W&F 2003/4

Friedensbewegung und Friedensforschung

Ein vielschichtiges Verhältnis

von Andreas Buro

In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die »Ostermärsche gegen Atomwaffen in Ost und West« sich über die ganze Bundesrepublik ausweiteten und sich später als außerparlamentarische Opposition in der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« etablierten, wurde immer wieder eine eigene deutsche Friedensforschung gefordert. Etabliert gab es diese damals noch nicht, es gab nur einzelne Forscher, die sich ausgesuchter Themen annahmen. Die Atomwaffengegner waren gezwungen, sich ihre Kenntnisse weitgehend aus ausländischer wissenschaftlicher Literatur zu holen. Bertrand Russell und Linus Pauling, beide zweifache Nobelpreisträger, spielten eine große Rolle, aber auch der kritisch recherchierende Journalismus. Beispielhaft hierfür Robert Jungk mit seinem Buch »Heller als Tausend Sonnen«. Die Friedensbewegung setzte große Hoffnungen in eine zukünftige deutsche Friedensforschung, sie erhoffte sich in ihr einen starken, militärkritischen und auf Abrüstung orientierten Partner.

Bundespräsident Heinemann war es, der sich Anfang der siebziger Jahre für eine Förderung der Friedensforschung stark machte und in der »Aufbruchstimmung« jener Zeit – dem Beginn einer neuen Ostpolitik – wurden meist in Anlehnung an Universitäten die ersten deutschen Friedensforschungsinstitute gegründet, gefördert aus Bundes- und/oder Landesmitteln sowie von staatlichen und privaten Stiftungen. Die bekanntesten: die »Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung« in Frankfurt am Main und das Hamburger »Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik«. Dazu kamen Forscher oder Forschergruppen an Universitäten und Institutionen, die an militär- und friedenspolitischen Themen arbeiteten, finanziert aus Mitteln der Universitäten oder aus Drittmitteln. Institute wie die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen und auch die Bundeswehrhochschulen nahmen sich friedenspolitischer Themen an, wobei überraschenderweise Letztere nicht selten kritischere Ansätze vertraten als die zivilen Institutionen.

Die Friedensforschung war alles andere als homogen. Sie reichte von der eher konservativen Politikberatung, die militärische Optionen durchaus einschloss, bis hin zur gewaltfreien, sozialen Verteidigung, die besonders Theo Ebert in Berlin analysierte. Es gab eine große Bandbreite, und die Ansätze und Methoden waren für die auf Abrüstung drängende Friedensbewegung nur zum Teil von Interesse.

Während des Ost-West-Konflikts befasste sich ein großer Teil der Friedensforschung mit Fragen der Rüstungskontrolle. Ihr ging es darum, die wahnsinnige Steigerung von Zerstörungspotenzialen möglichst unter Kontrolle zu bringen, so dass diese nicht »aus Versehen« gezündet und Europa, vielleicht auch die USA und die UdSSR, vernichtet hätten. Hier handelte es sich nach Einschätzung vieler Friedensbewegter um eine Forschung zur Verhinderung von nicht gewollten Zerstörungsakten, um eine kontrollierte Aufrüstung, nicht aber um eine Orientierung auf Abrüstung und Friedensaufbau. Zu diesem Bereich gehörten auch die Bedrohungsszenarien, wie sie in den Eskalationsleitern von Kahn dargestellt wurden. Hinter ihnen stand eine Forschungsfrage mit höchst praktischer Bedeutung. Es ging darum für die westliche Seite die »Eskalationsdominanz« zu sichern – also Kriegsforschung unter dem Deckmantel der Friedensforschung.

In Kontrast dazu gab es jedoch auch die systematische Kritik der Abschreckungstheorien, wie sie etwa in den Untersuchungen von Dieter Senghaas zum Ausdruck kamen. Er arbeitete den Begriff von der »organisierten Friedlosigkeit« heraus. Später gab es wichtige Anstöße für eine Strategie der Deeskalation im Ost-West-Konflikt aus dem Max-Plank-Institut in Starnberg. Dort entwickelte der ehemalige Offizier der Bundeswehr Horst Afheldt Szenarien einer Defensivstrategie. Durch sie sollte es möglich sein, die Bedrohungs- also die Schwertpotenziale zu mindern, ohne im militärischen Sinne die Verteidigungsfähigkeit zu verlieren. In einem wechselseitigen Prozess sollte so Abrüstung, also nicht nur Rüstungskontrolle, vorangetrieben werden. Afheldts Anstoß hat damals eine breite Diskussion auch in der Friedensbewegung ausgelöst. Erfolgreich war er nicht, dafür fehlte der Wille zur politischen Verständigung.

»Die Friedensforschung« zu der »die Friedensbewegung« ein bestimmtes Verhältnis entwickeln konnte, gab es nicht. Vielmehr waren es stets sehr spezifische Zugänge und Verhältnisse je nachdem, um welche Art der Friedensforschung es sich handelte. Natürlich verdichteten sich Kooperation und Auseinandersetzung zwischen Forschung und Bewegung in Zeiten starker Mobilisierung der Friedensbewegung.

Die Vielgestaltigkeit des Verhältnisses verkomplizierte sich auch dadurch, dass es nicht »die Friedensbewegung« gab, sondern nur ein Konglomerat unterschiedlicher Ansätze und Grundorientierungen. Ich erinnere nur an die gewaltfrei-pazifistischen Traditionen, die sich in der Friedensbewegung finden, und an den zweiten großen Traditionsstrang den Anti-Militarismus, der aus der Arbeiterbewegung und ihren Umfeldern kommt. Während die pazifistischen Kräfte sich vornehmlich an dem Ziel der Abrüstung und an gewaltfreien Strategien der Konfliktbearbeitung ausrichteten, lehnten die anti-militaristischen Kräfte den gewaltsamen Konfliktaustrag durchaus nicht vollkommen ab. Die Unterstützung des militärischen Kampfes von Befreiungsbewegungen lag in ihrem Überlegungshorizont im Sinne »des letzten Gefechts« oder »des letzten Mittels«, also als einem »Gerechten Krieg«. Daraus ergab sich nicht selten die kuriose Situation der Nähe der sozialdemokratischen und der kommunistischen Teile der Friedensbewegung, die jeweils auf ihrer Seite der Ost-West-Front-Linie eine gewisse Berechtigung zur Verteidigung sahen und deshalb der vorhin schon erwähnten Rüstungskontrollpolitik viel näher standen als die aus pazifistischen Traditionen sich nährenden Teile der Friedensbewegung. Freilich war und ist die Heterogenität innerhalb der Friedensbewegung weit größer, als die hier nur genannten beiden Traditionslinien es vermuten lassen.

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes entstand für die Friedensbewegung eine gänzlich neue Situation. Sie musste sich aus den alten Konstellationen lösen und sich auf ganz neue Problem- und Strategiefelder einstellen. Die Stichworte lauten: Grenzen überschreitende zivile Konfliktbearbeitung; die neue unipolare Konstellation in der Weltpolitik; die Haltung zu internationalen Recht und seinen Institutionen; das Problem westlicher struktureller und militärisch gestützter Globalisierungspolitik und seiner Folgen; der Zerfall von Staaten und die verstärkte Privatisierung militärischer Gewalt; neue Formen asymmetrischer gewaltsamer Auseinandersetzungen mit ihrem auf beiden Seiten terroristischem Charakter. Ökologische und soziale Fragen gewinnen eine immer größere Bedeutung. Auch das sich verändernde Verhältnis innerhalb der Triade der hochindustrialisierten Welt, insbesondere der USA zu der EU und umgekehrt, werden immer wichtiger. Die deutsche und europäische Friedensbewegung stehen vor der großen Aufgabe, den militärischen Aufbau in der EU zur Ermöglichung eigener Angriffs- und Interventionsfähigkeit »out-of-area« zu verhindern und eine Orientierung auf eine Zivilmacht Europa, auf zivile Konfliktbearbeitung voranzutreiben und sie sollte dafür die Arbeit der Friedensforschung nutzen.

Die verschiedenen Forschungsinstitute befassen sich mit Rüstungskontrolle, Kriegsursachenforschung, ziviler Konfliktbearbeitung usw. Zum Teil bearbeiten sie eine große Bandbreite friedenspolitisch relevanter Themen, sie haben aber auch Schwerpunkte gesetzt, wie z.B. das IFSH auf Europa als Zivilmacht, die HSFK auf Demokratien und Frieden, das BICC auf Konversion, das INEF auf Global Governance und das SCHIFF auf die Zusammenarbeit in der Ostseeregion. Neue »kritische« – fast ausschließlich mit Projektgeldern arbeitende Institute und Forschungszusammenschlüsse sind entstanden, wie das Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFKG) oder der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS).

Die Friedensforschung liefert eine umfassende Expertise, die für die Friedensbewegung zugänglich ist. Neben den Veröffentlichungen der einzelnen Institute möchte ich hier als Beispiel auch das »Friedensgutachten« nennen, das gemeinsame Jahrbuch von fünf Instituten für Friedens- und Konfliktforschung. Im Jahrbuch 2003 haben das Bonn International Center for Conversion (BICC), das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), das Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und die Hessische Stiftung für Friedens und Konfliktforschung (HSFK) z.B. die »Frage nach der Zukunft von Kooperation oder Konfrontation in der neuen Weltordnung« in den Mittelpunkt gestellt und damit eines der wichtigsten friedenspolitischen Themen aufgegriffen: Die Ausarbeitung von Strategien zur Verschiebung der Gewichtung, weg vom militärischen Konfliktaustrag, hin zu ziviler Bearbeitung von Konflikten und Aussöhnungsprozessen.

Viele FriedensforscherInnen orientieren sich in erster Linie in Richtung Politikberatung und Politikberatung im Sinne der Friedensbewegung ist mit Sicherheit von größter Bedeutung, sie sollte aber eine engere Kooperation zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung einschließen. Eine starke Friedensbewegung gibt der Friedensforschung zusätzlich Gewicht und die Friedensbewegung ihrerseits braucht die Erkenntnisse der Friedensforschung. Sie muss sich in die Lage versetzen, aus dem großen Angebot von Forschung und Wissen, das für sie wichtige auszuwählen. Hierfür benötigt sie Forscher und Forscherinnen, die sich mit Zielen der Friedensbewegung identifizieren und die auch einmal bereit sind, Forschung im Sinne der Fragestellungen der Friedensbewegung voran zu treiben, bei gleichzeitiger kritischer Sichtung.

Das Verhältnis von Forschung und Bewegung wird dabei wie bisher durch gegenseitige Anregung und unvermeidliche Distanz gekennzeichnet sein.

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/4 Friedensforschung, Seite