George Pattery SJ. (2021): Gandhi als Glaubender. Eine indisch-christliche Sichtweise. Herausgegeben von Klaus Hagedorn und Thomas Nauerth. Norderstedt: BoD. ISBN 9783755700562, 240 S., 9,90 € (print).
Der Autor dieses Buches, George Pattery, entstammt einer katholischen Familie in Zentral-Kerala, Südindien, deren auch kirchliches Engagement er verankert sieht in einer langen – vorportugiesischen – christlichen Tradition in dieser Region. Vor diesem Hintergrund studierte Pattery Philosophie und Theologie in Pune, Maharashtra. Nach der Priesterweihe in Kerala arbeitete er zunächst in einer Gemeinde seiner Diözese und als Dozent an einem Priesterseminar in Kalkutta. 1985 trat er dem Jesuitenorden bei. Ein Promotionsstudium an der Gregoriana in Rom schloss er 1990 mit einer Dissertation über Gandhi ab. Die Studie »Gandhi – the Believer: An Indian Christian Perspective« (Delhi 1996) nimmt diese Thematik auf; mit dem BoD-Band liegt Patterys Arbeit erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Die Auseinandersetzung des Autors mit dem Leben und Werk von Mohandas K. Gandhi war primär für eine indische Leser*innenschaft gedacht. In ihrem Vorwort betonen die Herausgeber allerdings, wohl zu Recht, Pattery stehe keineswegs in einem ausschließlich indisch-christlichen Fragehorizont; es gehe ihm vielmehr um eine sowohl handlungsleitende wie theologische Perspektive für die christlichen Kirchen im 21. Jahrhundert weltweit. In der jesuitischen Maxime »Kontemplation in Aktion« – mit der Grundhaltung »Gott in allem suchen und finden« – sehe der Autor eine „Schnittfläche zur Spiritualität des Hindu Gandhi“ (S. 21).
Diese hier nur anzudeutende knappe und abstrakte Charakterisierung von Patterys Ansatz könnte Missionarismus-Verdacht aufkommen lassen, also die Vermutung nahelegen, es gehe ihm um christliche bzw. um jesuitisch-katholische Vereinnahmung Gandhis. Das ist sicher nicht Patterys Leitintention. Dafür stehen Gandhis Person, sein politisches Wirken und Lehren, deren soziokultureller Kontext und Verankerung in der philosophischen und religiösen Tradition Indiens eindeutig im Vordergrund. Analoge Aspekte der christlichen Tradition werden nur sparsam und bisweilen kaum erkennbar angesprochen. Patterys Buch ist insofern auch keine typisch religionsvergleichende Arbeit.
In seiner Einführung charakterisiert der Autor seine Ausrichtung dahingehend, das Thema Gandhi als „Quelle der Inspiration und Interpretation auch noch für unsere Zeit“ zu betrachten und „im Kontext der heutigen indischen Christen zu lesen“ (S. 26) im Sinne von Gandhis Verständnis des Verhältnisses der religiösen und der säkularen Realitäten als Beziehung wechselseitiger Verwandlung. Aus seiner ganzheitlichen Auseinandersetzung mit den soziopolitischen und religiösen Themen der Zeit sei als Gandhis Orientierungsrahmen eine dreifache Verwurzelung hervorgegangen: Wahrheit/Gott (Satya), Gewaltfreiheit/Einssein mit dem Leben (Ahimsa), und deren Verbindung als Festhalten an der Wahrheit (Satyagraha) – inklusive einer darauf basierenden sozialen Vision und Praxis wirtschaftlicher u.a. Autonomie (Swadeshi).
In den ersten drei Buchkapiteln wird die operative Bedeutung der drei Haupt-Komponenten der „Satyagraha-Religiosität“ (Pattery) für den persönlichen und gesellschaftlichen Bereich differenzierend und vertiefend beleuchtet. In Kapitel vier schildert der Autor den Hintergrund der Hindu-Tradition und erläutert Gandhis Akkommodation, seine Synthese von Wahrheit und Gewaltfreiheit, insbesondere auf der Praxisebene. Das fünfte Kapitel ist dem Verhältnis zum Christentum gewidmet. Im Vordergrund stehen hier die Herausforderung der Satyagraha-Religiosität für die Christenheit und diverse Antworten von Christ*innen auf diese Herausforderung.
In Kapitel sechs erörtert Pattery die Relevanz von Gandhis Ansatz für die zeitgenössische politisch-gesellschaftliche Problemlage (vornehmlich in Indien). Das siebte Kapitel beinhaltet eine thesenartige, aber gleichwohl tiefschürfende, partiell freilich recht spekulative Darlegung der anthropologischen Grundlagen der Satyagraha-Religiosität und ihrer Bedeutung für eine interdisziplinäre und interreligiöse Pädagogik befreiender Gewaltfreiheit – und stellt damit eine anspruchsvolle Zusammenfassung des Versuchs des Autors dar, Gandhis religiöse Erfahrungen und Äußerungen auf ihre Relevanz für seinen Beitrag zur Befreiung des Menschen durch Satyagraha zu prüfen.
Im Ergebnis ist jedenfalls klar, dass mit einer programmatischen Formel wie „Gandhi – minus Wahrheit und Gott“ (Arun Shourie, S. 39) zu kurz gesprungen wird oder gesprungen würde. Ein solcher Zugang läuft auf die Reduktion von Gandhis Wirken auf heroische Gewaltfreiheit bei der Austragung sozialer Konflikte hinaus, verfehlt damit aber den in politischer wie in religiöser Hinsicht revolutionären Gehalt seines Denkens und Handelns und ebenso ein adäquates, d.h. insbesondere nicht funktionalistisch verkürzendes Verständnis der Grundlage der »Soul-Force«, der inneren Stärke eines Satyagraha praktizierenden Menschen.
Die Satyagraha-Religiosität ist jedoch kein weiterer (synkretistischer) Anwärter im Konkurrenzreigen der Religionen um den »wahren« Zugang zum Absoluten. Dank ihrer zwang- und gewaltfreien Bezogenheit auf die (letztlich transzendente) Wahrheit, verbunden mit der lebenswerten sozialen Vision, richtet sie sich nicht gegen andere Religionen, sondern schafft eine Plattform zur Zusammenarbeit nicht trotz, sondern aufgrund ihrer Religion. Andererseits bietet sie ein geradezu bilderstürmerisches Korrektiv gegen religiösen Ritualismus und Dogmatismus, bewahrt dabei jedoch die Dimension des Glaubens gegenüber einem menschen- und lebensfeindlichen Säkularismus. Pattery spricht von einer „Kernreligion“, die „über die Rituale und Dogmen der Religionen hinaus[gehe]“, „an die eigentliche Religiosität des Menschen“ (S. 202) appelliere und damit die Religionen vertiefe.
Das Buch von Pattery dürfte friedenstheologisch Interessierten das Phänomen Gandhi in der Tat als „Quelle der Inspiration […] für unsere Zeit“ erschließen (können). Für spirituell sensibilisierte oder suchende Friedensaktive mag es sich als »heißer Tipp« zu vertiefter Selbstklärung und -motivierung eignen. Und auch agnostisch oder atheistisch gestimmte Zeitgenoss*innen können, sofern sie sich als Humanist*innen verstehen, in Gandhis Satyagraha-Religiosität eine Grundlage für Verständnis und Zusammenarbeit über ihre speziellen »Religions«-Grenzen hinweg finden.
Das Buch ist allerdings nicht wirklich lesefreundlich. Zum Teil wird das der abstrakten Materie, mancher begrifflichen Unschärfe bei Gandhi selbst – dem Mann der Satyagraha-Praxis, weniger der Theorie – und dem fremden kulturellen und sprachlichen Hintergrund geschuldet sein. Das von den Herausgebern erarbeitete Glossar zu diesem Hintergrund stellt eine wertvolle Hilfe dar, jedoch nicht in jedem Fall.
Zwiespältig im Hinblick auf die Lesefreundlichkeit wirkt auch der aufwändige Anmerkungsapparat, zumal mit der Verbindung von Literaturnachweis (mit unvermeidlichen Wiederholungen) und inhaltlicher Ergänzung, Vertiefung oder Erweiterung. Dem Gehalt und spirituellen Anregungswert des Bandes jedoch ist das nicht abträglich.
Albert Fuchs