W&F 2021/3

Frieden lernen

Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns

von Marie-Lena Frech

Im Folgenden stellt Marie-Lena Frech einige Grundlagen der psychologischen Verhandlungsführung dar und unterstreicht die Bedeutung dieser Kulturtechnik für das Erlernen und Bewahren von Frieden.

Verhandlungen helfen uns dabei, soziale Konflikte zu lösen. So verhandeln Partner*innen in einer Beziehung beispielsweise über die Aufteilung der Aufgaben im Haushalt, Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen über das Gehalt, Gewerkschaften und Arbeitgeber über Arbeitskonditionen und Nationen über die Aufteilung begrenzter Ressourcen. Die Fähigkeit, Konflikte friedlich zu lösen und eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten, ist demnach eine Grundvoraussetzung für das menschliche Zusammenleben.

Grundsätzlich lassen sich Verhandlungen beschreiben als Diskussionen zwischen zwei oder mehreren Parteien mit dem Ziel, konkurrierende Interessen zu beseitigen, um zu einer Übereinkunft zu kommen und somit soziale Konflikte zu vermeiden (Pruitt und Carnevale 1993, S. 2). Verhandlungsparteien können hierbei Einzelpersonen sein oder auch Gruppen, Organisationen oder Nationen. Durch den Eintritt in die Verhandlung erhoffen sich die Parteien, dass die Konflikte im Sinne ihrer Interessen bezüglich einzelner Verhandlungsgegenstände gelöst werden können. Verhandlungen können dabei einen oder mehrere Verhandlungsgegenstände umfassen.

So verhandelten beispielsweise die Konfliktparteien im Rahmen des Dayton-Friedensvertrags über die Aufteilung Bosniens und Herzegowinas in eine serbische und eine kroatisch-muslimische Teilrepublik. Bei dieser Aufteilung stand die Begrenztheit des Territoriums und das damit verbundene Verteilungsproblem im Vordergrund. Jede Partei strebte danach, so viel Territorium wie möglich für sich zu beanspruchen. Die Fachliteratur spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Nullsummenspiel, da zusätzlicher Wert für die eine Partei nur durch Kosten der anderen Partei entstehen kann (vgl. Thompson 1990, S. 101).

Häufig sind Verhandlungen jedoch komplexer und beinhalten mehrere Verhandlungsgegenstände gleichzeitig. So wurde im Dayton-Abkommen neben der territorialen Aufteilung etwa auch über den Namen und weitere verfassungsrechtliche Grundlagen des Staates Bosnien und Herzegowina verhandelt. Auch wenn Verhandlungen mit zunehmender Anzahl an Verhandlungsgegenständen komplexer werden, nehmen dadurch gleichzeitig die Möglichkeiten zu, für alle Parteien zufriedenstellende Einigungen herbeizuführen. Durch die Kooperation der Verhandlungsparteien bei der Bearbeitung der Gegenstände kann sich der gemeinsame Nutzen erhöhen und sogenannte »Win-Win«-Lösungen erzielt werden. Die Fachliteratur nennt dies »integrative Verhandlungen« (Kelman 2006, S. 22). Verglichen mit der Aufteilung eines Kuchens, geht es bei integrativen Verhandlungen darum, den Kuchen zu vergrößern und anschließend möglichst gerecht zu verteilen, so dass alle Parteien mehr davon bekommen und zufrieden auseinander gehen.

Den Kuchen vergrößern

Oftmals starten wir in Verhandlungen mit der Annahme, dass die andere Konfliktpartei hinsichtlich der einzelnen Verhandlungsgegenstände die gleichen Präferenzen hat wie wir. Dabei ist es jedoch häufig so, dass die Verhandlungsparteien die einzelnen Verhandlungsgegenstände unterschiedlich stark präferieren (vgl. Thompson 1990, S. 101). Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften beispielsweise über Löhne, Wochenstunden und Betriebsrenten verhandeln, könnte der Fall eintreten, in dem die Gewerkschaften höhere Löhne kürzeren Arbeitszeiten vorziehen, während den Arbeitgebern die Erhöhung der Wochenstunden wichtiger ist als die Ersparnis bei den Löhnen.

Wenn mehrere Verhandlungsgegenstände verhandelt werden und für diese je unterschiedliche Präferenzen bestehen, können Tauschgewinne erzielt werden (vgl. Froman und Cohen 1970, S. 181). Für unser Beispiel bedeutet dies, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften auf eine Arbeitszeiterhöhung und eine Anhebung der Löhne einigen. Durch gegenseitige Zugeständnisse werden die Präferenzen beider Parteien berücksichtigt. So machen die Arbeitgeber Zugeständnisse bei den Löhnen, die für sie niedrigere Priorität haben, aber für die Gewerkschaften von zentraler Bedeutung sind. Im Gegenzug wird erwartet, dass die Gewerkschaften den Arbeitgebern bei den Arbeitszeiten entgegenkommen, die für die Gewerkschaften eher zweitrangig sind, jedoch hohe Priorität für die Arbeitgeber haben.

Im Kern beruht dieser Ansatz auf dem psychologischen Prinzip der sogenannten Reziprozität – dem Gesetz der Gegenseitigkeit. Wenn uns unser Gegenüber etwas Gutes tut, sind wir bemüht, unser Haben-Konto auszugleichen und eine Gegenleistung zu erbringen (vgl. Brett, Shapiro und Lytle 1988, S. 411). Prinzipiell gilt: je mehr Verhandlungsgegenstände auf dem Tisch liegen, desto eher bestehen Austauschmöglichkeiten.

Damit die vorhandenen Potentiale genutzt werden können, ist es dann aber wichtig, die einzelnen Verhandlungsgegenstände zusammen als Paket und nicht getrennt voneinander zu betrachten (vgl. Weingart, Bennett und Brett 1993, S. 505). Würden Arbeitgeber und Gewerkschaften sich beispielsweise erst bei den Arbeitszeiten einigen und danach über die Löhne verhandeln, würden sie womöglich die Gelegenheit für einen Tauschgewinn versäumen.

Werden neben den individuellen Präferenzen auch noch die zugrundeliegenden Interessen der Parteien berücksichtigt, haben die Beteiligten üblicherweise einen höheren Nutzen als bei einer 50-50 Kompromisslösung (vgl. Bazerman, Mannix und Thompson 1988, S. 205). Zur Veranschaulichung ein bekanntes Beispiel aus der Verhandlungsforschung (vgl. Follet 1940, S. 36): Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. Nach langem Hin und Her einigen sie sich schließlich darauf, die Orange in der Mitte zu halbieren. Während die eine Schwester das Fruchtfleisch ihrer Hälfte verwendet, um einen Saft zu pressen, nimmt die andere Schwester die Schale ihrer Hälfte, um einen Kuchen zu backen. Während also der Kompromiss – die Orange zu teilen – auf den ersten Blick eine gute und faire Einigung darstellt, hätten die Schwestern jeweils einen größeren Gewinn erzielt, hätten sie erkannt, dass ihre Interessen nicht entgegengesetzt, sondern miteinander kompatibel waren. So hätte die eine das ganze Fruchtfleisch und die andere die ganze Schale haben können. Das Beispiel verdeutlicht, wie durch interessenorientiertes Verhandeln ein Nutzen für beide Verhandlungsparteien erzielt werden kann.

Die Frage nach dem „Warum“

Damit Interessenunterschiede genutzt werden können, ist es notwendig diese erst einmal zu erkennen. Der Informationsaustausch zwischen den Parteien ist hierbei eine wesentliche Voraussetzung (vgl. Thompson 1990, S. 111). Hätten die Schwestern sich beispielsweise gegenseitig die Frage gestellt: „Warum brauchst du die Orange?“, hätten sie relativ schnell feststellen können, dass es bessere Lösungen gibt, als die Orange in der Mitte zu teilen. Im Fokus der Verhandlung sollte daher nicht das Feilschen um Positionen, sondern das Verhandeln über Interessen stehen. Während Positionen einfache Aussagen darüber sind, was eine Person will („Ich will die Orange haben“) beziehen sich die Interessen auf die zugrundeliegenden Gründe hinter der Position („Ich möchte Orangensaft trinken“ und „Ich würde gerne einen Kuchen backen“). Interessen sind also die Treiber, die Aufschluss darüber geben, warum eine Person eine bestimmte Position einnimmt (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 42). Durch eine Position kann ein Interesse befriedigt werden, aber eine Position ist nicht zwangsläufig der einzige oder beste Weg, dies zu tun. Kurz gesagt: Positionen sind verhandelbar, Interessen nicht.

Zu oft fokussieren sich Verhandlungsparteien rein auf Positionen, was zur Folge haben kann, dass die zugrundeliegenden Interessen unbefriedigt oder sogar unerkannt bleiben. So wird das integrative Potential einer Verhandlung häufig gar nicht erst erkannt. Ein gegenseitiges Verständnis dafür, was sich die Gegenseite von der Verhandlung erhofft, ist daher essenziell, um Win-Win Lösungen zu erzielen.

Der beste Weg, die Bedürfnisse der Gegenpartei zu identifizieren, ist, viele offene Fragen zu stellen, die nach dem „Warum?“ fragen (z. B. „Warum ist das für Sie wichtig?“). Fragen wie „Was haben Sie sich vorgestellt?“ sind im Vergleich dazu eher wenig nützlich, da sie nach den Positionen fragen und nicht nach den dahinterliegenden Interessen. Das Beispiel der Schwestern, die sich um eine Orange streiten, stellt auf ziemlich vereinfachte Weise dar, dass es sich lohnt, nach den Interessen einer Verhandlungspartei zu fragen. Doch auch historische Beispiele zeigen, dass interessenbasiertes Verhandeln der Schlüssel zu einer Einigung sein kann. Während der Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel im Jahr 1979 war zunächst keine der Parteien bereit, die Sinai-Halbinsel, die zwischenzeitlich von Israel besetzt war, aufzugeben. Die Frage nach dem „Warum?“ machte den Verhandlungsparteien deutlich, dass Ägypten die Souveränität über sein eigenes Staatsgebiet wichtig war, während Israel Sorge hatte, dass bei einer erneuten Konfliktsituation ägyptische Panzer nach Israel vordringen könnten. Die Lösung bestand darin, die Sinai-Halbinsel an Ägypten zurückzugeben und die Zone zu entmilitarisieren. Auf diese Weise fanden beide Verhandlungsparteien nach Jahren des Konflikts kompatible Interessen (Souveränität, Sicherheit) hinter gegensätzlichen Positionen (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 43).

Kommunikation und Vertrauen als Grundbausteine

Ein reger Informationsaustausch ist wichtig für die Erarbeitung gemeinsamer Ziele, funktioniert jedoch nur, wenn die richtigen Informationen geteilt werden. Nur wenn alle Verhandlungsparteien ihre wahren Ziele und Interessen offen kommunizieren, lassen sich unterschiedliche Interessen und Präferenzen nutzen. Der Grundstein für die Zusammenarbeit zwischen Verhandlungsparteien lautet daher: Vertrauen. Ohne einen vertrauensvollen Umgang werden Parteien kaum ihre wahren Interessen offenlegen – aus Angst, dass die Gegenseite dieses Wissen missbrauchen könnte (vgl. De Dreu, Giebels und Van de Vliert 1998, S. 406). Vertrauenswürdigkeit wird dabei über transparenten Informationsaustausch hergestellt. Konfliktparteien, die transparent sind, werden meist damit belohnt, dass es ihnen ihre Verhandlungspartner gleichtun. Menschen neigen dazu, auf die Handlungen anderer mit ähnlichen Handlungen zu reagieren: Wenn andere mit uns kooperieren und mit Respekt behandeln, reagieren wir in gleicher Weise (vgl. Malhotra und Bazerman 2007, S. 90). Konfliktparteien müssen allerdings nicht gleich zu Beginn alle Interessen und Ziele offenbaren. Viel eher geht es um einen gemeinsamen Prozess, in dem beide Parteien Schritt für Schritt gegenseitig Informationen miteinander teilen.

Zuhören und verstehen

Aktives Zuhören, bei dem sich der Zuhörende dem Sprechenden mit einer offenen und empathischen Grundhaltung zuwendet, trägt ebenfalls zum Aufbau von Vertrauen bei. Zuhören ermöglicht es uns, zwischen den Zeilen zu lesen und vermittelt dem Sprechenden Kooperationsbereitschaft. Neben dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung stellt der Perspektivwechsel eine weitere Verhandlungsstrategie dar, um mehr über die Präferenzen und Interessen einer Verhandlungspartei zu erfahren. Verhandlungsparteien, die eine hohe Fähigkeit aufweisen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, verstehen dessen zugrundeliegenden Interessen besser und können dies nutzen, um höheren Nutzen für alle Parteien zu erzielen (vgl. Trötschel et al. 2011, S. 774). Bei vielen Verhandlungen handelt es sich nicht um einmalige Austauschbeziehungen, sondern um Zusammenkünfte über einen längeren Zeitraum. Ein Verhandlungsklima, das auf Vertrauen und offener Kommunikation beruht, ist besonders wichtig für die langfristige, soziale Beziehung der Verhandlungsparteien. Auch wenn es vielleicht in manchen Situationen kurzfristig vielversprechender erscheinen mag, nicht zu kooperieren und einen schnellen Gewinn einzufahren, wird langfristig genau das Gegenteil erreicht und die Beziehung zum Verhandlungsgegenüber gefährdet.

Die Aufteilung des Kuchens

Erfolgreiches Verhandeln besteht jedoch nicht nur darin, sprichwörtlich gemeinsam einen möglichst großen Kuchen zu backen, sondern sich hinterher auch ein möglichst großes Stück davon zu sichern. Verhandlungen sind demnach immer ein Zusammenspiel von Kooperation und Wettbewerb. Neben der Wertschöpfung gehört auch die Wertverteilung dazu. Der Gedanke des integrativen Verhandelns besteht darin, dass die Parteien in diesem Stadium der Verhandlung bereits eine kooperative Arbeitsbeziehung aufgebaut haben, die ihnen das Verteilen des Kuchens erleichtert. Eine »Win-Win«-Lösung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass beide Parteien einen Nutzen erzielen und niemand als Verlierer*in aus der Verhandlung hervorgeht. Die Größe des Gewinns jeder Partei variiert jedoch, abhängig davon, wie der Kuchen aufgeteilt wird, nachdem er vergrößert wurde. Je mehr Optionen bzw. Stücke allerdings auf dem Tisch liegen, desto einfacher werden sich die Parteien einigen.

Frieden verhandeln?

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele soziale Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden können. Sofern die Verhandlung integratives Potential besitzt, kann durch einen kooperativen Verhandlungsstil, bei dem die Parteien gemeinsam an der Realisierung ihrer Ziele arbeiten, der Wert für alle Parteien erhöht werden. Ein gegenseitiges Verständnis für die Bedürfnisse, Interessen und Präferenzen des jeweils Anderen ist dabei entscheidend, um den Verhandlungsspielraum zu erweitern und Tauschgewinne zu erzielen. Eine offene Kommunikation, die auf gegenseitigem Vertrauen und Transparenz beruht, fördert außerdem den Informationsaustauch und den Aufbau von langfristigen Beziehungen. Der Leitsatz für integrative Verhandlungen lautet demnach: Teamarbeit statt Wettbewerb.

Literatur

Bazerman, M. H.; Mannix, E. A.; Thompson, L. L. (1988): Groups as mixed-motive negotiations. In: Lawler, E.J., Markovsky, B. (Hrsg.): Advances in Group Processes Vol. 5. Greenwich: JAI Press, S. 195-216.

Brett, J. M.; Shapiro, D. L.; Lytle, A. L. (1998): Breaking the bonds of reciprocity in negotiations. In: Academy of Management Journal 41(4), S. 410-424.

De Dreu, C. K.; Giebels, E.; Van de Vliert, E. (1998): Social motives and trust in integrative negotiation: The disruptive effects of punitive capability. In: Journal of Applied Psychology 83(3), S. 408-422.

Fisher, R.; Ury, W. (1981): Getting to yes: Negotiating agreement without giving in. New York, NY: Penguin Books.

Follet, M. P. (1940): Constructive conflict. In: Metcalf, H.C.; Urwick, L. (Hrsg:): Dynamic administration: The collected papers of Mary Parker Follet. New York: Harper and Row, S. 30-49.

Froman Jr, L. A.; Cohen, M. D. (1970): Compromise and logroll: Comparing the efficiency of two bargaining processes. In: Behavioral Science15(2), S. 180-183.

Kelman, H. C. (2006): Interests, relationships, identities: Three central issues for individuals and groups in negotiating their social environment. In: Annu. Rev. Psychol. 57, S. 1-26.

Malhotra, D.; Bazerman, M. (2007): Negotiation genius: How to overcome obstacles and achieve brilliant results at the bargaining table and beyond. Bantam.

Pruitt, D. G.; Carnevale, P. J. (1993): Negotiation in social conflict. Pacific Grove: Thomson Brooks/Cole Publishing Co.

Thompson, L. (1990): Negotiation behavior and outcomes: Empirical evidence and theoretical issues. In: Psychological Bulletin 108(3), S. 515-532.

Trötschel, R. et al. (2011): Perspective taking as a means to overcome motivational barriers in negotiations: When putting oneself into the opponent’s shoes helps to walk toward agreements. In: Journal of Personality and Social Psychology 101, S. 771-790.

Weingart, L. R.; Bennett, R. J.; Brett, J. M. (1993): The impact of consideration of issues and motivational orientation on group negotiation process and outcome. In: Journal of Applied Psychology 78(3), S. 504-517.

Marie-Lena Frech ist wiss. Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Digitale Transformation an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie forscht zu menschlichem Erleben und Verhalten in Urteils- und Entscheidungssituationen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/3 Frieden lernen, aber wie? – Aktuelle Fragen der Friedenspädagogik, Seite 39–41