Friedensärzte
Felix Boenheim (1890 – 1960) und das Internationale ärztliche Engagement gegen Krieg und Faschismus
von Thomas M. Ruprecht
“Du, Arzt am Krankenbett, wenn sie Dir morgen befehlen, Du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins: Sag nein!“ (Wolfgang Borchert)
„… Wir Ärzte kennen die Schrecken des Krieges am besten, weil wir noch heute die irreparablen Gesundheitsschäden des letzten Krieges täglich sehen. Der nächste Krieg kennt keinen Unterschied zwischen Front und Hinterland. Giftgase, Brandbomben und Bakterien werden alles Lebendige vernichten. Im Weltkriege wurden fast 10 Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern getötet, 17 Millionen verwundet und verstümmelt. … Die Massenarbeitslosigkeit hat zur Massenverelendung geführt. Der Abbau der Leistungen der sozialen Versicherungen, der Mittel zur Bekämpfung der Krankheiten führt zu immer neuen und schwereren Schädigungen der Gesundheit des Einzelnen. Chronische Unterernährung und Wohnungselend lassen Volksseuchen wie die Tuberkolose wieder ansteigen. Die Zahl der Nervenerkrankungen nimmt ständig zu und mit ihnen die Zahl der Selbstmorde.
Trotz der fortdauernden Vernichtung von Kulturwerten durch Krieg und Nachfolgen, trotzdem die Schreckensbilder des Weltkrieges nicht unvergessen bleiben, sind schon wieder Kräfte am Werk, die den Ausweg aus der Wirtschaftskrise in einem neuen Krieg sehen wollen. … Bedroht ist in erster Linie Sowjet-Rußland. Ein Angriff auf dieses Land, das den friedlichen Aufbau will, bedeutet einen neuen Weltkrieg. Deshalb rufen wir unterzeichneten Ärzte aller Länder auf, gegen den Krieg zu kämpfen … Als Hüter der Volksgesundheit erheben wir unsere warnende Stimmen gegen ein neues internationales Blutbad, in das die Völker planmäßig hineingetrieben und dessen Folgen unabsehbare sein werden.“ 1
So endete der »Aufruf an die Ärzte aller Länder«, den Felix Boenheim, Chefarzt der inneren Abteilung des Berliner Hufeland-Hospitals, im Frühjahr 1932 an Kolleginnen und Kollegen in aller Welt verschickte. Über 200 unterzeichneten ihn, unter ihnen Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Sie unterstützten damit den Appell der französischen Schriftsteller Henri Barbusse (1873-1935) und Romain Rolland (1866-1944) für den »Weltkongreß gegen Krieg und Faschismus« 1932 in Amsterdam.
Spätestens seit Beginn des japanisch-chinesischen Krieges 1931 stand den politisch engagierten Zeitgenossen ein neuer Weltkrieg als drohende Gefahr vor Augen. Faschismus und Nationalsozialismus waren scheinbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Die erste deutsche Republik lag in Agonie, ihre potentiellen Verteidiger zermürbten sich in unversöhnlichen Flügelkämpfen, Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen wurden immer unverblümter propagiert und durchgesetzt, trotz Massenelend und- Arbeitslosigkeit. Bereits seit 1928 hatte der »Verein Sozialistischer Ärzte« in Berlin Front gegen die Aufrüstungspolitik bezogen, vor allem gegen die umfangreichen »Zivilschutz«-Maßnahmen für einen B- und C-Waffen-Krieg. Boenheim, langjähriges Mitglied des Vereins und renommierter Endokrinologe in Berlin, setzte schließlich Impulse jener »Gaskriegsdebatte« um, als ihn Henri Barbusse 1932 fragte, ob er für den Amsterdamer Kongreß Leiter der deutschen Delegation werden und im Reich Vorbereitungen koordinieren würde.
Felix Boenheim, 1890 in Berlin geboren, stammte ursprünglich aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie jüdischer Herkunft. Er hatte Medizin in München, Freiburg und Berlin studiert und war politisch stark von seinem Onkel Hugo Haase (1863-1919) beeinflußt, Fraktionsvorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion, Mitglied des Parteivorstandes und 1917 Gründer der USPD.
1. Weltkrieg und Novemberrevolution
Bereits während des 1. Weltkrieges hatte Boenheim die Mitwirkung am Krieg abgelehnt: Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn bekundete er als landsturmpflichtiger Arzt im ostpreußischen Graudenz offen seine Ablehnung. Obendrein befreundete er sich mit dem damals berühmten Berliner Kardiologen Georg Friedrich Nicolai (1874-1964), ab 1917 der international bekannteste deutsche Kriegsgegner aufgrund seiner »Biologie des Krieges«, jenem „Kultbuch des internationalen Pazifismus“ 2. Beide kamen schließlich mit den Militärbehörden in Konflikt. Boenheim wurde bereits 1915 vor ein Kriegsgericht gestellt, wegen „fahrlässiger Gerüchteverbreitung“ und „Beleidigung“ des Kriegsministers von Falkenhayn (1861-1922). Ohne das Urteil abzuwarten, degradierte man ihn, und zog ihn in Aberkennung seines Sonderstatus als Mediziner als gemeinen Soldaten zur aktiven Truppe ein; damals ein Präzedenzfall. Wegen Krankheit schließlich entlassen, begann er 1916 eine vielversprechende wissenschaftliche Karriere an der Universitätsklinik Rostock. Als er sich jedoch politisch für die neugegründete USPD engagierte, konnte er sich nicht mehr habilitieren und wechselte ans Städtische Krankenhaus nach Nürnberg.
Dort spielte er in der Novemberrevolution als Arbeiter- und Soldatenrat der USPD eine bedeutende Rolle, radikalisierte sich aber im Laufe der SPD-geführten Restauration. Als libertärer Kommunist wurde er mit 29 Jahren führende Persönlichkeit der Nürnberger Spartakisten. Als im April 1919 in München die Räterepublik ausgerufen werden sollte, schlug ihn Erich Mühsam (1878-1934) für das Amt des Bayrischen Justizministers vor. Boenheim jedoch lehnte zusammen mit der KPD eine Beteiligung an der revolutionären Umwälzung ab, da sie in seinen Augen basisdemokratischer Legitimation und ausreichenden Rückhalts in der Bevölkerung entbehrte.
1921-1932
Nach Assistenzjahren am Stuttgarter Katharinenhospital ließ er sich 1921 als Internist in Berlin nieder. Seine politische Tätigkeit orientierte sich weiterhin an der KPD, obwohl er nie Parteimitglied wurde. Er gehörte zum Kreis um Willi Münzenberg (1889-1940), den er in Stuttgart als Vorsitzenden der württembergischen Kommunisten kennengelernt hatte. Boenheims Schwerpunkte waren das soziale Engagement für die Arbeiterschaft Berlins und die Interessen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, für gesundheitliche Aufklärung breitester Schichten und eine Sozialisierung des Gesundheitswesens. Er war Mitglied der »Deutschen Liga für Menschenrechte«, engagierte sich in einem überparteilichen »Verein Sozialistischer Ärzte« und in der Ärztesektion der »Internationalen Arbeiterhilfe«(IAH), war Mitinitiator der »Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland« (1923), zu der zahlreiche prominente Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler wie die Brüder Mann und Albert Einstein gehörten und trat 1927 der »Liga gegen Imperialismus und für die nationale Unabhängigkeit« bei, aus der ein Jahr später die »Weltliga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung, für nationale Freiheit« wurde. In Wieland Herzfeldes »Malik« und Münzenbergs »Neuem Deutschen Verlag« veröffentlichte er populärwissenschaftliche Schriften, verkehrte mit Ernst Thälmann (1886-1944) und Wilhelm Pieck (1876-1960) und pflegte Freundschaften zu Ernst Toller (1893-1939) und dem pazifistischen Schriftsteller Leonhard Frank (1882-1961). Beruflich war er trotz gebrochener akademischer Karriere sehr erfolgreich, arbeitete wissenschaftlich in den Labors der Charité, publizierte im In- und Ausland und gewann einen hervorragenden Ruf als Endokrinologe, besonders auf dem Gebiet der Schilddrüsenerkrankungen.
1931 – inzwischen Chefarzt am Berliner Hufeland-Hospital – verlor er wegen seines gesundheitspolitischen Engagements seine Kassenzulassung durch Ausschluß aus dem Hartmann-Bund. Nur wenig später erreichte ihn die Bitte von Henri Barbusse zur Vorbereitung des Amsterdamer Kongresses. Boenheim gründete daraufhin einen eigenen Initiativausschuß. Mitglieder waren Käte Kollwitz (1867-1945), die Literaten Bert Brecht, Bernhard von Brentano (1901-1964), Ricarda Huch (1864-1947) Anna Seghers (1900-1983) und Ernst Toller, der Arzt und Sexualreformer Max Hodann (1894-1946) und der Psychoanalytiker und Freud-Schüler Wilhelm Reich (1897-1957). Gleichzeitig rief er auch ein international besetztes Ärztekomitee ins Leben, besetzt vor allem mit renommierten Hochschullehrern: Der Königsberger Ludwig Pick3, der Prager Endokrinologe Arthur Biedl (1869-?), der Bonner Zahnmediziner Alfed Kantorowicz (1880-1962), der Berliner Internist Georg Zülzer (1870-1949) und schließlich der Züricher Arbeiterarzt und Anarcho-Syndikalist Fritz Brupbacher (1874-1944). Sie waren auch die Erstunterzeichner des anfangs zitierten Aufrufs aus Boenheims Feder.
Der Amsterdamer Kongreß 1932
Der Amsterdamer Kongreß entwickelte sich zur größten Antikriegskundgebung, die bis dahin je stattgefunden hatte. Am 27. August 1932 versammelten sich über 4000 Teilnehmer, davon 2200 Delegierte aus 35 verschiedenen Ländern4. Er sollte ein Signal setzen zur Bildung einer parteiübergreifenden Volksfront gegen den um sich greifenden kriegerischen Faschismus und Nationalsozialismus. Parallel zum Plenum tagte die erste internationale Ärztekonferenz unter dem Motto »Arzt und Arbeiterklasse verbündet im Kampf gegen Imperialismus und Kriegsgefahr«. Das Hauptreferat vor den ca. 50 Teilnehmern aus ganz Europa hielt Felix Boenheim: „Die gesundheitlichen Folgen des letzten Krieges und die drohenden Folgen des kommenden, insbesondere des Gaskrieges“ Am darauffolgenden Tag, den 28. August 1932, beschloß die zweite ärztliche Sonderkonferenz auf Initiative Boenheims die Gründung der »Internationalen Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« und wählte ihn zum Präsidenten. Folgende Erklärung wurde verabschiedet:
„Die auf dem Antikriegskongreß vertretenen Ärzte aus allen europäischen Ländern appellieren angesichts der wachsenden Gefahr eines neuen Weltkrieges an alle Ärzte, die nicht dulden wollen, daß die Fortschritte der Wissenschaft und Technik in den Dienst der planmäßigen Massenvernichtung gestellt werden…. Verheerend war die Wirkung des Krieges auf Frauen und Kinder. Die Gesundheit der unterernährten, blutarmen Frauen wurde durch die Fabrikarbeit, besonders auch in den Munitionsfabriken vollends untergraben. Die im Kriege geborenen Kinder der werktätigen Bevölkerung erlitten irreparable, noch heute nachweisbare Schädigungen. … Die am Kriege interessierten Kräfte aller Länder, insbesondere der Rüstungsindustrie, bemühten sich, die Ärzte in die Front der Vorbereitung des Krieges einzureihen. Im Weltkriege wurde der Arzt dazu degradiert, den letzten Mann kriegsverwendungsfähig zu schreiben und die verhängnisvollen Folgen von Hunger und Unterernährung zu verschweigen. Heute soll er durch seine Gutachten beitragen zu weiterem Abbau der kümmerlichen Renten der Kriegs- und Arbeitsopfer. Die in allen Ländern in letzter Zeit mit äußerster Intensität betriebene Agitation für den Gas- und Luftschutz zeigt, daß man den kommenden Krieg als nahe bevorstehend erwartet, Ärzte stehen an führender Stelle bei der Organisierung des Gas- und Luftschutzes. Dieser ist um so gefährlicher, als er sich unter dem Schein defensiver Maßnahmen abspielt. Eine besondere Rolle hierbei spielen die einzelnen Sektionen des »Internationalen Roten Kreuzes« deren Tätigkeit die Massen im Kampf gegen den Krieg lähmt. Wir Ärzte, die wir uns für die Verhinderung eines neuen Weltgemetzels einsetzen, verpflichten uns, folgende dringliche Aufgaben durchzuführen:
- Aufklärung über die Greuel- und Vernichtungsmethoden des Krieges, insbesondere des alles Leben unterschiedslos vernichtenden Gaskrieges, unter den Ärzten und in den breiten Massen der Bevölkerung.
- Aufklärung über die tatsächliche Unmöglichkeit eines wirksamen Gasschutzes. Der einzig wirksame Gasschutz ist der siegreiche Kampf gegen den Krieg.
- Aufzeigen der katastrophalen Folgen von Krieg und Nachkriegskrise auf die Volksgesundheit in den einzelnen Ländern. Durchführung von Massenuntersuchungen in Elendsgebieten, wie sie in Deutschland, in der Tschechoslowakei mit erschütternden Ergebnissen durchgeführt werden. Veranstaltungen von Referaten, Schulungskursen und Kundgebungen über diese Themen in allen Kreisen der Bevölkerung.
- Schaffung eines internationalen Ärztebüros, das systematisch die Tatsachen der gesundheitlichen Schädigungen in den einzelnen Ländern sammelt und wissenschaftlich verarbeitet, sowie Direktiven gibt für den Kampf der Ärzte gegen den Krieg. Wirksame Arbeit zur Verhütung eines neuen Krieges können die Ärzte nur Hand in Hand mit den Organisationen leisten, die einen aktiven Kampf gegen den Krieg führen“ 5
Boenheim und die internationale Ärztegesellschaft knüpften damit an oppositionelle Strömungen an, die es innerhalb der europäischen Ärzteschaft schon während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben hatte6.Ihr bedeutenster Vertreter war zunächst Rudolf Virchow (1821-1902). Als einer der schärfsten Gegner Bismarcks hatte er am 21. Oktober 1869 großes Aufsehen erregt mit einem Abrüstungsantrag im Preußischen Abgeordnetenhaus7. 1895 sah er für Europa nur zwei Möglichkeiten: „Abrüsten oder Untergehen“ 8.
Die erste spezifisch ärztliche Friedensorganisation war jedoch 1905 in Frankreich entstanden, auf Initiative des damals berühmten Internisten und Pioniers der Radiologie und physikalischen Medizin Dr. Joseph Alexandre Rivière (1860-1946): Die „Association internationale médicale contre la Guerre“. Der Nobelpreisträger Charles Richet (1860-1933)9, ihr prominentestes Mitglied hatte damals bereits gefordert: „… diese Idee des Friedens, des heiligen Friedens, ist es wert, durch jeden Arzt, der seine Aufgabe verstanden hat, verteidigt zu werden. Todgeweihte ins Leben zurückzuholen, Versehrten beizustehen, behindertes Leben zu verlängern: das ist ganz sicher die Pflicht des Arztes. Warum aber sollte ihm veboten sein, kräftige, gesunde und lebensdurstige junge Menschen zu retten, die die Mächtigen dieser Welt in ihrem Wahn ins Gemetzel der Schlachtfelder kommandieren?… Ist es nicht eine grausame Ironie, seine Fürsoge einem armen Tuberkulosekranken zuzuwenden, dessen Leiden nur mit größter Mühe lindern zu können, während der Moloch des Krieges mit einem einzigen Schlag hunderttausende gesunde, vitale junge Menschen vernichtet?… Wir Ärzte sind Anwälte der Menschlichkeit. Lassen sie uns diese Aufgabe mit aller Entschiedenheit vertreten. Begrenzen wir unsere Humanität nicht auf hingebungsvolle Krankenpflege! Gehen wir weiter!“ 10
Neben der »Association«, die über 700 Mitglieder in 21 europäischen, 18 mittel- und südamerikanischen Staaten, aber auch in Kanada und den USA hatte, waren noch weitere Mediziner mit der Gründung antimilitaristischer und pazifistischer Organisationen hervorgetreten: Fritz Brupbacher – ebenfalls 1905 – mit der Schweizer »antimilitaristischen Liga«11, 1914 der britische Internist und Quäker Henry Hodgkin (1877-1933)12 mit der bis heute bestehenden pazifistischen »Fellowship of Reconciliation« (»Internationaler Versöhnungsbund) und 1919 der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) und der Züricher Psychiater August Forel (1848-1931) mit der »Arbeitsgemeinschaft für die Abschaffung der Kriege«13.
Die »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus«
Boenheims »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« nahm auch Thesen auf, die bereits 1929 vor allem der »Verein Sozialistischer Ärzte« in der »Gaskriegsdebatte« propagiert hatte. Besonders erwähnenswert sind hier die marxistisch orientierten Psychoanalytiker Otto Fenichel (1887-1946) und Ernst Simmel (1882-1974), aber auch die sozialistische Berliner Stadträtin und Neuköllner Bezirksärztin Käte Frankenthal (1889-1976). Unter dem Pseudonym »Kenta« geißelte sie auch nach ihrer Flucht aus Deutschland in zahlreichen Artikeln die Aufrüstung Hitlers, speziell im Gesundheitswesen. In ihrem Beitrag „Deutsche Ärzte bereiten den Krieg vor“ von 1933 schreibt sie über den »Zivilschutz«:
„Diese ganze Aktion, in deren Dienst sich auch die Deutsche Ärzteschaft mit Begeisterung stellt, dient nicht der Abwehr von Angriffen, sondern sie dient der Vorbereitung zum Krieg … Es wird in Deutschland kein Auto angeschafft, kein Amt errichtet, kein Mensch ausgebildet, ohne auf das eine große Ziel hin zu visieren: Krieg! Wie hypnotisiert muß der ganze Heerhaufen, den man aus dem deutschen Volk bildet, auf dieses eine Ziel schauen: Krieg!“ 14
Noch im Herbst 1932 entstanden in Europa 11 nationale Sektionen der internationalen Ärztegesellschaft. Die deutsche hatte im Frühjahr 1933 fast 300 Mitglieder. Boenheim gründete nach seiner Rückkehr aus Amsterdam zusätzlich das »Deutsche Kampfkomitee gegen den imperialistischen Krieg«, ein Versuch, in letzter Minute die bisher verfeindeten Strömungen innerhalb des antimilitaristisch-pazifistischen Lagers wieder an einen Tisch zu bringen und zu gemeinsamer Aktion zu motivieren. Unter den 60 Mitgliedern waren neben Arbeitern aus Rüstungsbetrieben auch Albert Einstein, die Feministin Helene Stöcker (1869-1943), Heinrich Mann und die Pazifisten der »Deutschen Friedensgesellschaft« Otto Lehmann-Rußbüldt (1873-1964) und General a.D. Paul Freiherr von Schönaich (1866-1954). Neben zahlreichen Veranstaltungen gegen die Kriegsvorbereitungen überall in Deutschland initiierte es die Gründung innerbetrieblicher Komitees in Rüstungsfabriken, um so die Waffenproduktion zu verhindern und wenn möglich durch Streiks lahmzulegen.
Die »Internationale Gesellschaft der Ärzte gegen Krieg und Faschismus« inspirierte schließlich die Arbeit des »Komitees für Kriegsprophylaxe«, einer Arbeitsgemeinschaft der holländischen Medizinischen Gesellschaft15, und zahlreiche Ärzte in Großbritannien. Diese publizierten noch 1938 ein Buch mit dem Titel »The Doctor's View of War«. Im Vorwort schreibt John A. Ryle, Professor in Cambridge, wie eine Verweigerung ärztlicher Mitarbeit Kriege undurchführbar machen könnte16.
Die Boenheim'sche Gesellschaft markiert einen vorläufigen Höhepunkt ärztlichen Engagements gegen Krieg und Faschismus – in Deutschland jedoch nur für kurze Zeit. Bereits fünf Monate nach ihrer Gründung bereitete die Wahl Hitlers zum Reichskanzler der deutschen Sektion ein jähes Ende. Sie wurde zerschlagen, Boenheim am 28. Februar 1933 verhaftet (in der Nacht des Reichsbrandes). An der ersten Nachfolgekonferenz der Gesellschaft in London konnte kein deutscher Vertreter mehr teilnehmen.
Exil und Nachkriegszeit
Nur durch glückliche Umstände wurde Boenheim nach sechs Monaten aus der Spandauer Haft entlassen. Er emigrierte sofort nach Frankreich. Es folgte eine zweijährige Odyssee über Großbritannien, Palästina und Paris nach New York. Dort entwickelte er sich schon bald zu einem der führenden Akteure des politischen Exils. In zahlreichen Organisationen arbeitete er an leitender Position für eine Einheitsfront aller Deutsch-Amerikaner und Emigranten gegen Hitler – zuletzt im »Council for a Democratic Germany«, einer Allparteienkoalition zur Entwicklung politischer Programme für den demokratischen Wiederaufbau in Deutschland, unter Leitung des religiösen Sozialisten und Theologieprofessors Paul Tillich.
1949 kehrt Boenheim nach Deutschland zurück und folgte einem Ruf als Leiter der Universitäts-Poliklinik in Leipzig. Er bleibt trotz angeschlagener Gesundheit (friedens-)politisch aktiv und gründet zusammen mit dem Sozialhygieniker Wolfgang Oerter(*1920) – in Anlehnung an Amsterdam – die erste ärztliche Friedensgruppe der DDR, die »Friedensgemeinschaft Deutscher Ärzte«. Nach der Emeritierung leitete er während seiner letzten Lebensjahre das einst weltberühmte »Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften«.
Boenheim und die mit ihm international engagierten Ärzte des sozialistischen Spektrums formulierten wesentlich eindeutiger als alle Vorgänger eine berufsspezifische, letztlich medizinethisch begründete Verpflichtung aller im Gesundheitswesen Tätigen, sich ihrer Rolle in der Kriegsmaschinerie bewußt zu werden und die Mitarbeit radikal zu verweigern – als Anwalt aller tatsächlich und potentiell Geschädigten. Nicolai hatte 1918 anläßlich seiner schließlich erfolgten Strafversetzung und Degradierung noch geschrieben: „Ich bin der Meinung, daß ich durch die Tatsache meiner Approbation das moralische und juristische Recht erworben habe, dem Staate während eines Krieges nicht mit der Waffe, sondern mit ärztlichem Wissen zu dienen“, und „daß es entweder ein Zeichen von Pflichtvergessnheit oder aber ein Zeichen von Dummheit ist, in Zeiten, in denen man die Ärzte so bitter nötig braucht,…, einem Arzt die Ausübung seines Berufes unmöglich zu machen“ 17.
Obwohl er sich geweigert hatte, den Fahneneid zu schwören und sich damit einer vollständigen Unterordnung entzog, kritisierte er die Behörden ausschließlich auf dem Boden militärischer Logik, die Hindenburg in seinen Lebenserinnerungen deutlich umreißt:
„Würde unser Sanitätsdienst nicht auf der Höhe gestanden haben, auf der er sich tatsächlich befand, so hätten wir schon aus diesem Grunde den Krieg nicht so lange durchhalten können. die Leistungen der Feldsanitäter werden sich dereinst … als ein besonderes Ruhmesblatt deutscher Geistesarbeit und Hingabe für einen großen Zweck erweisen …“ 18.
Nicolai sah nicht das Dilemma ärztlicher Ethik zwischen Bewahrungspflicht gegenüber seinen Patienten und den Verwertungsinteressen der Armee.
Das minoritäre ärztliche Engagement der späten 20-er und 30-er Jahre hingegen gründete sich angesichts weiter perfektionierter Massenvernichtungsmittel auf die Überzeugung, ein moderner Krieg könne auch durch noch so gut organisierte medizinische Hilfe nicht humaner gemacht werden, im Gegenteil: Die Instrumentalisierung des Gesundheitswesens und die Tätigkeit des Roten Kreuzes nährten die Illusion von der Beherrschbarkeit der Folgen und senkten die Hemmschwelle zum Losschlagen. Wären im 2. Weltkrieg die reichlich vorhandenen C-Waffen wie ursprünglich vorgesehen zum Einsatz gekommen, hätte sich die Hilflosigkeit der Helfer schon damals offenbart. Nach Hiroshima und Nagasaki tritt sie jedoch noch offener zutage und mit ihr die zwingende Notwendigkeit wirksamer Prävention statt hilfloser Therapie.
Literatur
1) Association médicale internationale contre la Guerre (Hrsg.) (1910): Actes et manifestations diverses (1905-1910; Paris.
2)<~>Bleker, Johanna/Schmiedebach, Heinz-Peter (Hrsg.)(1987): Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865 bis 1985. Frankfurt/M.
3) Brocke, Bernhard vom (1984): Wissenschaft versus Materialismus: Nicolai, Einstein und die »Biologie des Krieges«. Mit einer Dokumentation von Rektor und Senat der Universität Berlin (»Wissenschaft und Militarismus"II); in: Annali dell'Instituto storico italo-germanico in Trento X 1984, 405-508.
4) Frankenthal, Käte (1981): Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin. Lebenserinnerungen einer Ärztin in Deutschland und im Exil (Hrsg.: Kathleen M. Pearle/ Stefan Leibfried); Frankfurt/M. – New York.
5) Kenta (d.i. Käte Frankenthal) (1933): Deutsche Ärzte bereiten den Krieg vor; in: Sozialärztliche Rundschau 4(1933), 115/116.
6) Hindenburg, Paul von (1920): Aus meinem Leben. Briefe Reden und Berichte (Hrsg: F. Endres, 1934); Leipzig.
7) Joules, H. (Ed.)(1938): The Doctor's View of War; London.
8) Lang, Karl (1983): Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher; Zürich (1917): Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines deutschen Naturforschers; Zürich.
9) ders. (1918): Warum ich aus Deutschland ging. Offener Brief an denjenigen Unbekannten, der die Macht in Deutschland hat; Bümplitz b.Bern.
10) Roorda, J.(Hrsg.)(O.J.[1939]): Medical Opinions on War (Published on behalf of the Netherlands Medical Association (Committee for war-prophylaxis)); Amsterdam.
11) Ruprecht, Thomas M. (1986): Einzelgänger und Außenseiter. Tradition und Beispiel frühen Engagements von Ärzten für den Frieden; in: Beck, Winfried/ Elsner, Gine/ Mausbach, Hans (Hrsg.)(1986): Pax Medica. Stationen ärztlichen Friedensengagements und Verirrungen ärztlichen Militarismus; Hamburg.
12) Schabel, Elmer (1987): Zwischen den Weltkriegen: Kritik des imperialistischen Krieges und die Gaskriegsdebatte im Verein Sozialistischer Ärzte 1924 – 1936; in Bleker, Johanna/ Schmiedebach, Heinz-Peter (Hrsg.)(1987), 173-190.
13)Schumann, Rosemarie (1985): Amsterdam 1932. Der Weltkongreß gegen den imperialistischen Krieg; Berlin (DDR).
14) Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 15. Oktober 1868 einberufenen beiden Häuser des Landtags. Haus der Abgeordneten, Band 1; Berlin 1869.
Anmerkungen
1) Sigmund-Freud-Museum Wien, Dokument Nr. 11.125(1); Zurück
2) vom Brocke (1985), 419; Zurück
3) nicht zu verwechseln mit Arnold Pick (1851-1924), Erstbeschreiber der Pick'schen Krankheit; Zurück
4) vgl. Schumann (1985); Zurück
5) InPreKorr, 2505 (20.09.1932); Zurück
6) vgl. Ruprecht (1986); Zurück
7) Stenographische Berichte ... (1869), 87; Zurück
8) Apôtre de la paix; in: Le Matin (Paris), 6.07.1895, S.1/2; Zurück
9) er erhielt den Nobelpreis für Medizin 1913 für die Erforschung der Überempfindlichkeitsreaktionen; von ihm stammt der Begriff »Anaphylaxie«; Zurück
10) Association ...(1910), 56-58 (Übersetzung T.R.); Zurück
12) nicht zu verwechseln mit Thomas H. Hodgkin (1798-1866), nachdem der »Morbus Hodgkin« benannt ist; Zurück
13) vgl. Ruprecht (1986), 15; Zurück
14) Kenta (1933), 116; zit. bei Schnabel (1987), 183; Zurück
15) Roorda (o.J.[1939]); Zurück
17) Nicolai (1918), 24 bzw. 20; Zurück
18) Hindenburg (1920), 136; Zurück
Thomas M. Ruprecht ist Arzt und arbeitet am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg