W&F 2003/4

Friedensforschung für eine Praxis der Gerechtigkeit

von Ulrich Ratsch

Die These, die den Titel dieses Beitrags motiviert, lautet: Die Friedenswissenschaft muss ihren Gegenstandsbereich erweitern, um auf sich verändernde politische Konstellationen und daraus erwachsende neue Fragestellungen zu reagieren. Dabei werden alte Fragestellungen nicht ersatzlos aufgegeben. Die Themen Rüstungskontrolle und Abrüstung, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, Demokratisierung, Analyse akuter Krisenherde und viele andere stehen weiter auf der Agenda. Auch hat die Friedensforschung schon in der Vergangenheit den Problemen von Gerechtigkeit im nationalen und internationalen Rahmen Aufmerksamkeit gewidmet. Ich halte aber eine Gewichtsverlagerung für geboten.
Kriege werden heute vorwiegend innerstaatlich geführt (Bürgerkriege, Sezessions- und Autonomiekriege); zwischenstaatliche Kriege sind relativ selten geworden.1 Das bekannte Faktum soll ohne ausführliche Erläuterung hier nur konstatiert werden. Es hat seine Ursache in der radikalen Veränderung der Konfliktursachen. Gewaltsam ausgetragene Konflikte erwachsen heute kaum noch dem Hegemonialstreben oder territorialen Ansprüchen einzelner Staaten, sondern dem Streit um Macht zwischen Gruppen innerhalb eines Staates oder dem Autonomiestreben einer Volksgruppe oder der Absicht einer gesellschaftlichen Teilgruppe, Zugang zu Ressourcen zu erlangen. Das letzte war eines der klassischen Motive auch für das Handeln von Staaten, und auch heute ist z.B. die Kontrolle über Energiereserven und deren Transportwege ein zentrales Moment staatlicher Sicherheitspolitik.

Neue Konflikt-Konstellationen

Als Ursache gewaltsamer Konflikte tritt der Zugriff auf Ressourcen heute aber häufiger als Motiv subnational operierender Gruppen oder transnational agierender nichtstaatlicher Akteure auf. Ressourcen wirken nun als »Brandbeschleuniger« für so genannte ethnische Konflikte und für Sezessionskriege. An die Stelle berechenbarer Akteure, der Staaten, treten vergleichsweise amorphe Gruppen, deren Rationalität viel schwieriger zu fassen ist. Das Handeln staatlicher Akteure erschien so kalkulierbar, dass in den sechziger und siebziger Jahren versucht wurde, ihre Handlungsabläufe in mathematische Modelle abzubilden (spieltheoretische Modelle, Simulationstechniken), um die Genese und den Ablauf von Konflikten simulieren zu können. Schon damals war der Erfolg vergleichsweise gering. Aber noch geringer sind die Erfolgsaussichten, die Dynamik des Konfliktaustrags in Bürgerkriegen, ethnischen Spannungen und den Streitigkeiten um Ressourcen zu modellieren.

Konflikte eskalieren wegen eines Bündels von Ursachen: Wirtschaftliche und soziale Benachteiligung, ethnische Diskriminierung, Unterdrückung durch autoritäre Regime. Sie werden immer häufiger durch religiöse Fundamentalismen aufgeheizt. Entscheidend für die eskalierende Wirkung ist, dass Unterdrückung, Marginalisierung oder Diskriminierung als solche perzipiert werden. Ohne die Ungerechtigkeitserfahrung bleiben objektiv schlechte Lebensverhältnisse oft über lange Zeit ohne politische Wirkung. Armut wird als Ungerechtigkeit empfunden, wenn die Differenz zwischen den eigenen Lebensverhältnissen und denen sozial besser gestellter Menschen wahrgenommen und als Resultat vorenthaltener Chancen erkannt wird.

Zu Marginalisierung und Verelendung trägt in vielen Ländern des Südens die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen bei.2 Eine der Konsequenzen sind Migrationsströme und als deren Folge Spannungen und Auseinandersetzungen. Die Umweltflüchtlinge ziehen im eigenen Land umher oder überschreiten die Grenze zu einem Nachbarstaat3. Daraus entstehen Konflikte mit der ansässigen Bevölkerung, die häufig zu Unrecht als ethnische etikettiert werden.

Ungerechtigkeitserfahrung wirkt auch im Falle der Umweltursachen als Konflikt verschärfender Faktor. Zwar gibt es armutsbedingte Zerstörungen der natürlichen Lebensgrundlagen, meist liegt die Schuld aber bei externen Einflüssen: Umwidmung von Agrar-Flächen zur Exportproduktion, Ausbeutung von Wäldern für den Weltmarktbedarf an Holz oder Fleisch und anthropogene Klimaveränderungen. Nicht nur die »Alliance of small island states« (AOSIS) weist darauf hin, dass sie durch den Klimawandel bedroht sind. Mehr als 50% der registrierten »Naturkatastrophen« waren im zurückliegenden Jahr klimabedingt. Verursacher des Klimawandels sind vor allem die Staaten des Nordens und der »moderne« Sektor in den Ländern des Südens. Hauptbetroffene sind die unteren Bevölkerungsschichten im Süden. Der UNEP-Direktor Klaus Töpfer hat in diesem Zusammenhang vom Krieg des Nordens gegen den Süden gesprochen.

Die offenkundige Gleichgültigkeit des Nordens gegenüber den Opfern der »Globalisierung«, der Disparitäten des Welthandels, der genannten Umweltzerstörungen aber auch von autoritären politischen Regimen, die nicht selten vom Norden gestützt werden, verschärft die konfliktträchtige Spaltung zwischen Nord und Süd. Dabei sind Nord und Süd keine geographischen Begriffe, sondern Zuordnungen aufgrund politischer und ökonomischer Differenzen.

Die genannten Faktoren, die zu Konflikten führen können, sind nicht einfach einzelnen Staaten zuzuschreiben, es handelt sich um globale Probleme. Das trifft auch auf die Konsequenzen zu. Bürgerkriege greifen in vielen Fällen auf das Territorium benachbarter Staaten über. In den Krieg in der Republik Kongo sind unter anderem Uganda und Ruanda involviert, obwohl nicht von einem Krieg zwischen diesen Staaten gesprochen werden kann. Grenzüberschreitende legale und illegale Handelstransaktionen dienen der Finanzierung der kriegführenden Fraktionen. Von internen Auseinandersetzungen zerrüttete Staaten sind nicht in der Lage, dies wirksam zu verhindern. Die Regierungen verlieren das Machtmonopol oder gar jegliche Fähigkeit zur Durchsetzung staatlichen Handelns. Auch deshalb wird eine Theorie Internationaler Beziehungen, die als Akteure nur die Staaten mit ihren Interessen, Ansprüchen, Allianzen und Handlungsoptionen in den Blick nimmt, den heute dominierenden Konfliktszenarien nicht gerecht.

Frieden ist mehr als die Abwesenheit gewaltsamer Konflikte

Die Verelendung der Menschen in Ländern des Südens ist Gegenstand der Entwicklungstheorie – aus politologischer, ökonomischer oder soziologischer Perspektive. Die Naturzerstörung wird von Teildisziplinen der naturwissenschaftlichen Ökologie, der Wirtschaftsgeographie, der Klimaforschung und anderen Spezialwissenschaften untersucht. Ich habe die Prozesse der Verelendung und Naturzerstörung als Konfliktursachen aufgeführt und aus diesem Blickwinkel der Friedensforschung zugeordnet. Die Wissenschaftler in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt) haben sich Anfang der siebziger Jahre dafür entschieden, die Analyse der sich vertiefenden Kluft zwischen Nord und Süd und der ökologischen Krise im Zusammenhang und als Teil der Friedensforschung zu sehen, und zwar nicht nur wegen ihres Beitrags zur Genese gewaltsamer Konflikte. Das dahinter stehende Motiv lässt sich knapp formulieren: Die Welt kann nicht als friedlich bezeichnet werden, solange viele Menschen unnötiges Leid erfahren.

Wenige Zahlen sollen die Brisanz dieses Problemfeldes vor Augen führen. Die KOSIMO – Datenbank des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) weist aus, dass in den gewaltsam ausgetragenen Konflikten der verschiedenen dort dokumentierten Klassen im Zeitraum von 1985 bis 1999 insgesamt zwischen 2,2 Millionen und 4,8 Millionen Opfer zu beklagen waren.4 Die Spanne der Daten entspricht der naturgemäß sehr großen Unsicherheit der verfügbaren Zahlenangaben. Gleich, ob die Wahrheit näher an den oberen oder an den unteren Grenzen des Datenbereichs liegt: Die Zahlen sind erschreckend. Ihnen lassen sich aber mindestens ebenso schreckliche Zahlen gegenüberstellen, die nicht in den Kriegs- und Konfliktdatenbanken verzeichnet sind: Noch immer sterben jährlich fünf Millionen Kinder an den Folgen von Mangelernährung, das sind im oben gewählten Zeitraum von 1985 bis 1999 ca. 75 Millionen Opfer.5 Dabei handelt es sich nicht um Opfer höherer Gewalt, von Naturkatastrophen oder anderen von Menschen nicht kontrollierbaren Einflüssen. Es sind Opfer falscher Agrarpolitik, menschlicher Umweltzerstörung, ungerechter Handelsbeziehungen und verfehlter so genannter Entwicklungspolitik.Auch Naturkatastrophen sind mit Verlusten an Menschenleben verbunden. Vulkanausbrüche und Erdbeben sind höhere Gewalt, die wir hinnehmen müssen. Die wachsende Zahl und Intensität von Katastrophen, die von anthropogenen Klimaänderungen ausgelöst werden, sind hingegen auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen, oder werden zumindest von vielen Opfern oder von Vertretern/Sprechern betroffener Bevölkerungsgruppen so wahrgenommen. Auch hierfür gibt es Zahlen: In dem betrachteten Zeitraum von 1985-1999 beträgt die Zahl dieser Opfer ca. 400.000, und zwar mit steigender Tendenz.6

Diese Fakten lassen sich pointiert zusammenfassen: Ungerechtigkeit in den Nord-Süd-Beziehungen und innerhalb einzelner Gesellschaften ist die Ursache für mindestens ebenso viele menschliche Opfer wie Kriege, Bürgerkriege, Guerillakämpfe oder Terrorismus. Das rechtfertigt, ja nötigt dazu, dass sich die Friedensforschung diesen Phänomenen widmet. Sie treten in neuen Formen und mit wechselnder Intensität auf, sind aber, ebenso wie Kriege, eine alte menschliche Erfahrung. In der FESt wurde deshalb als Gegenstand der Friedensforschung schon zu Anfang der siebziger Jahre definiert: „Frieden ist Schutz gegen innere und äußere Gewalt; Frieden ist Schutz von Not; Frieden ist Schutz der Freiheit. Diese Parameter hängen derart zusammen, dass jede politische Ordnung friedlos sein muss und Gewalt erzeugt, die einen diesen Parameter unterschlägt.“7 In einer anderen Formulierung wurde derselbe Gedanke folgendermaßen ausgedrückt: „Frieden ist eine Prozess, der darauf abzielt, Not, Gewalt und Unfreiheit zu minimieren.“

Die Änderungen der Kriegs- und Konfliktszenarien lassen diese Beschreibung des Gegenstandsbereichs der Friedensforschung heute noch zutreffender erscheinen als zu der Zeit, da sie formuliert wurde. Die Friedensforschung hat sich einige Zeit über einen erweiterten Sicherheitsbegriff gestritten und exponierte Vertreter haben sich gegen eine Verwendung eines Sicherheitsbegriffs gewandt, der z.B. »Human Security«, »Ecological Security« oder andere umfasst. Die Begründung, ein derart erweiterter Sicherheitsbegriff werde so unscharf, dass er als tragender Begriff in einer wissenschaftlichen Theorie kaum noch verwendbar wäre, ist sicher richtig, wenn man anstrebt eine »Theorie der Sicherheit« nach dem methodischen Vorbild der Naturwissenschaften zu formulieren. Es ist jedoch zweifelhaft, ob dieses Modell von Theorie geeignet ist, die komplexen Wechselwirkungen zu erfassen, die in der Dynamik von Konfliktabläufen eine Rolle spielen (kulturelle, sozialpsychologische, ökonomische, ökologische etc.). Hier versprechen Modellierungsverfahren, Szenariotechniken und empirisch induktive Verfahren vermutlich mehr Erfolg. Damit ist gemeint, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse in Grenzen prognostisch, auf jeden Fall aber handlungsanleitend verwendbar sein sollen. Angesichts der vielfältigen von Menschen ausgehenden Bedrohungen menschlichen Lebens und der Beeinträchtigungen menschlicher Lebenschancen darf Friedensforschung

  • sich nicht nur auf kriegerische Konflikte beschränken,
  • Konfliktabläufe nicht nur beschreiben,
  • sondern muss Ursachenanalyse zum Zweck der Prävention durchführen.

Wenn die Betonung der Konfliktprävention ernst gemeint sein soll, muss die Friedensforschung den Konfliktursachen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen und ihren Verflechtungen verstärkt Aufmerksamkeit widmen. Dies erfordert neben der beschriebenen Ausweitung des Gegenstandsfeldes verstärkte Bemühungen um interdisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Expertise.

Anmerkungen

1) Diese Verschiebung ist von einer Reihe von Autoren beschrieben worden. Hier nur beispielhaft: Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF), Hamburg: http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/pw/Akuf/kriege_archiv.htm; Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung: Konfliktbarometeer 2001, Heidelberg: http://www.hiik.de/konfliktbarometer/index.htms; Kaldor, Mary: New and Old Wars Organized Violence in a Global Era, Cambridge, 1999. (deutsche Übersetzung: Neue Kriege, Frankfurt, 2000).

2) Zum Zusammenhang von Umweltzerstörung und Konflikten haben weltweit mehrere Gruppen gearbeitet. Beispielhaft seien nur die Arbeiten von Nils Petter Gleditsch am Peace Research Institute Oslo (PRIO) genannt, etwa: Gleditsch, Nils Petter: Environmetal Change, Security and Conflict, in: Crocker, Chester A./Hampson, Fen Osler/ Aall, Pamela. Turbulent Peace: The Challenge of Managing International Conflict, Washington D.C. 2001.

3) Entgegen der verbreiteten Befürchtung sind Ziele der Migration viel seltener im Norden des Globus zu finden als im Süden.

4) Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung, http://www.hiik.de/kosimo_en.html

5) Gardner, Gary / Halwell, Brian: Underfed and Overfed, Worldwatch Paper 150, Washington D.C., 2000, S. 8.

6) Abramovitz, Janet N.: Unnatural Disasters, Worldwatch Paper 158, Washington D.C., 2001, S. 8ff.

7) Picht, Georg: Was heißt Friedensforschung?, in: Picht, Georg / Huber, Wolfgang (Hrsg.): Was heißt Friedensforschung? Stuttgart/München 1971, S. 33.

Dr. Ulrich Ratsch ist stellvertretender Direktor der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt)
Bei obigem Beitrag handelt es sich um einen leicht überarbeiteten Artikel aus Sicherheit und Frieden (S+F) 4-2002.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/4 Friedensforschung, Seite