W&F 2010/3

Für eine Handvoll Dollar

Versöhnung und Reintegration in Afghanistan

von Susanne Schmeidl und Nick Miszak

Das »Afghanistan Peace and Reintegration Program« (APRP), das der Friedensjirga Anfang Juni zur Diskussion vorgelegt wurde, steht auf einem sehr wackeligen Fundament. Es geht davon aus, dass in Afghanistan wirtschaftliche und politische Bedingungen existieren, die eine Form nachhaltigen Regierens erlauben, die auch für Talibankämpfer attraktiv ist. Außerdem baut das Programm auf einem vereinfachten Verständnis der Taliban auf, dass sich stark auf politische Kompromisse mit der Talibanführung und auf finanzielle Abfindungen konzentriert. Im vorliegenden Beitrag beleuchten die Autoren den afghanischen Vorschlag und zeigen mögliche Alternativen auf. Dabei heben sie hervor, dass es wichtig ist, die Komplexität der Situation zu verstehen und die zu ergreifenden Maßnahmen diesem Verständnis anzupassen. Sehr wichtig ist es, das große Tabu der Vergangenheitsbewältigung anzugehen. Auch wenn ein Versöhnungsprozess nicht leicht ist, können es sich Afghanistan und die internationale Gemeinschaft nicht leisten, eine friedliche Entwicklung erneut durch falsche Ansätze zu verspielen.

Mittlerweile ist auch dem letzten Beobachter klar geworden, dass die Intervention von 2001 die Taliban nicht vernichtet, sondern lediglich in den Untergrund und später in den Aufstand gegen den Afghanischen Staat und ihre ISAF Schutzmacht getrieben hat. Seit 2006 haben die Taliban in Afghanistan zunehmend an Stärke gewonnen. Gestützt wurden sie dabei von ausländischen Geldgebern und Akteuren, begünstigt wurden sie durch eine schwache und korrupte afghanische Regierung, einem Militäreinsatz der internationalen Gemeinschaft, der zahlreiche zivile Opfer bei Luftangriffen in Kauf nahm und zu dem nächtliche Hausdurchsuchungen gehören, und einer Politik, die nicht in der Lage war, die Kriegsfürsten in ihrer Macht zu beschränken. Nach der Einsicht der internationalen Gemeinschaft, dass die Probleme in Afghanistan rein militärisch nicht lösbar sind, stellt sich die Frage nach möglichen politischen Alternativen. Damit sind Versöhnung und Reintegration von Aufständischen gut acht Jahre nach der Bonner Afghanistan-Konferenz ein heiß diskutiertes Thema und zentrales Anliegen der afghanischen Regierung und ihrer internationalen Unterstützer. Obwohl die Bevölkerung von Afghanistan und internationale Hilfsorganisationen diesen verspäteten Schritt begrüßen, gibt es Zweifel, ob der vom »Afghanistan Peace and Reintegration Program« verfolgte Ansatz nicht in eine weitere Sackgasse führt.

Das Afghanischen Friedens- und Reintegrationsprogramm

Das Ziel des Afghanischen Friedens- und Reintegrationsprogramms ist die Förderung von Frieden durch einen politischen Prozess, in dem sich Talibankämpfer und -führung von der Gewalt abwenden und an einem konstruktiven Prozess der Reintegration beteiligen. Als Anreiz dient die Chance, vom Frieden und einer nachhaltigen Regierungsführung und Entwicklung profitieren zu können. Der Plan sieht eine zweiteilige Strategie vor. Erstens sollen die afghanische Sicherheit und die zivilen Regierungsinstitutionen gestärkt werden. Zweitens geht es um die Schaffung politischer und psychologischer Bedingungen, die einen dauerhaften und gerechten Frieden ermöglichen.

So einleuchtend das Konzept auf den ersten Blick erscheinen mag wird nach einer genauen Betrachtung klar, dass der Plan auf wackeligem Untergrund aufgebaut ist. Die Initiatoren des Programms gehen davon aus, dass in Afghanistan wirtschaftliche und politische Bedingungen existieren, die ein nachhaltiges Regieren erlauben, in das man Talibankämpfer einbinden kann. Dabei ist es gerade das Fehlen von Vertrauen in den eigenen Staat (insbesondere Polizei und Justiz), die Enttäuschung über die Regierungsführung der vergangenen acht Jahre, und die ungerechte Verteilung von wirtschaftlicher und politischer Macht zwischen einer Minderheit von Interventionsgewinnern – vor allem Nordallianz und alliierte paschtunische Kriegsfürsten – und den Verlieren – zu denen die Masse der afghanischen Zivilgesellschaft gehört –, das viele Afghanen dazu treibt, sich den Taliban anzuschließen, oder sich ihnen nicht in den Weg zu stellen.

Vereinfachtes Verständnis der Taliban

Der erste Schritt auf der taktischen und operationalen Ebene zielt auf die Reintegration des sogenannten Taliban-Fußvolks und auf lokale Führungskräfte, die nicht primär ideologisch motiviert sind. Sie bilden – so die Annahme – den größten Teil der Talibanbewegung (Islamic Republic of Afghanistan 2010, S.5). Der Schwerpunkt liegt hier auf »Wiedereingliederungspaketen«, von denen nicht die Einzelperson, sondern die Gemeinschaft, in die die Aufständischen zu integrieren sind, profitieren soll. Solche Wiedereingliederungspakete enthalten Mittelzuwendungen, wie zum Beispiel Entwicklungsprojekte, aber auch Programme zur beruflichen Bildung und Deradikalisierung. Allerdings scheint diesen Paketen die vereinfachte Hypothese zu Grunde zu liegen, dass die Taliban entweder aus Armut (»Zehn-Dollar-Taliban«) oder Ideologie kämpfen, nicht aber etwa wegen einer berechtigten Kritik an der Regierung oder unter dem Einfluss anderer Staaten, die die Taliban instrumentalisieren, um ihre eigenen regionalpolitischen Strategien zu fördern.

Eine sinnvolle Reintegrationsstrategie sollte deshalb auf einem fundierten Verständnis der Aufständischen aufbauen und nicht auf der Propaganda der Talibanführung, die nur zu gern die Einheit der Bewegung und ihrer Ziele propagiert. Der interne Zusammenhalt der Taliban sollte nicht überbewertet werden. Die Taliban sind ein komplexes Phänomen, das weder durch Ideologie, Armut, Stammesfehden, schlechte Regierungsführung, Steuerung von Außen, oder militärische Fehltritte allein hinreichend erklärt werden kann. Gleichzeitig sind all diese Elemente Teil des facettenreichen Aufstandes, weshalb nicht jeder Mitläufer der Taliban automatisch für ein politisch motiviertes Reintegrationsprogramm geeignet ist.

Die meisten Afghanen machen einen klaren Unterschied zwischen Taliban mit einer politischen bzw. ideologischen Haltung (die häufig beschuldigt werden, von außen gesteuert zu sein), und einer breiten Masse, die sich aus diversen anderen Gründen dem Aufstand anschließt oder diesen toleriert. Die Differenzierung zwischen dem »harten Kern« und den »gemäßigten« Taliban, die in den internationalen Medien zirkuliert, hat im ländlichen Afghanistan wenig Bedeutung.

Hier wird eher zwischen dem fairen und ehrlichen Taliban, »Taliban-e asli« (der wirkliche Taliban), oder auch »Taliban-e Pak« (der saubere Taliban) und dem niederträchtigen und grausamen (zalem ) Taliban, meist fremde Kämpfer aus dem Ausland oder anderen Regionen von Afghanistan, unterschieden (van Bijlert, 2009, S.160). Letztere sind häufig auch an der Sprache zu erkennen. Dazu gehören auch kriminelle Elemente, sogenannte »Taliban-e duzd« (Dieb-Taliban) bzw. Taugenichtse (badmash) (vgl. van Bijlert, 2009, S.160). Des Weiteren kann man folgende analytische Unterscheidungen vornehmen:

Die Alte Garde Der harte Kern des ersten Taliban-Regimes von Mullah Omar. Neben dem ausländischen Taliban sind sie die ideologischste Gruppe und werden vom Pakistanischen Geheimdienst (ISI) gefördert und gesteuert. In dieser Gruppe ist Versöhnung ohne die Einbeziehung Pakistans und ohne ein Verzicht auf bestimmte Menschenrechte, insbesondere solcher von Frauen und Minderheiten, sehr schwer durchzusetzen.

Der Neo-Taliban Hauptsächlich junge Männer, die vorwiegend in privaten Koranschulen, den sogenannten Madrassas in Pakistan durch ausländische Taliban oder durch Mullahs, die der alten Garde nahe stehen, ausgebildet und indoktriniert werden. Wie die Vertreter der Alten Garde, sind die Neo-Taliban sehr entschlossen, verfügen aber über ein verzerrtes Bild von ihrem eigenen Land, in dem sie nie gelebt haben. In dieser Gruppe könnten Deradikalisierungsprogramme ansetzen. Dabei sollte auch die Förderung und Kontrolle religiöser Schulen in Afghanistan in Betracht gezogen werden (türkisches Modell).

Politische Opportunisten Ehemalige Mujahedien oder lokale Kriegsfürsten, die hoffen, durch den Anschluss an die Taliban politischen Einfluss und/oder Vorteile im Kampf um die Verteilung von Ressourcen zu gewinnen. Um diese Gruppe kooperationswillig zu stimmen, sind ein verbessertes Justizsystem und gute Regierungsführung wichtiger als Geld. Allerdings sind einige dieser Vertreter möglicherweise Intriganten von denen angenommen werden muss, dass sie in Friedenszeiten nicht wirklich kooperieren.

Opportunisten aus wirtschaftlichen Gründen Kriminelle, Waffen- und Drogenhändler, denen es in der jetzigen Situation gut ins Konzept passt, sich den Taliban anzuschließen. Hier scheinen ein solider Rechts- und Polizeiapparat sowie funktionierender Strafvollzug wirksamer als ein Reintegrationsprogramm. Das Entfernen krimineller Elemente würde die Taliban wirksam schwächen, da sie mit kriminellen Netzwerken kooperieren, um die Regierung zu delegitimieren.

Der Außenseiter-Taliban Einzelpersonen, oder deren Familienmitglieder, die von Kriegsfürsten in Regierungsfunktionen entweder aus dem politischen Prozess ausgeschlossen und/oder schikaniert, bzw. Opfer von Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder willkürlicher Verhaftung wurden. Gerade in dieser Gruppe sind Vergangenheitsbewältigung und eine verbesserte Repräsentanz und Transparenz der Regierung unabdingbar.

Der Armutstaliban Auch wenn die Idee des »Zehn-Dollar-Taliban« eine sehr starke Vereinfachung darstellt, so gibt es durchaus Personen, die sich den Taliban aus einer ökonomischen Notlage heraus anschließen. Manche Bauern kompensieren auf diese Weise ihre Verluste im Opiumanbau. Hier sind Reintegrationspakete und eine nachhaltige Entwicklung sinnvoll und wünschenswert.

Der Zwangstaliban Viele schließen sich den Taliban aus fehlenden Alternativen an. Wenn ein Dorf in einem Gebiet unter Talibanherrschaft liegt und vermeiden will, dass fremde Taliban die Kontrolle übernehmen, ist es am einfachsten, eine eigene Talibanzelle zu gründen. Mancherorts, wie z.B. in Kunduz, gehen die Taliban auch mit massiven Einschüchterungsmethoden vor. Hier ist es wichtig, die afghanischen Sicherheitskräfte zu stärken, um den Druck durch fremde Taliban zu vermindern. Die Annahme, dass es einfach ist, sich dem Taliban zu widersetzten, muss jedoch dringend korrigiert werden.

Die Vielfalt an Beweggründen, sich den Taliban anzuschließen, weckt starke Zweifel an der Wirksamkeit eines Versöhnungsprogramms, das sich auf politische Kompromisse mit der Talibanführung und finanzielle Abfindungen beschränkt. Darüber hinaus gilt es sich in Erinnerung zu rufen, wie viel Geld schon in die relativ unsicheren Gebiete Afghanistans geflossen ist (Waldman, 2008). Es stellt sich also die Frage, warum die Talibankämpfer nicht schon früher ihre Waffen gegen Lehrbuch und landwirtschaftliches Gerät eingetauscht haben. Afghanistans kurze Geschichte seit der Bonner Konferenz ist davon geprägt, dass immense Geldmittel in schlecht geplante Programme investiert wurden. Trotz zweier Entwaffnungsprogramme, dem »Disarmament, Demobilisation and Reintegration« (DDR) und dem »Disbandment of Illegal Armed Groups« (DIAG) Programm ist es bis heute nicht gelungen, ehemalige Mujahedinkämpfer erfolgreich in die Gesellschaft zu reintegrieren. Auch das erste Talibanreintegrationsprogramm, das »Strengthening Peace Programme« (Programme Tahkim Sulh PTS), war erfolglos (Waldman 2010, Semple 2009). Warum also sollte das neu erdachte Programm auf einmal besser sein? Die starke Zunahme von Milizen in Kunduz spricht Bände über den fehlenden Erfolg von Entwaffnungs- und Reintegrationsprogrammen in Afghanistan. Die zunehmende Unsicherheit in dieser Provinz ist eine Chance für ehemalige Mujahedinführer, wieder an Ansehen zu gewinnen. Ein Prozess der nachhaltigen Befriedung birgt für sie nur Nachteile.

Ein Blick auf die bisherige Entwicklung lässt den Schluss zu, daß ein neues Programm aufgelegt wird, sobald ein altes gescheitert ist, ohne genau zu analysieren, was anders gemacht werden sollte. Auch mit Blick auf das neue afghanische Friedens- und Reintegrationsprogramm scheint es, als ob man nicht viel von der Vergangenheit gelernt hat. Zum einen setzt es eine problematische Taktik fort, die viele Afghanen verzweifeln lässt: Belohnt werden Gebiete und Gemeinschaften, in denen Unsicherheit und Gewalt herrscht. Wo bleibt die Belohnung für die Afghanen, die trotz Kritik an der Regierung versuchen, an einem demokratischen Prozess friedlich mitzuwirken (Frogh 2010)? Man kommt zum Schluss, dass in Afghanistan Gewalt statt friedfertiges Verhalten und Kooperation belohnt wird.

Wiedereingliederung ohne Versöhnung

Der zweite »strategische und politische« Teil des Programms zielt auf die Führung der Taliban ab (Islamic Republic of Afghanistan 2010, S.5). Die Angebote auf dieser Ebene beinhalten die Trockenlegung der Taliban-Zufluchtsorte unter anderem in Pakistan, den Wegfall von UN-Sanktionen, die Loslösung von Al-Qaida, weitere politische Zugeständnisse und ein mögliches Exil in Drittländern. Gerade dieser Teil macht vielen Afghanen Sorgen, weil er nicht ausgereift erscheint. Nach Ansicht vieler Afghanen, ist dass »Afghanische Problem« mindestens so sehr selbst verschuldet, wie Folge der Einmischung anderer Staaten. Demnach ist die Versöhnungs- und Reintegrationsstrategie von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht auch auf regionaler Ebene unterstützt wird. Die Verhaftung von Talibanführern wie Mullah Baradar in Pakistan im Februar dieses Jahres könnte man in diesem Zusammenhang auch so interpretieren, dass die pakistanische Führung nur willens ist, verhandlungsbereite Taliban auszuliefern, und den harten Kern schützt.

Zudem fragen sich viele Afghanen, welchen Preis Präsident Karzai zu zahlen bereit ist, um sich mit den Taliban auszusöhnen. Bis jetzt hat die afghanische Regierung den Begriff Aussöhnung durch Vergangenheitsbewältigung nicht verwendet. Auch in dem neuen Programm scheint das nicht vorgesehen. Viele Afghanen befürchten deshalb ein weiteres politisches Zugeständnis in der Art des Amnestiegesetzes, das Präsident Karzai trotz wiederholten Beteuerns, dass er es nie unterschreiben würde, still und heimlich im März diesen Jahres verabschiedet hat (Human Rights Watch 2010). Wenn der Präsident schon einmal Kriegsverbrecher ohne eine öffentliche Debatte begnadigt hat, wieso sollte er es nicht ein zweites Mal tun? Indirekt lässt sich folgern, dass man Sitz und Stimme in der Regierung und politische Konzessionen weiterhin nicht auf Grundlage von Kompetenz oder durch faire und transparente Verhandlungen erreicht, sondern sie sich sprichwörtlich erkämpft.

Ein Teil der Probleme in Afghanistan existiert gerade aus dem Grund, dass sich das Land nie richtig mit seiner Vergangenheit und vor allem nicht mit Menschenrechtsverstößen beschäftigt und Kriegsverbrechern Zugang zur Regierung erlaubt hat. Ein Afghane, der an einer Jirga für die Kriegsopfer am 9. Mai 2010 teilnahm, bringt das Dilemma auf den Punkt: „Ich fordere nicht Rache, sondern Gerechtigkeit. Ich möchte wissen, warum sie taten, was sie taten und ich benötige, dass sie es zumindest zugeben, und sich bei den Leuten entschuldigen.“ (Frogh 2010).

Kann man Frieden wirklich mit Stillschweigen und Unterdrückung, ohne Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung erreichen? Und das alles zu welchem Preis? Möglicherweise stehen mit dem neuen Programm die hart erkämpften Rechte der afghanischen Gesellschaft, insbesondere die der Frauen, für einen Deal mit den Taliban auf dem Spiel, ohne dass eine Garantie für Frieden damit verbunden ist. Wo ist die Garantie, dass im Falle einer Regierungsbeteiligung der »verärgerten Brüder« die Probleme und Konflikte in Afghanistan wirklich überwunden werden? So wie die afghanische Regierung und die internationalen militärischen Streitkräfte die Komplexität der Taliban vereinfachen, so fehlt auch ein detailliertes Verständnis von den lokalen Konflikten, die den Aufstand und insbesondere den Unwillen, sich den Taliban zu widersetzen, schüren. Neben dem Fehlen öffentlicher Güter wie Sicherheit, Gerechtigkeit und ökonomischen Möglichkeiten, sind die folgenden Faktoren nicht zu unterschätzen:

Machtkämpfe zwischen Stammesführern, die eine Seite dazu bringen, ihre Unterstützung für die Regierung zurückzuziehen und/oder die aktive Unterstützung der Taliban zu suchen;

Manipulation von latenten Spannungen zwischen Stämmen und Gemeinschaften, aber auch gezielte Marginalisierung und Ausschluss von Stammesführern durch Kriegsfürsten, die der Regierung nahestehen oder selbst Regierungsämter bekleiden;

Marginalisierung und Vernachlässigung von spezifischen Gruppen wie Nomaden (Kuchi) und Binnenflüchtlingen (Schmeidl, Mundt und Mizak 2009; Schmeidl und Mundt 2010);

Fehler der internationalen Militärs, insbesondere durch ihre Kooperation mit lokalen Kriegsfürsten.

Fazit

Trotz des dringenden Bedarfs an Versöhnung und Wiedereingliederung gibt es Zweifel, ob die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft auf dem richtigen Weg sind. Der gegenwärtige Vorschlag, der zur Diskussion steht, scheint der Komplexität der lokalen Konflikte und der Talibanbewegung nicht gerecht zu werden. Individuen, die entweder selbst in der afghanischen Regierung oder zumindest eng mit ihr verbunden sind, spielten in den vergangenen Jahren eher die Rolle des Konfliktverschärfers, als die einer neutralen Instanz. Das Fehlverhalten von korrupten Regierungsbeamten hat viel zur Desillusionierung der Bevölkerung und damit zum Wachstum der Taliban beigetragen. Ein Reintegrations- und Versöhnungsprogramm, das solchen Individuen anvertraut wird, das eigene Schuldverhalten aber nicht zum Teil des Prozesses macht, setzt sich von Anfang an der Gefahr aus, als einseitig angesehen zu werden.

Versöhnung und Reintegration müssen als ein Prozess begriffen werden, der auf verschiedenen Ebenen, also international, national und lokal gleichzeitig ansetzt. Außerdem sind die folgenden Punkte zu berücksichtigen:

Die internationalen und afghanischen Akteure müssen sich auf eine Strategie einigen und am selben Strang ziehen. Hier ist der erste Schritt getan, auch wenn es unklar ist, was die afghanische Regierung davon hält, wenn Teile der US-Armee versuchen, Taliban durch Garantien und andere Maßnahmen davon zu überzeugen, die Waffen zu strecken (Bumiller 2010).

Der Umgang mit Friedensstörern und Kriminellen. Auch wenn alle eine politische Lösung bevorzugen, muss man sich damit auseinandersetzen, wie man jenen Individuen auf der Regierungs- und Talibanseite begegnet, die einer politischen Lösung grundsätzlich mit Abneigung gegenüber stehen. Viele lokale Machthaber sind an Versöhnung und Reintegration nicht interessiert, sie bevorzugen den Status Quo, der ihnen Macht und Reichtum garantiert. Ein häufig identifizierter »Friedensstörer« ist Pakistan. Präsident Karzai hat in einem Gespräch mit dem Spiegel angesprochen, was viele Afghanen denken: Das größte Problem ist der sichere Unterschlupf der Taliban im Nachbarland.1 Ein Stammesältester aus dem Südosten beschreibt das Problem folgendermaßen: „Solange man den Hauptschalter nicht ausschaltet, ist es hart, die einzelnen Glühbirnen nacheinander herauszuschrauben.“ Und ein oberster Richter aus Kunduz meint: „Man muss einen Fluss an der Quelle blockieren, sonst überschwemmt er einfach andere Gebiete.“ Allerdings scheinen sich viele internationale Politiker gerade vor diesem Problem zu scheuen.

Der Umgang mit bzw. die Lösung von lokalen Konflikten bezüglich Ressourcen, wie beispielsweise Land und Wasser, die von Taliban ausgenutzt werden. Hier ist es entscheidend, Maßnahmen zu finden, die es erlauben, Landkonflikte unbürokratisch, schnell und nachhaltig zu lösen. Ein besonderes Augenmerk sollte marginalisierten Gruppen (Nomaden, Binnenflüchtlinge) zukommen, welche die Taliban unter Umständen als Schutzmacht begreifen.

Auch wenn wir in den vergangenen acht Jahren versucht haben, das zu ignorieren: An Vergangenheitsbewältigung, Versöhnung und Übergangsjustiz führt kein Weg vorbei. Im Streit darüber, ob Sicherheit höher zu gewichten sei als Gerechtigkeit, hat bisher das Sicherheitsdenken die Oberhand behalten. Dabei hat gerade die afghanische Zivilgesellschaft wiederholt darauf hingewiesen, dass sie sich Gerechtigkeit wünscht und dass Menschenrechtsverbrecher keinen Zugang zur Regierung finden dürfen. Es ist interessant, dass in einem Land, in dem es traditionelle Schlichtungsmethoden gibt, die auf »restituierender Justiz« und Täter-Opfer-Ausgleich anstelle von Strafvollzug basieren, dieses Werkzeug noch nicht zur Vergangenheitsbewältigung in Betracht gezogen wurde, obwohl es in manchen Gegenden von Stammesältesten als Hilfestellung zur Versöhnung und Reintegration angeboten wurde.

Bisher sehen die Perspektiven für Versöhnung und Reintegration in Afghanistan schlecht aus. Dennoch gibt es Möglichkeiten, wenn man bereit ist, Zeit zu investieren, um die Komplexität der Situation zu verstehen, die Maßnahmen diesem Verständnis anzupassen und das große Tabu der Vergangenheitsbewältigung anzugehen. Afghanistan ist an einem Punkt angekommen, wo der Preis der nachhaltigen Wiedereingliederung weit über eine handvoll Dollar hinausreicht.

Anmerkung

1) http://www.spiegel.de/international/world/0,1518,675140,00.html [download 28. April 2010].

Literatur:

Bumiller, Elisabeth (2010): U.S. Tries Luring Taliban Foot Soldiers Back to Society, The New York Times, 23 May 2010, http://www.nytimes.com/2010/05/24/world/asia/24reconcile.html [download 1. Juni 2010].

Frogh, Wazhma (2010): Will the Afghan government’s reintegration and reconciliation efforts bring peace to Afghanistan?, Afghan Voices Series, Sydney: The Lowy Institute.

Human Rights Watch (2010): Afghanistan: Repeal Amnesty Law, 10 March 2010, http://www.hrw.org/en/news/2010/03/10/afghanistan-repeal-amnesty-law [download 1. Juni 2010].

Islamic Republic of Afghanistan (2010): Afghanistan Peace and Reintegration Program (APRP), Draft, Kabul: National Security Council, D&R-Commission, April 2010.

Schmeidl, Susanne/Alexander D. Mundt (2010): Nomads or Internally displaced? The Transformation of Afghanistan‘s Kuchi, Vortrag an der 51th Annual Convention of the International Studies Association, New Orleans, LA, 17-20 February 2010.

Schmeidl, Susanne/Alexander D. Mundt/Nick Miszak (2009): Beyond the Blanket: Towards more Effective Protection for Internally Displaced Persons in Southern Afghanistan, Joint Report of the Brookings/Bern Project on Internal Displacement and The Liaison Office, Washington D.C.: The Brookings Institution.

Semple, Michael (2009): Reconciliation in Afghanistan, Washington, DC: US Institute of Peace.

SPIEGEL Interview with Hamid Karzai: There Has To Be Peace Now, 31 January 2010, http://www.spiegel.de/international/world/0,1518,675140,00.html [download 1. Juni 2010].

van Bijlert, Martine (2009): Unruly Commanders and Violent Power Struggles: Taliban Networks in Uruzgan“, in: Antonio Giustozzi (ed.) Decoding the New Taliban: Insights from the Afghan Field, London: Hurst & Company, S,155-179.

Waldman, Matt (2008): Falling Short: Aid Effectiveness in Afghanistan. Kabul: ACBAR.

Waldman, Matt (2010): Golden Surrender? The Risks, Challenges, and Implications of Reintegration in Afghanistan, Discussion Paper, Kabul: Afghanistan Analyst Network.

Susanne Schmeidl ist Mitbegründerin der afghanischen Nichtregierungsorganisation The Liaison Office (TLO) und begleitet deren Forschungs- und Friedensföderungsvorhaben. Sie ist Gastforscherin am Asia-Pacific College of Diplomacy, The Australian National University. Sie arbeitet zu Afghanistan seit 2000 und leitete das swisspeace Büro in Kabul zwischen 2002 und 2005 und koordierte das Afghan Civil Society Forum.
Nick Miszak arbeitet seit drei Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei The Liaison Office’s (TLO) in Kabul, Afghanistan mit Schwerpunkt auf Konfliktanalysen in den Provinzen Kandahar, Uruzgan und Helmand. Vorher arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department der Gesellschaftswissenschaften der Universität Fribourg und als Assistent bei swisspeace in Bern.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/3 Afghanistan: Krieg ohne Ende, Seite 23–26