolution? in: Ders. (s. Anm. 3), S.271. Zurü

8) vgl. Hanne-Margret Birckenbach, Weder Fluch noch Segen, Thesen zur Ambivalenz des Zivilisationsprozesses, in: Bernhard Moltmann/Eva Senghaas-Knobloch (s. Anm.2), S.271277. Zurü

9) Vgl. hierzu auch Erich Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht (1937), Gesamtausgabe Band 1, Analytische Sozialpsychologie, München 1989, S. 189-206. Zurü

10) Vgl. z.B. Klaus Horn und Eva Senghaas-Knobloch im Auftrag des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Friedensbewegung <196> Persönliches und Politisches, Frankfurt 1983; Klaus Horn, Volker Rittberger (Hrsg.), Mit Kriegsgefahren leben, Bedrohtsein, Bedrohungsgefühle und Friedenspolitisches Engagement, Opladen 1987, Hanne-Margret Birckenbach, Forschungsaufgaben für eine politische Psychologie Gemeinsamer Sicherheit, in: Egon Bahr/Dieter S. Lutz (Hrsg.) Gemeinsame Sicherheit, Dimensionen und Disziplinen, Baden-Baden 1987, S.235-264 Zurü

11) Eva Senghaas-Knobloch, Zur Bedeutung des subjektiven Faktors in der europäischen Umbruchssituation, in: Dieter Senghaas, Karlheinz Koppe (Hrsg.), Friedensforschung in Deutschland, Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn, 1990, S. 45-51. Zurü

12) LLoyd de Mause, Grundlagen der Psychohistorie, Frankfurt 1989. Zur aktuellen Situation vgl. das in der taz vom 17.1.91 veröffentliche Interview <192>Der Krieg als rituelles Opfer. Der New Yorker Psychohistoriker Lloyd de Mause zur Psychologie des bevorstehenden Golfkrieges.<169> Zurü

13) Astrid Albrecht-Heide, Männliche Friedensunfähigkeit, Kriege als Gegenbewegung zu »Verweichlichung« und »Dekadenz«, in: taz, 23.1.91. Zurü

14) Vgl. Lothar Brock, Die Auflösung des Ost-West-Konflikts und die Zukunft der Nord-Süd-Beziehungen: Befürchtungen und Chancen, in: Jahrbuch Frieden 1991, München 1990, S. 87-97. Zurü

15) Vgl. Arbold Hottinger: Machtverschiebungen in der arabischen Welt. Konfrontations- oder Friedenspolitik gegenüber Israel?, in: Europa-Archiv Heft 13/14 v. 25.7.1990, S.421-427. Zurü

Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1991/1 Nach dem Golfkrieg, Seite