W&F 2016/1

Für den Frieden forschen?

von Beatrix Austin, Konstanze Jüngling, Mathias Krams und Götz Neuneck

Friedensforschung ist facettenreich. Als interdisziplinäre Forschung verfügt sie über ein breites Themenspektrum, und mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche und weltpolitische Entwicklungen scheinen die Herausforderungen zu wachsen. Aber welche Motivationen und Prinzipien liegen dieser Disziplin zu Grunde? Welche Themen prägen Friedensforschung? Was leistet Friedensforschung, beziehungsweise was kann oder soll sie leisten? Wie verhält sich Friedensforschung zur Friedensbewegung bzw. zum Pazifismus? In den folgenden Beiträgen nähern sich vier Friedensforschende aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten diesen Fragen und erläutern aus ihrer persönlichen Perspektive, was sie in ihrer Forschung heute motiviert und beschäftigt und was und wen Friedensforschung erreichen soll.

Konflikttransformation mit Verstand, Herz und Kreativität

von Beatrix Austin

In meinem familiären Umfeld und Freundeskreis treffe ich nicht selten auf Personen, denen so gar nicht einleuchten will, was ich mit meinen Studien der Politikwissenschaft (Schwerpunkt Internationale Beziehungen) und Public Administration (Schwerpunkt Conflict Management) nun anfange. Sich – in welcher Form auch immer – für den Frieden einzusetzen, erscheint den Verwunderten als naiv und idealistisch, auf jeden Fall als eine Sisyphusaufgabe, bei der der Stein, der den Berg wieder herunter rollt, gar jedes Mal größer zu werden scheint. Doch gerade angesichts einer zunehmend gewaltvollen Welt scheint es mir unabdingbar, unermüdlich Verstand, Herz und Kreativität dafür einzusetzen, dass menschliche Gemeinschaften allerorts Alternativen zur Gewalt entdecken. Ebenfalls gilt es publik zu machen, dass genau dies auf der ganzen Welt immer wieder Friedensstifterinnen und Friedensstiftern gelingt.

In diesem Sinne verfolge ich die Friedensforschung als Aufgabe, fundierte Alternativen zu Krieg und Gewalt zu entdecken, zu prüfen und zu verbreiten. Als Mitherausgeberin des »Berghof Handbook for Conflict Transformation« habe ich Gelegenheit, solche Friedensstrategien gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus einer Vielzahl von Disziplinen und Weltregionen unter die Lupe zu nehmen: Forschung trifft auf Praxis und umgekehrt, was ich für immens wichtig erachte. Gleichzeitig begreife ich eine Tätigkeit in der Friedensforschung auch als Anforderung an das eigene berufliche und private Leben, in dem Gewaltlosigkeit ebenfalls den Maßstab setzen muss.

Wenngleich die Friedensforschung in den vergangenen Jahrzehnten an Profil gewonnen hat und in Universitäten, Institutionen und im öffentlichen Leben verankert ist, scheint sie nach wie vor eine Nischenwissenschaft zu sein. Dabei ist sie immens facettenreich – methodisch und thematisch herrscht eine Vielfalt, die es gelegentlich schwer macht, einen »roten Faden« zu erkennen oder eine klare »Friedenstheorie« zu vermitteln. Gleichzeitig kann die Nische jedoch genutzt werden, um kritische Fragen zu stellen – für mich eine der Hauptaufgaben der Friedensforschung – und diese Fragen auch mit denen zu erörtern, denen andernorts wenig Stimme zugestanden wird, nämlich den lokalen Akteuren in fragilen Friedensprozessen. Hier erfüllt die Friedensforschung den wichtigen Zweck, Herrschaftsverhältnisse kritisch zu beleuchten und zugleich in ihrem Zuschnitt und ihrer Methodik gewaltlastige Herrschaft nicht zu wiederholen.

Thematisch sehe ich die Friedensforschung breit aufgestellt. Zentral ist in meinen Augen, dass sie anwendungsorientiert ist und sich der praxeologischen Diskussion stellt. Kurt Lewin wird der Ausspruch zugeschrieben, „Research that produces nothing but books will not suffice“ (Forschung, bei der nur Bücher herauskommen, ist nicht gut genug) – ein wie für die Friedensforschung gemachter Satz. Zudem muss Friedensforschung offen bleiben für neue Impulse und Entwicklungen. Im »Berghof Handbook« untersuchen wir derzeit zum Beispiel das oft als »neu« beschriebene Phänomen, dass Gewalt außerhalb von Krieg und Bürgerkrieg zum Teil epidemische Formen angenommen hat: als soziale und privat organisierte Gewalt, als sexualisierte Gewalt, als Gewaltkriminalität etc. Bislang ist die Friedensforschung in diesem Themenfeld wenig in Erscheinung getreten, obgleich doch ihre Vision eines friedlichen Miteinanders unmittelbar betroffen ist und auch ihre Erkenntnisse (vor allem aus der konstruktiven Konfliktbearbeitung) relevant sind. Ein weiteres Thema, das ich als elementar ansehe, ist, dem Umgang mit gewaltvoller Vergangenheit (sowohl individuell als auch kollektiv/sozial) und seiner Rolle für die Friedfertigkeit oder Konflikthaftigkeit einer Gesellschaft nachzugehen.

Die Friedensbewegung spielt für meinen Werdegang und in meiner Tätigkeit keine prägende Rolle. Nachdrücklich geformt haben mich hingegen zum einen die Unterstützungskampagnen der Anti-Apartheidsbewegung in und für Südafrika, mit denen ich vor allem im schulischen und kirchlichen Umfeld in Berührung gekommen war. Zum anderen hat mich vom ersten Auslandsaufenthalt zu Studienzeiten an der Umgang mit meiner Verantwortung als junge deutsche Bürgerin beschäftigt, die andernorts schnell Stellung beziehen muss zur Gewaltvergangenheit Deutschlands.

Obgleich die Konzepte des Pazifismus und der Gewaltlosigkeit im Kern meinen Werten sehr nahe stehen, ist mir der Begriff der Konflikttransformation näher, da er zwar eine umfassende Vision formuliert (Verhaltensweisen, Werte und Strukturen so umzugestalten, dass sie einen gewaltfreien Umgang mit Konflikten ermöglichen und die soziale Gerechtigkeit befördern), gleichzeitig jedoch klar die »Nichtlinearität« von Konfliktverläufen anerkennt und in den Blick nimmt, wie selbst bei erneuten Rückfällen in die Gewalt immer von neuem eine Bewegung hin zum Frieden möglich werden kann.

Beatrix Austin, Dipl.Pol. und MA Public Administration, ist Senior Coordinator bei der Berghof Foundation. Sie arbeitet berufsbegleitend an einer Doktorarbeit zur Viktimisierung und Friedensförderung in Nachkriegsgesellschaften.

Für den Frieden über den Frieden forschen

von Konstanze Jüngling

Als ich vor acht Jahren ein Studium und anschließend eine Tätigkeit in der Friedensforschung aufnahm, trieb mich vor allem eine Frage an: Wie lassen sich fundamentale Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, durchsetzen? Während eines Praktikums bei einer Flüchtlingshilfeorganisation hatte mir ein Asylbewerber aus der russischen Nordkaukasus-Republik Tschetschenien von seinen Erfahrungen im Zweiten Tschetschenienkrieg erzählt. Tief schockiert über die dortigen Gräueltaten russischer und tschetschenischer Sicherheitskräfte grübelte ich darüber nach, was man gegen solche Verbrechen ausrichten kann. Ich wollte mehr über die Voraussetzungen für eine Abkehr von Gewalt herausfinden, um diese Erkenntnisse anschließend in die Praxis einzubringen. Als Doktorandin am Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) ging ich folglich der Frage nach, unter welchen Bedingungen internationale Menschenrechtskritik die Großmächte USA und Russland zu Verhaltensänderungen mit Blick auf Orte wie Guantánamo oder Tschetschenien bewegen kann. Dieses Ziel, für den Frieden über den Frieden zu forschen, motiviert mich weiterhin und stellt für mich ein zentrales Element von Friedensforschung dar.

Aufgabe der Friedensforschung ist es aus Sicht der HSFK, „Vorschläge [zu] entwickeln, wie die Ursachen von Konflikten möglichst frühzeitig erkannt, ihrer gewaltsamen Austragung vorgebeugt und politische Regelungen für ihre Lösung getroffen werden können“.1 Im Unterschied zur Konfliktforschung ist die Friedensforschung damit explizit auf den Frieden hin orientiert und in diesem Sinne normativ. Eine solche „präskriptive Dimension“2 im Sinne einer klaren Zielvorgabe leitet meine Themenauswahl und hilft mir, die gelegentlich im Forschungsalltag auftretende Frustration zu überwinden. Ohne Konfliktforschung wäre Friedensforschung freilich kaum vorstellbar. Wer an der Verhinderung und Beilegung gewaltsamen Konfliktaustrags interessiert ist, kommt nicht umhin, die Ursachen bzw. Bedingungen von Konfliktdynamiken zu erforschen. Friedens- und Konfliktforschung sind für mich also zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Forschen für den Frieden bedeutet, dass Friedensforschung anwendungsorientiert ist und ihre Erkenntnisse an relevante Entscheidungsträger*innen weitergibt. Sie sollte zuvorderst diejenigen erreichen, die »friedensrelevante«, d.h. für eine Problematik bedeutsame, Positionen bekleiden – von Politiker*innen und Diplomaten*innen bis hin zu Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen. Sie sollte auch Akteure ansprechen bzw. einbinden, die willentlich zu »Unfrieden« beitragen und scheinbar nicht am Frieden interessiert sind. Die Chance der Friedensforschung besteht aus meiner Sicht gerade darin, einen Raum zu schaffen, in dem die Konsequenzen eines Handelns frei von politischen bzw. diplomatischen Zwängen auf der Basis solider Forschung aufgezeigt und diskutiert werden können.

In einem neuen Projekt beschäftigt mich die Frage nach einem Zusammenhang zwischen den teils hochrepressiven Politiken im Nordkaukasus und einer beobachtbaren Transnationalisierung der von dort ausgehenden nichtstaatlichen Gewalt, wie sie sich u.a. in der Zahl an nordkaukasischen Kämpfern*innen beim »Islamischen Staat« widerspiegelt. Kategorisch auszuschließen, künftige Ergebnisse dieser Forschung mit denjenigen Akteuren zu diskutieren, die für eben diese repressiven Politiken verantwortlich sind, wäre verfehlt. Der Dialog mit vermeintlich »friedensunwilligen« Akteuren kann durchaus erfolgreich sein. Immer wieder haben sich etwa Rebellengruppen im Falle ihrer Einbindung durch zivilgesellschaftliche Akteure freiwillig humanitären Normen verpflichtet. Die Grenzen eines Engagements mit Stiftern*innen von Unfrieden sind dagegen dort erreicht, wo dies von den Gewaltakteuren zur puren Legitimationsbeschaffung genutzt wird. Jedoch sollte die Friedensforschung im Sinne ihres klassischeren Auftrags selbstverständlich auch immer die breitere, ebenfalls »friedensrelevante« Öffentlichkeit im Blick haben.

Ungeachtet bzw. gerade wegen seiner normativen Stoßrichtung ist Forschen über den Frieden für mich eine empirisch-analytische Angelegenheit und setzt – wie jede seriöse Forschung – eine ausreichende Unabhängigkeit der Forschenden voraus. Der oben erwähnte Anspruch, die Ursachen von Konflikten frühzeitig zu erkennen, heißt, dass Friedensforschung sich explizit auch solcher Themen annehmen sollte, die es (noch) nicht in den Fokus der Öffentlichkeit geschafft haben. Friedensforschung denkt langfristig und benötigt dementsprechend eine breite thematische Perspektive. Dessen unbenommen sollte freilich Friedensforschung gerade aufgrund ihrer thematischen Breite in der Lage sein, kurzfristig Antworten auf drängende Gegenwartsfragen bereit zu halten. Es ist die Mischung aus einem antizipativen Ansatz und einer expliziten Gegenwartsorientierung, die ein Forschen über den Frieden zum Forschen für den Frieden macht.

Konstanze Jüngling schloss ihre Promotion an der HSFK im November 2015 ab und ist jetzt wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg.

Strukturen offen legen und Wege bahnen

von Mathias Krams

Der Wunsch, mich in meinem Master mit den Themen Frieden und Konflikt auseinanderzusetzen, begründet sich in der Faszination für die Herausforderungen und zugleich Potenziale, die Konflikte mit sich bringen. Außerdem begeistert mich an dem Themengebiet seine normative Dimension -: das heißt für mich, durch Studium und Arbeit einen Beitrag zur Annäherung an Frieden zu leisten.

Kernelemente einer Ausbildung in der Friedensforschung sind meiner Einschätzung nach daher nicht nur die Aneignung von Wissen sowie die Herausbildung analytischer Fähigkeiten; eine Beschäftigung mit den behandelten Themen verlangt auch nach einer ständigen Reflexion und Infragestellung seiner eigenen gesellschaftlichen Positionierung und inhaltlichen Einstellungen im Kontext sich ständig wandelnder Realitäten. Frieden verstehe ich dabei in seiner weiten Definition (positiver Frieden), was bedeutet, dass zu dessen Erreichung neben der Bearbeitung von direkter Gewalt, wie z.B. kriegerischen Handlungen, auch die Überwindung von struktureller Gewalt in Form von sozialen Ungleichheiten und institutionalisierter Diskriminierung gehört. Immer stärker erkenne ich im Verlauf meines Studiums jedoch auch, dass dafür Strukturen und Praktiken in der Wissenschaft selbst angegangen werden müssen, die Ungleichheiten verstärken oder ignorieren. Dies ist insbesondere bei einer Wissenschaft problematisch, die auf den Anspruch zurückgeht, einen aktiven Beitrag zum Frieden zu leisten.

Aktuell scheint in der Friedens- und Konfliktforschung hingegen der Fokus vornehmlich darauf zu liegen, über den Frieden anstatt für den Frieden zu forschen. Sie droht damit den Kontakt zu denjenigen Akteur*innen zu verlieren, die sich aktiv für Frieden einsetzen, wie soziale Bewegungen und die darin involvierten Aktivist*innen. Persönlich halte ich das für fatal, da dadurch das für mich wichtige Ziel einer auf Veränderung abzielenden Forschung aus den Augen verloren wird. Zudem führt die starke Drittmittelabhängigkeit der Forschung dazu, dass – einer kapitalistischen Verwertungslogik folgend – Erkenntnisse im schlimmsten Falle sogar für militärische Zwecke missbraucht werden.

Hoffnung gibt jedoch, dass auch innerhalb dieser Wissenschaft Räume existieren, in denen ein Austausch sowohl zu den genannten Kritikpunkten als auch zu Veränderungsmöglichkeiten stattfindet. Verwiesen sei hier beispielsweise auf die im Oktober 2015 in Marburg studentisch organisierte »konferenz von unten«3 oder auf den jüngst gegründeten Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung innerhalb der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK). Generell stellt sich jedoch die Frage nach den Möglichkeiten und dem Potenzial alternativer Formen der Wissensgenerierung und -vermittlung.

Ich selbst beschäftige mich derzeit inhaltlich vor allem mit dem Phänomen des Widerstandes, seinen Voraussetzungen sowie seinem Potential für gesellschaftliche Veränderungen. Auch zur Bearbeitung konkreter Konflikte kann eine Analyse von Widerstand einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie hilft, gewaltsame Strukturen offenzulegen und damit den Weg zur Annäherung an einen positiven Frieden zu ebnen. Besonders in den Fokus rückt hierbei die Analyse von Macht, sowohl in ihrer restriktiven Form zur Unterdrückung von Widerstand als auch in ihrer befähigenden Ausprägung, die soziale Organisierung und Widerstand ermöglicht.

Bei der Beschäftigung mit solchen Fragen verschwimmt die Grenze zwischen Friedensforschung und Konfliktforschung gezwungenermaßen, denn um sich der Förderung von Frieden zu widmen, bedarf es einer kritischen Analyse des Konflikts sowie der Herrschaftsverhältnisse, in die dieser eingebettet ist. Im Unterschied zur Konfliktforschung zeichnet sich die Friedensforschung nach meinem Verständnis jedoch durch ihre Orientierung auf ein festes, normatives Ziel aus: den »Frieden«.

Explizit zeigt sich dieser normative Charakter in der Debatte um pazifistische Konfliktbearbeitungsstrategien. Während sowohl Medien als auch Vertreter*innen der Wissenschaft und politische Entscheidungsträger*innen militärische Interventionen oftmals mit ihrer vorgeblichen Alternativlosigkeit und objektiven Notwendigkeit zum Erreichen bestimmter Ziele legitimieren, werden Plädoyers für ein gewaltfreies Vorgehen häufig als irrational und idealistisch abgetan. Für mich persönlich sehe ich die Herausforderung einer dem Pazifismus verschriebenen Friedensforschung daher darin, vermeintlich neutrale und rationale Empfehlungen für eine gewaltsame Konfliktbearbeitung zu dekonstruieren und ihre Unzulänglichkeit zum »Machen von Frieden« und zum Beseitigen der für den Konflikt ursächlichen strukturellen Gewaltverhältnisse ans Licht zu bringen. Zugleich ist es nötig, gewaltfreie Alternativen aufzuzeigen und diese durch eine explizite Stellungnahme zu postulieren, um damit die vordergründige Alternativlosigkeit zu durchbrechen.

Sich dieser Aufgabe zu widmen, darin sehe ich eine zentrale Herausforderung, der sich sowohl Friedensbewegung als auch kritische Wissenschaft gemeinsam annehmen sollten.

Mathias Krams ist Master-Studierender für Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg.

(Natur-) Wissenschaftliche Expertise wird gebraucht

von Götz Neuneck

In den 1980er Jahren machten die Bedingungen des Kalten Krieges, die eskalierende Überrüstung (Stichworte: Mittelstreckenraketen, Strategic Defense Initiative/SDI, Weltraumbewaffnung), die gefährlichen Militärdoktrinen und der mögliche Einsatz von Nuklearwaffen in Europa konkrete Schritte zur Kriegsverhütung nötig. Naturwissenschaft und Technik hatten im 20. Jahrhundert die Grundlage für das damalige Wettrüsten gelegt.

Folglich war es konsequent, die naturwissenschaftliche Expertise im Umkehrschluss auch einzusetzen, um Analysen über neue Waffenentwicklungen und ihren destabilisierenden Charakter durchzuführen oder darauf aufbauend neue Vorschläge für Krisenstabilität, Vertrauensbildung, Abrüstung und Verifikation zu erarbeiten und international zu diskutieren. Die Pugwash-Bewegung, die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs, Greenpeace und andere Nichtregierungsorganisationen leisteten diesbezüglich wichtige Beiträge. Die Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge der Vergangenheit (Mittelstreckenvertrag, Vertrag über die Begrenzung konventioneller Rüstung in Europa, nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Umfassendes Atomteststopp-Abkommen u.a.) wie auch künftige Begrenzungs- und Nichtverbreitungsregime (Verbot von Weltraumrüstung und von Killer Robots) kommen ohne naturwissenschaftlich-technische Expertise nicht aus. Vor dem Hintergrund des voranschreitenden technischen Fortschritts (Stichworte Cybertechnologien, vernetzte Kriegsführung etc.) müssen die Trends militärischer Forschung und Entwicklung beobachtet und ihre sicherheits- und friedenspolitischen Implikationen frühzeitig untersucht und diskutiert werden.4

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu Beginn der 1990er Jahre war die Hoffnung groß, diese Arbeiten würden nicht mehr gebraucht. Frieden sollte zukünftig stärker zu einer Aufgabe der Gestaltung eines positiven Friedens denn der bloßen Erhaltung des Friedens werden. Schnell wurde jedoch klar, dass weder die globale militärische Rüstungsdynamik gebrochen noch das Denken in Kategorien des Kalten Krieges (Abschreckung, Intervention, Weiterverbreitung etc.) beendet ist. Zu viele »Instrumente« wurden aus dieser Zeit übernommen (Beispiel Raketenabwehr), und die etablierten Rüstungskontrollregime drohen sogar zu zerfallen. Die heutigen Rüstungskontrollverträge sind veraltet, und die Abrüstung ist rückläufig bzw. wird durch neue Modernisierungsschübe überholt. Deshalb werden weiterhin sowohl naturwissenschaftlich-technische Analysen wie auch die Erarbeitung und Diskussion regionaler wie globaler Abrüstungsvorschläge (Beispiel nuklearwaffenfreie Welt) sowie der sich verändernden Bedingungen des Friedens gebraucht. Dies in Ausbildung, wissenschaftlicher Politikberatung, Vorträgen und Studien voranzutreiben, scheint mir weiterhin eine lohnenswerte Arbeit zu sein. Ziele sind dabei die solide und nachhaltige Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die Erarbeitung friedenspolitischer Erkenntnisse und ihre Umsetzung in die Praxis (in der Politik, bei internationalen Organisationen und in der Zivilgesellschaft), und zwar auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene.

Zweck der Friedensforschung ist es, unter den aktuellen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts die Bedingungen für Frieden und Sicherheit zu studieren, die Öffentlichkeit über gefährliche Entwicklungen, die zu Krieg und katastrophaler Zerstörung führen, aufzuklären und international zur friedlichen Krisenbewältigung, Prävention und Kriegsverhütung beizutragen. Friedensforschung sollte sich an den aktuellen Problemen und Randbedingungen orientieren und Vorschläge erarbeiten, die Öffentlichkeit und Politik erreichen. Auch Fragen von Global Governance und der Schaffung sozialer Gerechtigkeit gehören dazu. In diesem Sinne sollte die Friedensforschung unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Methoden die Bedingungen studieren, die zu mehr Frieden und Sicherheit führen, Kriege verhüten und den Gewalteinsatz verringern; außerdem sollte sie Vorschläge für eine friedlichere Welt erarbeiten.

Friedensforschung sollte primär, offensichtlich und auf Dauer dem Frieden dienen. Elementare Themen sind Kriegsursachenforschung, Abrüstung und Rüstungskontrolle, Krisenprävention, Konfliktmediation und -lösungsmechanismen, stabile Friedensordnungen, Recht und Frieden, künftige Kriegsbilder, Klima und Sicherheit, Friedensvor- und -nachsorge etc.

Der Pazifismus ist auch für die Friedensforschung ein wichtiges Grundprinzip. Gewaltlosigkeit ist ein entscheidendes Leitprinzip von Frieden, allerdings nicht immer praktikabel und durchhaltbar, insbesondere in einer Welt voller Waffen und wenig wirksamer Konfliktlösungsmechanismen. Dabei muss jede/r Forscher/in selbst entscheiden, ob für ihn/sie die pazifistische Alternative den besten Weg zum Frieden verspricht. Im Praxistext hat der Pazifismus wichtige Erfolge zu verzeichnen, ein Allerheilmittel ist er leider nicht.

Auch der Friedensbewegung kommt in diesem Gefüge eine wichtige Rolle zu. Sie kann auf gefährliche Fehlentwicklungen aufmerksam machen, öffentlichen Druck auf die Politik ausüben und den Friedensgedanken in die Gesellschaft bringen sowie gesellschaftliche Diskurse anregen und knüpft dabei oft an die Ergebnisse der Friedensforschung an. Dazu ist ein intensiver Austausch der Forscherinnen und Forscher mit lokalen Gruppen und Nichtregierungsorganisationen hilfreich. Gemeinsame Tagungen oder Studien können zu einem fruchtbaren Austausch und fortgesetztem wechselseitigen Dialog führen.

Die Friedensbewegung kann sich bei den Friedensforschungsinstituten, z.B. durch Veröffentlichungen wie dem jährlich erscheinenden Friedensgutachten oder den Studien und Arbeitspapieren, über vielfältige Themen informieren oder Friedensforscher zu Vorträgen und Diskussionsrunden einladen. Dabei ist es wichtig, dass friedensbewegte Menschen zeigen, womit sie nicht einverstanden sind bzw. wo die Alternativen liegen. Beispielsweise hätte die Politik ohne die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten für weitere nukleare Abrüstung das Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen inzwischen wohl aufgegeben, deshalb ist gesellschaftliches Engagement auf diesem Feld immer noch entscheidend. Dies gilt aber nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Staaten, wie die USA, Frankreich und Russland. Hier wäre mehr Zusammenarbeit sehr wünschenswert.

Der Physiker Prof. Dr. Götz Neuneck ist stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.


Anmerkungen

1) Siehe hsfk.de, »Was ist Friedensforschung?«.

2) Sabine Jaberg (2011): Friedensforschung. In: Hans Gießmann und Bernhard Rinke (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden: VS Verlag, S.53-70, 53.

3) Siehe dazu »konferenz von unten – Ein Streitgespräch« in dieser Ausgabe.

4) Siehe dazu auch das FONAS-Forschungsmemorandum »Naturwissenschaftliche Friedensforschung in Deutschland« in dieser Ausgabe.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/1 Forschen für den Frieden, Seite 7–11