W&F 2023/4

»Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal«

Rückblicke auf 25 Jahre Israel-Palästina-Beiträge

von Christiane Lammers

Die jüngsten Anschläge der Hamas auf Israel und die darauf folgenden Vergeltungsschläge Israels im Gazastreifen sind die neueste Wiederholung einer schrecklichen Gewaltdynamik. Es ist nicht so, dass diese Dynamik unvorhergesehen oder undenkbar war – wie ein Blick auf Beiträge in W&F zum israelisch-palästinensischen Konflikt aus 25 Jahren zeigt. Der Beitrag schlägt einen Bogen von diesen analytischen Erkenntnissen zu friedenspolitischen Erfordernissen.

Während ich einen Artikel zur »Zivilen Konfliktbearbeitung« in der W&F-Historie schreibe, explodiert der israelisch-palästinensische Dauerkonflikt. Ich gebe mein ursprüngliches Thema auf; mir erscheint es wichtiger, dazu schon Gedachtes aus unserem Archiv ins Gedächtnis zu rufen, um einen rationalen Zugang zu dieser schrecklichen Situation zu finden.

Israel bombardiert Gaza. Der von Norden nach Süden nur 40 km lange und max. 14 km breite Landstreifen, Wohngebiet von fast 2 Mio. Menschen und abgetrennt von allem Lebensnotwendigen, war nun auch noch zum Geiselgefängnis geworden. Israel reagiert mit seinen Angriffen auf die brutalen Überfälle von Hamas-Kämpfern am 7.10.2023 auf israelische Dörfer, auf ein Musikfestival, auf den Raketenbeschuss von Tel Aviv und anderen Städten, auf die Verschleppung von mehr 150 Israelis nach Gaza. Eine Aufrechnung dieser Ungeheuerlichkeiten ist moralisch wie rechtlich unmöglich. Umso mehr ist es notwendig Gründe zu erkennen und diese nicht im Affekt beiseite zu schieben. Nur rational, gleichwohl emphatisch mit allen Betroffenen, lassen sich Handlungsmöglichkeiten zur Deeskalation finden.

Erschreckend in diesem Zusammenhang waren die Äußerungen des EU-Partnerschafts-Kommissars Varhelyi zwei Tage nach den Hamas-Überfällen, dass alle Hilfszahlungen der EU an palästinensische Institutionen, Organisationen und Partnerprojekte sofort ausgesetzt würden. Zuerst Belgien, dann Irland, Spanien und Luxemburg kritisierten diesen Vorstoß, der kurze Zeit später zurückgenommen wurde. Einen ähnlichen Verlauf nahm die Debatte um die bilateralen Hilfsgelder aus Deutschland. Vergleichbar kann erschrecken, dass deutsche Medien einhellig die letzten Absätze der Presseunterrichtung des UN-Generalsekretärs Guterres am 09.10.2023 ignorierten: Selbst in den schlimmsten Zeiten sei es besonders wichtig, auf den langfristigen Horizont zu blicken. „Diese jüngste Gewalt kommt nicht aus einem Vakuum. Die Realität ist, dass sie aus einem langjährigen Konflikt mit einer 56-jährigen Besatzung und ohne einem politischen Ende in Sicht erwächst.(…) Israel muss seine legitimen Sicherheitsbedürfnisse verwirklicht sehen – und die Palästinenser müssen eine klare Perspektive für die Realisierung der Errichtung ihres eigenen Staates sehen.“ (UNSG 2023)1

Einblicke in den Konflikt durch das W&F Archiv

Seit der Umstrukturierung von W&F um die Jahrtausendwende sind mehr als 40 Artikel über Israel/Palästina im Heft erschienen. Keinem Land haben wir uns häufiger zugewendet. Mit dem folgenden kurzen Überblick sollen Sie als Leser*innen angeregt werden, sich diesen über das W&F-Archiv frei zugänglichen Beiträgen (nochmals) zu widmen, denn die Analyse von kaum einem davon hat sich bei diesem Konflikt erübrigt, vieles ist leider nur schlimmer geworden.

»Israel – kein Friede in Sicht« haben wir den Themenschwerpunkt in W&F 4/2002 genannt. Darin enthalten sind Beiträge zur Siedlungspolitik, zur eingeschränkten Rechtsstaatlichkeit, zur sozialen Spaltung aber auch zur Geschichte der sozialen Bewegung und zu Positionen und Aktionen von Friedensbewegten in Israel. Bei manchem Artikel kann man den Eindruck gewinnen, er wäre erst vorgestern geschrieben worden – so bspw. »Kommt der Rechtsstaat unter die Räder?« von Margret Johannsen. Bei anderen Artikeln wünscht man sich, dass die israelische Zivilgesellschaft weiterhin auch die Kraft haben möge, sich nicht in Hass dem Konflikt zu ergeben, sondern dagegen Widerstand zu leisten und nicht die Vision eines Israels als demokratisches und (menschen-)rechtlich gebundenes Land aufzugeben (siehe z.B. Angelika Timm, »Die Zivilgesellschaft in der Bewährung«).

Drei Jahre zuvor vorher war das Dossier 33 »Verraten, vergessen, verlassen. Palästinensische Flüchtlinge im Libanon« als Beilage zu W&F 3/1999 erschienen, in dem eindringlich die Situation der im Kontext der Staatsgründung und der vielen darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen in den Norden vertriebenen Palästinenser*innen dargelegt wird. Die heutigen Übergriffe der Hisbollah sind nicht nur auf die vielbeschworene Erzfeindschaft des Irans zurückzuführen, sondern werden auch genährt durch das Elend und die Perspektivlosigkeit der nach wie vor staatenlosen und in Flüchtlingscamps lebenden Palästinenser*innen im Libanon.

20 Jahre später erschien als Beilage zu W&F 1/2021 das Dossier 91 »Palästina unter der Besatzung. Alltag, Hintergründe, Auswirkungen«. Anlass für dieses Dossier war die sich immer mehr zuspitzende Situation im Westjordanland und die Hoffnung durch Fakten, Zahlen, Rechtserläuterungen über die völkerrechtswidrige Politik Israels und ihre Konsequenzen aufzurütteln und damit ebenso auch dem Vorwurf zu begegnen, die Fürsprache für die Palästinenser*innen sei antisemitisch und nicht humanitär begründet.

Neben diesen drei kompakteren Informationsmöglichkeiten erschienen viele einzelne Beiträge in W&F, auf einige wenige möchte ich ausführlicher eingehen:

  • Im Heft 2000/1 erschien im Schwerpunkt »Der schwierige Weg zum Frieden« als überhaupt erster Artikel in W&F zu Israel. Es ist ein Interview mit der Preisträgerin des Alternativen Nobelpreises, der deutsch-israelischen Rechtsanwältin Felicia Langer. 2009 wurde Felicia Langer das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Dagegen gab es massive Proteste, Ralph Giordano und andere drohten damit, ihre Verdienstkreuze zurückzugeben. Begründet wurde die Kritik mit dem Vorwurf des »Self hatings«, einer Form des Antisemitismus durch Jüdinnen oder Juden, der sich darin ausdrücke, dass sie u.a. der israelischen Staatsführung Apartheidspolitik gegenüber den Palästinenser*innen unterstellt. Die Einordnung Israels als »Apartheidsstaat« war vor 20 Jahren in Deutschland kaum diskutabel, obwohl, zumindest so Ausführungen in einem SWP-Aktuell, schon David Ben Gurion (1967), Jitzhak Rabin (1976), Ehud Barak (1999) und Ehud Olmert (2007) vor einer solchen Entwicklung gewarnt hatten (Asseburg 2022). 2018 legte die palästinensische Autonomiebehörde gemäß Artikel 11 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung eine entsprechende Staatenbeschwerde ein, die 2021 nach Prüfung der Zuständigkeit und Zulässigkeit die Einrichtung einer Ad-hoc-Vergleichskommission nach sich zog. Im Jahr darauf veröffentlichte Amnesty International unter dem Titel »Israel’s Apartheid against Palestinians« (Amnesty International 2022) einen umfassenden Bericht, der den Apartheidsvorwurf eingehend belegt. Käme die Adhoc-Vergleichskommission zum gleichen Schluss bzw. würde der Internationale Strafgerichtshof angerufen werden und käme zum ähnlichen Urteil, dann könnten Deutschland, andere Staaten oder auch die EU sich gezwungen sehen, gegen die israelische Regierung tätig werden zu müssen (vgl. Wissenschaftliche Dienste 2023).

Im Mittelpunkt des Interviews steht jedoch die Frage, inwiefern die verschiedenen Verhandlungsergebnisse zwischen Palästina und Israel tragfähige Lösungen des Konflikts ermöglichen. Frau Langer zeigte sich sehr skeptisch, wies auf die andauernde Siedlungsausweitung im Westjordanland hin, thematisierte auch die Menschenrechtsverletzungen der palästinensischen Autonomiebehörde. Allein für die Sicherheitszone im Südlibanon hielt sie einen Truppenabzug Israels für möglich. Als Grundbedingung für eine friedliche Lösung sah sie eine stärkere internationale Solidarität mit den Palästinenser*innen in Verbindung mit Teilen der israelischen Bevölkerung, die kriegsmüde geworden waren und einen Frieden mit Gerechtigkeit wollten.

  • Auch im Gastkommentar »Friedensperspektiven für den Nahen Osten« in W&F 4/2006 wird von Heidemarie Wieczorek-Zeul die Lösung des Kernkonflikts angesprochen und damit verbunden gerechte Entwicklungschancen für Palästina wie auch den Libanon gesehen. Dass sich hier nichts verbessert hat, zeigt ein Blick in den Human Development Index. Heute steht der Libanon auf Platz 112 und Palästina auf Platz 106 von 189 erfassten Staaten. 2006 standen die beiden Länder im HDI auf Platz 78 (Libanon) und auf Platz 100 (Occupied Palestinian Territories) von 177 Staaten.
  • »Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal« so der Titel des Gastkommentars von Udo Steinbach, der in Heft 4/2014 unmittelbar nach der damaligen Gaza-Geberkonferenz erschien. Diese hatte mit der Ankündigung von mehr als 4 Mrd. € Hilfsmittel für Gaza überraschend positiv geendet. Gleichwohl fiel das Urteil des Nahostexperten einhellig aus: „Wo keine Chance ist, gibt es nur zwei »Lösungen«: die Suche nach einem besseren Platz auf der Welt und die Fortführung des Kampfes mit immer radikaleren Mitteln. Demgemäß ist der Anteil der Flüchtlinge aus Gaza, die in Europa Asyl suchen, sprunghaft gewachsen. Und der Gaza-Krieg 2014 war länger, grausamer und verlustreicher als der Gaza-Krieg 2008/9“. Der jetzige wird vermutlich noch mehr Tod und Zerstörung bringen. Wieder ist zu wenig geschehen, man hätte es ahnen, wenn nicht gar wissen können.
  • Auch auf den folgenden Bericht möchte ich noch aufmerksam machen, da er auf die Vielfalt der Internationalen Organisationen verweist, denen das Schicksal der Palästinenser*innen nicht egal ist: Eva Senghaas-Knobloch, »Offene ›Briefe an die Welt‹. Die ILO-Berichte zu den besetzten palästinensischen Gebieten« in W&F 1/2017.
  • Dass durchaus auch auf Teile der israelischen Zivilgesellschaft zu hoffen ist, haben wir in mehreren Beiträgen über die Jahre versucht zu vermitteln, so z.B. im Beitrag von Uri Weltmann (W&F 4/2011) »Zwischen al-Tahrir und Puerta de Sol. Entwicklung und Herausforderungen der sozialen Protestbewegung in Israel«. Auch über zivilen Widerstand beispielsweise gegen den Mauerbau haben wir berichtet (siehe W&F 3/2004 Aviv Lavie, »Separation Fence Intifada. Gewaltfrei gegen die Besatzung«), haben Israelis zu Wort kommen lassen, die sich kritisch – ethisch wie auch politisch begründet – gegen die Palästina-Politik ihres Landes äußerten (siehe z.B. in W&F 1/2007 »Der zweite Libanon-Krieg, das Friedenslager und Israel. Nachgedanken eines Friedensfreundes« von Daniel Bar-Tal).

Kein Frieden ohne Rechte

Aus friedenswissenschaftlicher Perspektive findet sich in keinem der Texte ein Hinweis darauf, dass es einen anderen Weg zum Frieden gibt, als dass Israel endlich die Rechte der Palästinenser*innen anerkennt, die Isolation des Gaza-Streifens beendet, die Siedlungserweiterung (und damit einhergehende Ausdehnung der Besatzung2) im Westjordanland unterbindet. Selbst in der eher konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung kam noch zu Jahresbeginn 2023 der Leiter des Auslandsbüros in Ramallah, Steven Höfner, in einem sehr lesenswerten Länderbericht zu diesem Urteil (Höfner und Naujoks 2023). Er sah die Eskalation, wenn auch mit einem anderen Szenario, voraus.

Die bisherige Strategie der Schwächung der palästinensischen Position durch ein gegenseitiges Ausspielen von Hamas und Fatah hat zu nichts geführt. Ebenso werden die mühsam erarbeiteten Annäherungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn nichts mehr wert sein, wenn gleichzeitig der Konflikt mit den Palästinenser*innen auf hohem Eskalationsniveau verbleibt – vermutlich ein kalkuliertes Anliegen der Hamas mit ihren Angriffen. Israel wird darüber hinaus aber auch alle Legitimation verlieren, wenn es weite Teile des Gazastreifens bombardiert und die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen vernichtet. Diese kritischen Einwände in der jetzigen Situation zu akzeptieren, ist sowieso für die jetzige israelische Regierung, aber vermutlich derzeit auch für die israelische Zivilbevölkerung unmöglich. Hier steht die übrige Staatenwelt in der Verantwortung, die sich in den letzten Jahren zwar immer wieder verbal auch auf die Seite der Palästinenser*innen gestellt hat, aber immer noch keine Strategie hat, zu einer Umsetzung ihrer eigenen Einsichten zu gelangen. Die sich überschlagenden Nachrichten, beispielsweise über die Bereitschaft Deutschlands, Israel mit Waffenlieferungen zu unterstützen und Hilfslieferungen in Millionenhöhe für den Gazastreifen zur Verfügung zu stellen (17.10.23), zeigen, wie weit auch die Bundesregierung noch von einem Beitrag zu einer nachhaltig friedlichen Lösung des Konflikts entfernt ist.

Was heißt das alles für uns? Hier möchte ich noch aus einem Beitrag zitieren, der meinen ursprünglich geplanten Beitrag begleiten sollte und an dieser Stelle nun einen anderen Sinn ergibt: „Jedenfalls tut der Pazifismus gut daran, sich nicht eine Selbstrechtfertigung durch eine Affekt-Ethik aufnötigen zu lassen, die mit selektiven militärischen Läuterungs-Ritualen davon ablenkt, daß nicht er, sondern die Nichtbefolgung seiner Hauptforderungen immer noch kriegerische Massaker in verschiedenen Teilen der Welt begünstigt. (…) Bei Veranstaltungen verspüre ich große Hoffnungen, aber vorwiegend solche passiver Art, also Erwartungen, die an andere delegiert werden, oder auch Enttäuschung darüber, daß so wenig erreicht wird. Ich selbst halte mich jedenfalls (…) an eine Empfehlung(…) des verstorbenen Soziologen Max Horkheimer(…): Jeder hat die Chance, seinem etwaigen theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis zu widersprechen. Das ist, wie ich gefunden habe, nicht nur ein psychohygienisches Rezept. Man kann damit auch etwas bewirken“ (Horst-Eberhard Richter »Ist der Pazifismus am Ende?«, W&F 1/1996).

Anmerkungen

1) Nur bei Al Jazeera fand ich diesen Teil der Rede dokumentiert.

2) Auch hierzu gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen der israelischen Regierung und der UN. Während die UN davon ausgeht, dass Israel u.a. die Siedlungsgebiete im Westjordanland, Ostjerusalem und den Golan besetzt hält und gegen diverse UN-Resolutionen (1979 ff.) verstößt, spricht Israel entweder von Israel zugehörigen oder umstrittenen Gebieten. Am 30.12.2022 hat die UN-Vollversammlung nun den Internationalen Gerichtshof angerufen, um von diesem klären zu lassen, ob es sich nicht längst schon um eine Annexion der Gebiete handelt, die eindeutig völkerrechtswidrig wäre. Deutschland stimmte wie u.a. Großbritannien, die USA und Österreich gegen diese Resolution. Die Entscheidungen des IGH sind bindend, es gibt jedoch keine Mechanismen, um die Urteile durchzusetzen. 2004 hatte der IGH schon einmal gegen Israel geurteilt und den Mauerbau im Westjordanland als völkerrechtswidrig eingestuft. Das Urteil blieb folgenlos.

Literatur

Amnesty International (2022): Israel’s Apartheid against Palestinians. Cruel system of domination and crime against humanity. MDE 15/5141/2022, 1.2.2022.

Asseburg, M. (2022): Amnesty International und der Apartheid-Vorwurf gegen Israel. SWP Aktuell 2022/A 13, 22.02.2022.

Höfner, S.; Naujoks, P. (2023): Die neue israelische Regierung und ihre Agenda im Westjordanland. KAS Länderbericht, 31.1.2023.

UNSG (2023): Secretary-General‘s remarks to the press on the situation in the Middle East. Statements, UN, 9.10.2023

Wissenschaftliche Dienste des Bundestages (2023): Dokumentation „Zum Vorwurf der Apartheid-Politik Israels in den palästinensischen Gebieten“. WD 2-3000-031/23, 17.4.2023.

Christiane Lammers ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der FernUniversiät in Hagen, Mitglied der W&F-Redaktion und u.a. in der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung aktiv.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/4 40 Jahre W&F, Seite 17–19