W&F 2002/2

Friedens- und Konfliktforschung politisieren

von Peter Strutynski

„Bemerkenswert“ fand es sicher nicht nur der Kasseler Friedensforscher Peter Strutynski, „dass im Programm der AFK-Jahrestagung kein einziges Referat überschrieben war mit dem Titel: »Der 11. September und die Friedensforschung« oder »Die Folgen des 11. September für die Friedenswissenschaft« oder etwas Derartigem“. Für ihn zeugt das „Festhalten an dem Generalthema der Tagung »Macht Europa Frieden?« von einer akademischen Abgeklärtheit“, die notwendig zu sein scheint, „um tagespolitischen Aufgeregtheiten zu trotzen und sich nicht den Medien und der herrschenden Politik (…) zu unterwerfen.“ Gleichzeitig warf er aber die Frage auf nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik und wies darauf hin, dass sich die Friedenswissenschaft seit ihrer Etablierung zu Beginn der 70er Jahre explizit politisch verstanden habe, „als politischer Faktor, der auf staatliche Akteure mittels wissenschaftlicher Expertise und gesellschaftlicher Bewegung Druck auszuüben versuchte.“ In einem zweiten Teil seines Referates (den wir hier dokumentieren) setze er sich dann mit dem Selbstverständnis der Friedenswissenschaftler/innen heute auseinander.
Das letzte Jahrzehnt, insbesondere die Beendigung des Ost-West-Konflikts und damit das Ende einer ganz besonderen weltpolitischen Konstellation, hat die Zunft der Friedensforschung gründlich durcheinander gerüttelt. Der Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen – es hat ihn gegeben, auch wenn vielleicht die neuen Paradigmen noch nicht verfügbar, geschweige denn allgemein akzeptiert sind – fällt zusammen mit einem sichtbaren Generationswechsel der wissenschaftlichen Akteure. Jüngere Fachvertreter zeichnen sich manchmal durch ein sehr viel pragmatischeres Herangehen etwa an Fragen des Völkerrechts aus. In Jahrzehnten gereifte Überzeugungen in Sachen Gewaltverbot, souveräne Gleichheit aller Staaten, territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit von Staaten (alles Grundsätze nach Artikel 2 der UNO-Charta) verlieren an Bedeutung gegenüber der Betonung weltgesellschaftlicher Prinzipien wie die universellen Menschenrechte, deren Durchsetzung nicht mehr an die Grenzen eines Staates gebunden sein soll. Dieses Rütteln an den Grundfesten des Völkerrechts findet durchaus seine Entsprechung in der Praxis der Staaten sowie überraschenderweise auch der Vereinten Nationen selbst.

Norman Paech und Gerhard Stuby (2001, S. 553 ff) haben anhand der Karriere des Begriffs der »humanitären Intervention« in verschiedenen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats in den 90er Jahren gezeigt, dass sich die Vereinten Nationen vom zweiten Golfkrieg über Somalia und Haiti bis zur NATO-Intervention in Jugoslawien auf einer abschüssigen Linie befinden, an deren Ende dereinst das strikte Gewaltverbot zu existieren aufgehört haben wird. Nicht nur von der Bundesregierung (bei ihrem Antrag zur Beteiligung am US-Krieg »Enduring Freedom«), sondern auch von vielen Völkerrechtlern werden die UN-SR-Resolutionen 1368 und 1373 (2001) zu den Terroranschlägen des 11. September als Kriegsermächtigung gegen Afghanistan gewertet – eine gewagte Interpretation, die aber, sollte sie Schule machen, zur weiteren Aushöhlung des Völkerrechts führen wird.

So wie der Kalte Krieg den friedenswissenschaftlichen Diskurs und die Haltung der daran Beteiligten geprägt hat, wird auch die neue politische Realität der post-bipolaren Ära nicht ohne Wirkung bleiben. Friedensforscher/innen stellen sich auf unterschiedliche Weise auf die neuen Gegebenheiten ein. Ich möchte dies an drei kurzen Beispielen erläutern.

Zur FR-Diskussion über den Brief von Lutz/Mutz an den Deutschen Bundestag

Stefanie Christmann analysierte in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau (FR, 24.04.01), dass die Bundestagsdebatten vor und während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien von einer „Realitätsverweigerung“ vieler Abgeordneter gekennzeichnet gewesen seien. Am 16. Oktober 1998 habe der Bundestag im „scheinbar virtuellen Raum“ vor allem darin gewetteifert, „sich gegenseitig guten demokratischen Stil zu bescheinigen“. Der Gedanke an den militärischen Ernstfall sei von den meisten Abgeordneten – zumal nach dem Verhandlungsergebnis zwischen Holbrooke und Milosevic – „weit von sich“ geschoben worden. Und die Debatten während des Krieges waren von Bildern bestimmt: dokumentarischen Bildern von endlosen Flüchtlingsströmen an der Grenze zu Makedonien und imaginären Bildern von „Deportationen“, „Massakern“, „KZs“ und „bestialischen Tötungen von Frauen, Kindern und Föten“. Die wenigen Kriegsgegner, die überhaupt Rederecht erhielten, wurden wie die außerparlamentarische Friedensbewegung der Kollaboration mit Milosevic bezichtigt; Gregor Gysi musste sich von Außenminister Fischer sogar als „Weißwäscher der Politik eines neuen Faschismus“ beschimpfen lassen. Gerade weil in einer solch emotionalisierten Atmosphäre keine rationale Diskussion gedeihen konnte, wäre eine Aufarbeitung der Informations- und Desinformationspolitik der Bundesregierung bzw. der NATO aus der historischen Distanz und unter Berücksichtigung aller bis dahin bekannt gewordenen »dirty secrets« dringend nötig gewesen.

Dies war für die Hamburger Friedensforscher Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz auch der Grund für einen Offenen Brief, den sie am 2. Jahrestag des Kosovo-Kriegs an die Bundestagsabgeordneten schickten (FR, 24.03.2001). Darin forderten sie

  • die Durchführung eines Bundestags-Hearings zur Aufarbeitung des Krieges,
  • die Einsetzung einer Kommission des Rechtsausschusses des Bundestags, an deren Ende eine umfassende rechtliche und rechtsethische Würdigung des NATO-Kriegs stehen könnte, und
  • dass mit Unterstützung der Medien von Seiten des Bundestages, aber auch der Bundesregierung eine Serie öffentlicher Diskussionsveranstaltungen durchgeführt wird, in denen Lehren aus dem Krieg gezogen werden sollten.

Auf diese vergleichsweise moderaten Vorschläge antwortete wenig später der SPD-Abgeordnete Gernot Erler, in seiner Fraktion zuständig für Internationale Politik. Seine Zurückweisung des Briefs der Friedensforscher unterschied sich kaum von der Polemik, die seinerzeit im Bundestag gegen die Kriegsgegner betrieben worden war. Den Friedensforschern wurde ihre wissenschaftliche Seriosität abgesprochen, ihnen wurde vorgeworfen, sich nachträglich in den Dienst einer gezielten „Kampagne“ gegen den Krieg und gegen die Bundesregierung zu stellen, mit „fragwürdigen“ Mitteln und mit „Tricks“ zu arbeiten, ihnen wurde „hartnäckige Ignoranz“ bescheinigt und am Ende wurde insbesondere noch einmal der Verschlag von Lutz/Mutz für ein Bundestags-Hearing zurückgewiesen, „in denen Sie Ihren Hang zu öffentlichen Tribunalen austoben könnten“. (Erler 2001)

Der Briefwechsel – wir haben die ganze Debatte auf der Homepage des Kasseler Friedensratschlags dokumentiert (http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/fr-debatte.html) – verdeutlicht die abgrundtiefe Kluft, die zwischen der kriegs- und interventionskritischen Friedensforschung und der herrschenden Politik besteht. Wenn es um Krieg oder Frieden und wenn es um die moralische Rechtfertigung von Kriegen geht, hört die Gemütlichkeit der dafür Verantwortlichen auf.

Zur Pazifismus-Diskussion

Dies lässt sich auch an der so genannten Pazifismus-Debatte zeigen, die der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ludger Volmer vor kurzem losgetreten hat. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Auseinandersetzung um Volmers Thesen durchaus Gewinn bringend für den Selbstverständigungsprozess der Friedensforschung sein kann. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass es sich hier nicht um eine rein ethische Diskussion handelt, sondern dass es um unterschiedliche Politikentwürfe für die Gestaltung der internationalen Beziehungen der Zukunft geht. Volmer relativiert den Pazifismus-Begriff bis zur unbegrenzten Vieldeutigkeit, indem er jeder möglichen historischen Situation einen spezifischen Pazifismus-Inhalt unterschiebt. Da gab es den „politischen Pazifismus der frühen Sozialisten“, den Ohne-Mich-Pazifismus der Nachkriegszeit, den antiimperialistischen Pazifismus der Vietnam-Generation, den „Nuklear-Pazifismus“ der 80er Jahre und es gab den OSZE- und EU-Pazifismus der 90er Jahre. Alle waren sie unterschiedlich motiviert, alle hatten andere soziale und politische Träger und Adressaten und alle hatten für ihre Zeit ihre Berechtigung. Aber eben nur für ihre Zeit. Denn gemeinsam ist diesen vielen historischen Pazifismen nach Auffassung Volmers, dass keiner von ihnen eine Antwort auf die heutigen Bedrohungen bereit hält.

Heute müsse ein neuer Pazifismus zum Tragen kommen. Den nennt Volmer den „politischen Pazifismus“. Er definiert ihn folgendermaßen: „Einsatz für das Primat der Politik und die Unterordnung militärischer Schritte unter politische Strategien, für die zentrale Rolle der Vereinten Nationen, die Geltung des humanitären Kriegsvölkerrechts und die Verhältnismäßigkeit der Mittel, für humanitäre Hilfe und Menschenrechte, für Auswärtige Kulturpolitik und den Dialog der Kulturen, für Entwicklungshilfe und Institutionenbildung, für global governance und eine internationale Strukturpolitik, die auf globale Gerechtigkeit zielt.“

In dieser Anhäufung von Begriffen aus dem Vokabular der Friedens- und Konfliktforschung verschwinden die »militärischen Schritte« zu einem unbedeutenden Rest; sie werden zu einer fast vernachlässigbaren Größe. Vergleicht man indessen die realen Aufwendungen, die für die UNO, für humanitäre Hilfe, für auswärtige Kulturpolitik (Wie viele Goethe-Institute sind in der Ära Fischer aus Geldmangel schon geschlossen worden?), für Entwicklungshilfe oder für »global governance« ausgegeben werden, mit den Mitteln, die in Rüstung, Militär und Krieg gesteckt werden, so drehen sich die Größenverhältnisse geradezu um. Auch kann schwerlich vom Krieg als »ultima ratio« gesprochen werden, wenn man sieht, wie die Bundesregierung bemüht ist, fast jede sich bietende Gelegenheit zur Intervention beim Schopf zu ergreifen. Das fast schon peinliche Andienen von Bundeswehreinheiten für den US-Krieg in und um Afghanistan im Oktober und November letzten Jahres war nicht gerade eine Meisterleistung beim Kampf um die „Prima Ratio, die zivilen Mittel der Krisenprävention“, die Volmer für sein Konzept des politischen Pazifismus reklamiert.

Und Ludger Volmer bemüht noch andere Versatzstücke der friedenswissenschaftlichen Diskussion. Das nimmt auch nicht Wunder, kennt er sich in dem Laden doch ganz gut aus! „Politischer Pazifismus“ – ich übersetze: militärischer Interventionismus – trage zur »Globalisierung« der Sicherheitspolitik bei und würde somit nur nachvollziehen, was „in Wirtschaft und Umweltfragen längst unser Bewusstsein bestimmt.“ Beim „Kampf gegen den Terror“ – ich übersetze wieder: beim Krieg in Afghanistan – habe die internationale Staatengemeinschaft, „legitimiert durch die Vereinten Nationen“, „ansatzweise im Sinne einer Weltinnenpolitik gehandelt“. Und dann fragt er in seiner himmelschreienden Unaufdringlichkeit: „Doch war es nicht Weltinnenpolitik, was Pazifisten wollten?“ – Nun ist die Friedensforschung nicht dafür verantwortlich, dass eloquente Politiker sich ihrer Begriffe bedienen und sie dabei bis zur Unkenntlichkeit umdeuten. Wir sollten uns aber schon die Frage stellen, ob bestimmte Begriffe – ich nenne neben der »Weltinnenpolitik« die »Zivilgesellschaft« und das »global governance« – von uns auch wirklich genügend durchdacht und konkretisiert wurden, sodass sie einem Zugriff von der falschen Seite besser standhalten.

Harald Müller, der Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, hat in der Debatte um die Volmer-Thesen inhaltlich dessen Position eingenommen. Er sei kein Pazifist und teile hinsichtlich des militärischen Eingreifens in Afghanistan die „Bewertung von Staatsminister Volmer“ – auch Müller vermeidet den Ausdruck »Krieg« (Müller 2002). In seiner Argumentation allerdings werden überwiegend Bedenken gegen Militärinterventionen geäußert. Insbesondere stellt er fest, dass der vermeintliche „Nexus zwischen Demokratie und Frieden“ die Tendenz habe sich aufzulösen. Denn einmal werde die Kriegsschwelle der Demokratien dadurch gesenkt, dass der Universalismus der Menschenrechte ein „mächtiger Feindbildproduzent“ geworden sei. Zum Zweiten neige die moderne Kriegführung zu ihrer perfekten Inszenierung; die Medien wirkten durch die Personalisierung der Gegnerschaft am Entwurf eines „wirkungskräftigen Feindbilds“ mit. Und zum Dritten würden die Parlamente durch die Exekutiven systematisch in „Entscheidungszwangslagen“ gebracht, sodass eine unabhängige Prüfung des Regierungshandelns kaum noch möglich sei. Da dies so sei, komme der „pazifistischen Kritik“ heute eine umso größere Bedeutung zu: Sie „zwingt die Befürworter der humanitären Intervention dazu, die Messlatte sehr hoch zu legen, bevor sie die Gewaltanwendung befürworten.“ Nur wenn man böswillig ist, könnte man gegen Müllers Position einwenden: Da wird der Pazifist als Pflichtverteidiger in einem letztlich aussichtslosen Verfahren gebraucht, als advocatus pacis sozusagen, der die Kriegsbefürworter nicht vom Krieg abhalten soll und kann, sie aber zwingt, die Begründung für den Krieg »wasserdicht« zu machen. Übrig bleibt die auch vom Pazifisten verlangte Akzeptanz des gesprochenen Urteils, im Zweifelsfall also die Entscheidung für eine »demokratische Intervention«. (In dem Bericht des AFK-Vorstands wird der Begriff des »demokratischen Interventionismus« gebraucht, zwar in Anführungsstrichen, aber ohne erkenntliche Distanzierung. Ich vermag in diesem Begriff keine Verbesserung gegenüber dem »humanitären Interventionismus« zu erblicken. In beiden Fällen beißt sich das positiv besetzte Adjektiv mit dem pejorativen Klang des Substantivs.)

Zur Diskussion um Expertenräte

In den letzten Jahren sind wiederholt Vorschläge gemacht worden, die den offenkundigen Defiziten der parlamentarischen Demokratie in Sachen Partizipation beikommen wollen. Dabei gibt es zwei Richtungen: Die einen wollen mehr Partizipation bei der politischen Willensbildung durch eine Ausweitung von Elementen der unmittelbaren Demokratie, etwa durch die Einführung von Volksbegehren bis hin zum Volksentscheid auf Bundesebene. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, halte aber diesen plebiszitären Ansatz für bedenkenswert und für eine Demokratie eigentlich auch für längst überfällig.

Der andere Weg ist verschlungener und meiner Meinung nach kritischer zu bewerten, obwohl auch er auf den ersten Blick sympathisch ist. Ich meine die Forderung nach der Einrichtung einer Art »Dritter Kammer«, die seit geraumer Zeit von Mohssen Massarat vorgetragen wird (vgl. z.B. Massarat 2000). Ausgangspunkt für sein Konzept ist die gesellschaftskritische Diagnose, dass die repräsentativen »Elitedemokratien« für die Lösung der Gegenwartsprobleme nicht nur überfordert seien, sondern systematisch selbst immer neue Probleme hervorbrächten. Dies liege u.a. daran, dass der im Parlamentarismus des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte Zwang zum Kompromiss zwar gut gewesen sei bei Fragen der Wohlfahrtsverteilung, bei existenziellen Entscheidungen mit langfristigen Folgewirkungen sich aber als untauglich erweise. Wenn sich z.B. die Nutzung der Atomenergie als Irrweg herausgestellt hat, sei es unsinnig einen Kompromiss dergestalt einzugehen, dass man nun weniger Atomenergie produziert. Massarat nennt dies das »Kompromissdilemma«. Ein zweites Strukturdefizit moderner Demokratien liege darin, dass der klassische Politiker – vom Parteitagsdelegierten bis zum Parlamentsabgeordneten – die Folgen seiner Entscheidungen in zahlreichen komplexen Politikfeldern gar nicht mehr nachvollziehen könne. Da er dennoch entscheiden müsse – dafür sei er schließlich gewählt – entscheide er vorwiegend nach Loyalitätsgesichtspunkten. Dies liefere ihn unweigerlich an die »Expertokratie« aus und entwerte somit sein demokratisches Mandat, nach Massarat das »Komplexitätsdilemma«. Drittens schließlich habe die Elitedemokratie keine überzeugenden Lösungskonzepte zur Überwindung der globalen Gegenwartsprobleme wie Armut, Umweltzerstörung, Krieg und Massenarbeitslosigkeit. Die nationalstaatliche Demokratie werde mit diesem »Nachhaltigkeitsdilemma« nicht fertig.

Einen Ausweg aus diesen drei Dilemmata sieht Massarat nur in einer Stärkung der zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen und Bewegungen. Sie seien die »Dritte Kraft« und neues »Subjekt« zukunftsfähiger Reformen. Um diesen Bewegungen einen angemessenen Artikulationsrahmen und erweiterte Partizipationschancen einzuräumen, sollten themenspezifische »Dritte Kammern« eingerichtet werden, die sich – „an der Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen etablierten Institutionen (…) und der Zivilgesellschaft neben dem Parlament und dem Bundesrat“ – um „wichtige gesellschaftliche Politikfelder“ kümmern sollen. Die Kammern – für jedes Politikfeld sollte eine eigene Kammer bestehen – sollen ähnlich wie der Bundesrat über „Einspruchs- und Interventionsoptionen“ verfügen.

Dieter S. Lutz hat sich ebenfalls für eine »Dritte Kammer« ausgesprochen (Lutz 2002). Er nennt sie »Zukunftsrat« und stellt sich darunter ein Expertenparlament vor, das neben dem »Generalistenparlament« existieren solle. „Unabhängige und renommierte Experten“ müssten seiner Ansicht nach „mit den Hoheitsrechten für existenzielle Menschheitsfragen“ ausgestattet werden, auf Bundesebene und auf der Ebene der 16 Bundesländer.

So überzeugend bei Lutz und Massarat die Diagnose der Gebrechen der Patientin »parlamentarische Demokratie« ausfällt, so fraglich ist deren Therapie. Ein Expertenrat, der sich weit gehend aus hochkarätigen Wissenschaftlern und einer Anzahl NGO-Vertreter zusammensetzt, garantiert noch lange keine wirklich zukunftsfähigen Entscheidungen. Darf man denn davon ausgehen, dass sich die »Experten« in ihren Empfehlungen immer für das »Richtige«, also für ökologische Nachhaltigkeit, Frieden und weltweite Gerechtigkeit entscheiden? Warum sollte bei den Wahlen zu den Zukunftsräten etwas anderes heraus kommen als bei den Wahlen zu den Parlamenten? – Ein wenig kommt es mir vor, als würde hier der Versuch gemacht, aus lauter verständlichem Frust über Rot-Grün hinter deren Rücken doch noch zum Ziel zu kommen. Das wird nicht funktionieren, weil Parlament und Exekutive ihre Entscheidungsmacht nicht aus der Hand geben werden. Wer die Politik auf den höchsten Ebenen verändern will, braucht keine neuen Gremien, sondern eine neue Politik. Und die muss von unten wachsen und von neuen und alten sozialen und politischen Bewegungen getragen werden. Umso besser für die Bewegungen, wenn sich in ihnen die viel beschworenen Experten ebenfalls engagieren. Pierre Bourdieu verlangt von den Wissenschaftlern, dass sie „an der kollektiven Erfindung der kollektiven Strukturen eines erfinderischen Geistes“ arbeiten, „dem eine neue soziale Bewegung entspringen kann. Das heißt, sie müssen neue Inhalte aufzeigen, neue Ziele formulieren und die neuen Mittel für internationale Aktionen entwickeln.“ (Bourdieu 2002)

Empfehlungen

Ob als Wissenschaftler, die sich der Friedensforschung verschrieben haben, oder als Staatsbürger, die sich in der Friedensbewegung engagieren: Wir kommen nicht daran vorbei, an der Veränderung von Bewusstseins-, Verhaltens- und Machtstrukturen arbeiten zu müssen. Für die AFK und für das Verhältnis von AFK zur Friedensbewegung – das ich mir gern als ein Binnenverhältnis denke – könnte das neben dem bereits Gesagten Folgendes bedeuten:

  • Ich wünsche mir häufiger politische Stellungnahmen der AFK zu außen- und sicherheitspolitischen Fehlentwicklungen. Je aktueller bzw. frühzeitiger solche Positionen formuliert und in Kreisen der »Zunft« sowie der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, desto besser. Der Vorstand der AFK braucht sich dann keine allzu großen Sorgen um die Befindlichkeiten der Mitglieder zu machen, wenn er sich dabei auf den vermutlich großen Bereich konzentriert, in dem unter den Mitgliedern Konsens besteht. Kontroverse Positionen können ruhig auch benannt werden. Sie dürfen allerdings das Hauptanliegen der Stellungnahme nicht verwässern.
  • Die AFK bzw. ihre Mitglieder sollten von sich aus den Kontakt zur Friedensbewegung suchen und herstellen und sich als Gesprächspartner anbieten. Friedensforscher haben der Friedensbewegung viele Informationen, Daten und analytische Einsichten voraus; die gilt es unters Volk zu bringen – das gilt übrigens vor allem auch für jene Wissenschaftler, welche die Friedensbewegung aus politischen Gründen mit einer gewissen Reserviertheit betrachten: Gerade wenn man sich – wie Harald Müller – über „pazifistischen Starrsinn“ ärgert, müsste man doch interessiert sein, den Starrsinn mit fundierten Informationen zu erschüttern. Und der Friedensbewegung schadet es überhaupt nicht, wenn sie mit differenzierten und abweichenden Positionen konfrontiert wird.
  • Der engere Kontakt zur Friedensbewegung könnte auch den einen oder die andere Wissenschaftlerin dazu veranlassen, über die Art der Präsentation ihrer Forschungsergebnisse nachzudenken. Ich beobachte einen ungebrochenen Hang zur Geheimsprache, zur Abstraktion und zur Verliebtheit in originelle, aber oftmals unwesentliche Theorievarianten. Sprache kann auch Mauern errichten, die den Wissenschaftler von der Gesellschaft trennen. Lassen wir zum Schluss noch einmal Pierre Bourdieu zu Wort kommen: „Es ist ein absolut gültiger Grundsatz, etwas, was man für eine Entdeckung hält, zuerst der Kritik der Kollegen auszusetzen, aber warum sollte das kollektiv erworbene und kollektiv überprüfte Wissen ihnen allein vorbehalten bleiben?“

Literatur

Pierre Bourdieu (2002): Für eine engagierte Wissenschaft. In: Le Monde diplomatique, Februar 2002, S. 3

Gernot Erler (2001): Antwort auf den Offenen Brief der Friedensforscher Lutz und Mutz vom 11. April 2001. ((www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/erler.html)

Dieter S. Lutz (2002): Ist die Demokratie am Ende? In: Frankfurter Rundschau, 14. Januar 2002

Dieter S. Lutz, Reinhard Mutz (2001): „Mehr Probleme als Lösungen, mehr Fragen als Antworten“. Offener Brief an die Bundestagsabgeordneten vom 24. März 2001. (www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO-Krieg/lutz-mutz.html)

Mohssen Massarat (2000): Dritte Kammern. Weniger Staat – mehr Zivilgesellschaft. Ein Schritt zur nachhaltigen Demokratie. In: Universitas, Februar 2000, S. 185-197

Harald Müller (2002): Stachel im Fleisch der Selbstgerechten. In: Frankfurter Rundschau, 24. Januar 2002

Norman Paech, Gerhard Stuby (2001): Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Ein Studienbuch, Hamburg

Ludger Volmer (2002): Was bleibt vom Pazifismus? In: Frankfurter Rundschau, 7. Januar 2002

Ulrike C. Wasmuht (1997): Aktuelle Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung. In: Wolfgang R. Vogt (Hrsg.): Gewalt und Konfliktbearbeitung. Befunde, Konzepte, Handeln, Baden-Baden, S. 55-75

Dr. Peter Strutynski lehrt an der Uni Kassel und ist Sprecher des »Bundesausschusses Friedensratschlag«

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/2 Frauen und Krieg, Seite