W&F 2018/3

Geld ist unser Hauptproblem!

Kann Aufklärung gewalthaltige Geschlechterverhältnisse verändern?

von Anne Menzel

Dieser Beitrag thematisiert die geberfinanzierten Aufklärungsmaßnahmen, die in Sierra Leone nach Kriegsende durchgeführt wurden und u.a. als Antwort auf die massive Aggression und Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Kontext des Krieges (1991-2002) dienen sollten. Ein positiver Wandel der Geschlechterbeziehungen war und ist erklärtermaßen ein zentrales Anliegen inter- und transnationaler Entwicklungs- und Friedenspolitik in Sierra Leone. Aber wie haben sich die Geschlechterbeziehungen seit Kriegsende verändert? Und sind tatsächlich positive Veränderungen spürbar?

Aufklärung, im Englischen meist »sensitization« genannt, ist ein zentrales Instrument geberfinanzierter inter- und transnationaler Entwicklungs- und Friedenspolitik. Sie wird üblicherweise in Projekten betrieben, die meist von internationalen Nichtregierungsorganisationen umgesetzt werden. Diese delegieren einen Großteil der direkten Umsetzung (nicht jedoch der Planung und Budgetierung) wiederum an nationale/lokale Partnerorganisationen. Konkret sollen solche Projekte durch Wissensvermittlung und Einstellungswandel das Verhalten bestimmter Zielgruppen in eine vorgegebene Richtung beeinflussen und nachhaltig verändern. Dies zumindest ist die zentrale Annahme, die »Theorie des Wandels«, wie es in der Sprache der Projektplanung üblicherweise heißt.1

Mögliche Zielgruppen solcher Aufklärungsprojekte sind, um die Bandbreite des Spektrums aufzuzeigen, etwa Beamt*innen in staatlichen Institutionen, die in den Prinzipien von »Good Governance« geschult werden (Billaud 2015, S. 62-79) oder ehemalige Kämpfer*innen, die auf ein ziviles Leben vorbereitet werden sollen (Abramowitz 2014, S. 165-177). Besonders verbreitet sind Aufklärungsprojekte zudem im Gesundheitsbereich, etwa in Form von Bemühungen um den Abbau von Vorurteilen gegenüber HIV-Infizierten oder in der Förderung reproduktiver Gesundheit (Benton 2015, S. 67-88). Mit beidem oft eng verbunden sind Maßnahmen in einem weiteren Betätigungsfeld, welches im Fokus meines Beitrags steht: dem Wandel gewalthaltiger Geschlechterbeziehungen in Nachkriegskontexten.

Vor allem auf Basis meiner jüngsten Feldforschung in Sierra Leone – von November 2016 bis März 2017, in der Hauptstadt Freetown und der Kleinstadt Koidu – will ich in diesem Beitrag die Widersprüche und andauernden Missstände aufzeigen, mit denen »aufgeklärte Frauen« aktuell in Sierra Leone zu ringen haben. Als »aufgeklärte Frauen« bezeichne ich Frauen und Mädchen, die in Interviews und Gesprächen gezeigt haben, dass sie mit den in den letzten eineinhalb Jahrzehnten (seit Kriegsende in Sierra Leone im Jahr 2002) vermittelten Aufklärungsinhalten vertraut sind – wenn sie auch nicht unbedingt viel mit ihnen anfangen können. Dies traf auf die meisten meiner Interview- und Gesprächspartnerinnen aus unterschiedlichen urbanen Milieus zu.

Sie stehen vor der Herausforderung, dass Aufklärungsprojekte Wissensbestände und Einstellungen vermitteln, die noch gar nicht in die aktuellen Strukturen passen. Stattdessen spiegeln die vermittelten Wissensbestände und Einstellungen bereits die »verbesserten« Verhältnisse wider, die nicht zuletzt durch die mit diesen Projekten beabsichtigten Einstellungs- und Verhaltensänderungen erst hervorgebracht werden sollen – bei denen jedoch keinesfalls sicher ist, dass sie tatsächlich hervorgebracht werden. Vermittelter Anspruch und erlebte Realität klaffen somit weit auseinander. »Aufgeklärte Frauen« erleben zudem, dass sie die Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit selbst überbrücken müssen. Und hierzu benötigen sie nicht neues Wissen oder mehr Selbstbewusstsein, sondern schlichtweg materielle Ressourcen, in der Regel Geld.

Im Folgenden gebe ich zunächst einen Überblick über die Nachkriegs-Genderpolitik in Sierra Leone und die Rolle, die Aufklärung darin neben anderen Maßnahmen spielt. Im nächsten Schritt steige ich direkt in meine Interviews und Gespräche mit »aufgeklärten Frauen« ein und schildere die vertrackte Lage, in der sie sich befinden.

Nachkriegs-Genderpolitik in Sierra Leone

Auch in Sierra Leone, wo von 1991 bis 2002 ein mittlerweile vielbeforschter Krieg ausgetragen wurde (Coulter 2009; Hoffmann 2011; Wai 2012), kamen Aufklärungsprojekte in den eingangs genannten Bereichen zum Einsatz. Sie waren zudem zentraler Bestandteil geberfinanzierter Bemühungen um einen Wandel der Geschlechterbeziehungen. Im Fokus standen insbesondere der Schutz und die rechtliche Besserstellung von Frauen und Mädchen (Denney und Ibrahim 2012). Denn nicht nur waren Frauen und Mädchen im Kontext des Krieges massenhaft Opfer von Entführungen, Vergewaltigungen und sexueller Sklaverei geworden. Unter anderem mit dem Bericht der sierra-leonischen Wahrheits- und Versöhnungskommission stand auch die Diagnose zur Verfügung, dass Frauen und Mädchen bereits in der Vorkriegszeit Missbrauch und Ausbeutung weitgehend schutzlos ausgeliefert waren (Truth and Reconciliation Commission 2004, S. 85-227).2 Es musste folglich darum gehen, tief verwurzelte Missstände zu beheben.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde vor diesem Hintergrund ein Dreiklang an Maßnahmen angestoßen, der einen tiefgreifenden Wandel bewirken sollte. Zum einen sollten Frauen und Mädchen über nationale Gesetzgebung Rechte bekommen, die sie vor Gewalt und Ausbeutung schützen und ihnen Möglichkeiten verschaffen sollten, Täter gegebenenfalls zur Verantwortung zu ziehen. Zweitens schufen geberfinanzierte Polizeireformen neue und speziell auf die Bearbeitung häuslicher und sexueller Gewalt ausgerichtete Polizeieinheiten, die dafür sorgen sollten, dass Frauen und Mädchen ihre Rechte auch tatsächlich in Anspruch nehmen können. Und drittens wurden Aufklärungskampagnen zu Menschenrechten durchgeführt, die insbesondere die Rechte von Frauen und Kindern betonten. Zudem wurde jeweils über neue Einrichtungen, wie die genannten Polizeieinheiten, und über neue Gesetze informiert, und Männer, Frauen und Kinder wurden dazu angehalten, von ihnen Gebrauch zu machen. Die neuen Geschlechterbeziehungen, so wie sie in Aufklärungsprojekten angedacht und vorgestellt wurden, sollten fest auf dem Boden von Gewaltfreiheit und Rechtsstaatlichkeit stehen, und gegebenenfalls sollten Rechte über die neugeschaffenen Wege selbstbewusst eingefordert werden (Denney und Ibrahim 2012).

Mittlerweile, mehr als fünfzehn Jahre nach Kriegsende, zeigt sich, dass von diesen Maßnahmen vor allem die Gesetzgebungskomponente erfolgreich war. Unter nationalem (vonseiten sierra-leonischer Aktivistinnen) und vor allem internationalem Druck verabschiedeten sierra-leonische Regierungen in den Jahren 2007 und 2012 Gesetze, die häusliche Gewalt sowie Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt (auch in der Ehe) kriminalisierten und Frauen Eigentumsrechte zusprachen.3 Es hakt allerdings an der Umsetzung.

Die extra zum Schutz von Frauen und Mädchen eingerichteten Polizeieinheiten sind in einem desolaten Zustand, seit sie kaum noch direkt Gebergelder erhalten und stattdessen regulär über den Staatshaushalt finanziert werden sollen (Menzel 2017a). Es mangelt nicht nur an qualifiziertem Personal (zumal Gehälter nur unregelmäßig ausgezahlt werden), sondern auch an Fahrzeugen, Benzin und sogar an Papier und Stiften. Es ist üblich, dass Frauen und Mädchen dem Polizeipersonal zunächst aus eigener Tasche Materialien zur Verfügung stellen sollen, damit ihre Anzeigen überhaupt aufgenommen werden können. Zudem werden von Hilfesuchenden »Beiträge« zu den mageren Gehältern der Polizist*innen erwartet. Viele meiner Interviewpartnerinnen berichteten mir, dass sie deshalb schon gar nicht mehr in Erwägung ziehen, überhaupt zur Polizei zu gehen. Von einigen habe ich zudem gehört, dass wohlwollende Polizist*innen ihnen gleich davon abrieten, ihre Anzeigen überhaupt weiterzuverfolgen. Denn selbst in dem unwahrscheinlichen und dann sehr teuren Fall, dass sie es bis vor Gericht schaffen, sind Verurteilungen sehr selten. Dies liegt zum einen an der oft schwierigen Beweislage bei häuslicher und sexueller Gewalt, zumal wenn sie nicht sofort zur Anzeige gebracht wird und es an forensischer Expertise fehlt. Darüber hinaus behandeln Richter diese Fälle häufig als Lappalien, betrachten sie als Privatangelegenheiten oder übernehmen die Sichtweisen und Rechtfertigungen der mutmaßlichen Täter (Denney und Ibrahim 2012). Letztlich, so argumentierten viele Frauen, seien Polizei und formales Rechtssystem für sie nur Zeit- und Geldverschwendung: „Vor Gericht zu gehen bedeutet Geld. Soll ich meine Kinder dafür hungern lassen? Das kann ich nicht tun. Wir haben Menschenrechte in diesem Land, aber sie sind nicht für die Armen.“ (Gruppendiskussion, 16.2.2017)

Die Bilanz der dritten Komponente, der Menschenrechtsaufklärung mit Schwerpunkt auf Frauen- und Kinderrechten, fällt hingegen gemischt aus. Es ist in Sierra Leone deutlich spürbar, dass die Geschlechterbeziehungen in Bewegung geraten sind. Gerade Frauen, die alt genug sind, um sich noch an den Krieg oder sogar an die Vorkriegszeit zu erinnern, betonen die Veränderungen, die sie seitdem erlebt haben. Sie beschreiben, Frauen hätten gelernt, dass sie »eine Stimme« haben, und trauten sich zu, für ihre Belange einzutreten. Außerdem seien Frauen und Mädchen nicht mehr bereit, sich von Männern misshandeln zu lassen. Sie seien selbstbewusster und hätten gelernt, dass sie Rechte haben. Obwohl diese Einstellungen in Sierra Leone sicher nicht universell verbreitet oder zustimmungsfähig sind, habe ich solche Einschätzungen in mehreren Feldforschungen seit 2009 in Städten und Dörfern von vielen Frauen gehört – auch von solchen, die nicht oder kaum schreiben und lesen können und die oft sehr stolz darauf sind, dass sie an Aufklärungsprojekten (häufig in Form von Workshops und Trainings) teilgenommen haben. Einige Male traf ich auch Männer, die mir stolz ein Gender-Zertifikat vorzeigten, welches die Teilnahme an Aufklärungsprojekten belegt, und die sich als aktive Befürworter von Frauenrechten verstanden.

»Gender« ist in Sierra Leone kein abstraktes Thema nur für akademische Kreise. Vielmehr wird die Frage, welches die Rechte – und Pflichten – von Männern, Frauen und Kindern sind, im Alltag intensiv diskutiert (Menzel 2015, S. 200-202). Derzeit gibt es zudem intensive Alltagsdebatten über vermeintlich ansteigende Teenager-Schwangerschaften, die von vielen Männern und Frauen als Anzeichen eines weiblichen moralischen Verfalls gedeutet werden. Frauen beklagen außerdem oft, dass Männer sie weiterhin kontrollieren wollen und ihnen keine Rechte zugestehen, ohne sie dabei wenigstens angemessen materiell versorgen zu wollen oder zu können. Insgesamt seien sierra-leonische Männer zunehmend verantwortungslos. Demgegenüber beklagen Männer einen weiblichen Materialismus, der sich darin äußere, dass Frauen nur noch hinter Geld her seien und ihren Männern zugleich nicht mehr gehorchen würden. So entstehen Konfliktpotentiale, die sich in Familien und Beziehungen alltäglich in Streit und sehr oft in heftiger Gewalt entladen (Menzel 2017a; 2017b, S. 91-95). Gegen diese Gewalt versuchen Frauen sich zu schützen oder zur Wehr zu setzen, ohne dass sie dabei auf die Wege – Polizei und Justiz – zurückgreifen können, die ihnen über Aufklärungskampagnen als die eigentlich richtigen und besten Wege nahegelegt wurden.

„Unser Hauptproblem ist Geld!“ Die Lage »aufgeklärter Frauen«

In meiner jüngsten Feldforschung habe ich Frauen und Mädchen aus unterschiedlichen urbanen Milieus – vor allem Schülerinnen, Studentinnen, Kleinhändlerinnen und Sexarbeiterinnen – in Einzelinterviews, Gruppendiskussionen und informellen Gesprächen gefragt, was aus ihrer Sicht die größten Probleme für Frauen in Sierra Leone sind.4 Über diese offene Frage wollte ich herausfinden, ob und wie sie sexuelle Gewalt als Problem erleben und darstellen. Allerdings passierte es häufig, dass Frauen und Mädchen sexuelle Gewalt gar nicht von sich aus ansprachen. Stattdessen standen materielle Herausforderungen im Fokus ihrer Schilderungen, und es herrschte insgesamt recht große Einigkeit, dass das Hauptproblem Geld sei.

Eine Verbindung zu Gewalt wurde in diesen Interviews und Gesprächen oft erst implizit durch Aussagen dazu deutlich, wozu Geld so dringend benötigt wird bzw. warum es ein so drängendes Problem darstellt. Zusätzlich dazu, dass die allermeisten Sierra Leoner*innen alltäglich um Mahlzeiten und weitere Lebenotwendigkeiten, wie insbesondere medizinische Versorgung, ringen, sehnen meine Interview- und Gesprächspartnerinnen sich nach einem Mindestmaß an finanzieller Unabhängigkeit, um sich und ihre Kinder nicht gewalttätigen Männern ausliefern zu müssen. Ihre Argumentation folgte häufig einer Selbstschutzlogik, nach der Geld die beste präventive Verteidigung ist. Wer selbst kein Geld hat bzw. nicht weiß, wie sie jeden Tag über die Runden kommen kann, hat kaum eine Wahl, als sich von vergleichsweise bessergestellten Liebhabern oder von einem Ehemann versorgen und gegebenenfalls misshandeln zu lassen. Eine Studentin brachte dies in einem informellen Gespräch auf den Punkt: „Eine Frau, die sich nicht selbst versorgen kann, wird bei einem Mann bleiben, der sie schlägt. Was soll sie auch sonst tun?“ (Informelles Gespräch, 20.11.2016) Allerdings wird Gewalt in Situationen, in denen die betreffende Frau ansonsten tatsächlich »gut versorgt« wird, vielfach durchaus als annehmbar oder sogar normal angesehen – solange gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Ein paar Prügel seien im Rahmen oder sogar erwünscht, zumal wenn sie die Leidenschaft und andauernde Versorgungsbereitschaft des Täters anzeigen (Menzel 2015, S. 200, S. 308-309).

Allerdings bevorzugen die meisten Frauen das Ideal einer selbstbestimmten und selbständigen Frau, und sie wünschen sich dies auch für ihre Töchter, in die viele unbedingt investieren wollen (auch in der Annahme, dass diese es dann zu etwas bringen werden und sie ihre Mütter im Gegenzug unterstützen können). Eine Kleinhändlerin erklärte mir beispielsweise: „Wenn Kinder alles haben, was sie brauchen, werden sie nicht auf die Straße gehen [um sich Männern anzubieten]. Ich habe eine Tochter […], die auf das College geht, und ich zahle ihre Studiengebühren. Was soll ich sonst machen? [Sie hatte mir gerade erzählt, dass sie sich dafür hoch verschulden musste.] Andernfalls hat sie keine andere Wahl, als sich einen Mann zu suchen, der sie doch nur missbrauchen und ihre Zukunft zerstören wird.“ (Interview, 26.11.2016)

Dabei haben Frauen und Mädchen durchaus auch romantische Vorstellungen von einer liebevollen Beziehung mit einem Mann. Aber auch hierzu bedarf es des Geldes, damit es „zu Hause ein Einvernehmen geben kann“, wie mir eine weitere Kleinhändlerin darlegte. Denn schließlich hätten auch Männer es extrem schwer, ein Auskommen zu finden, und wissen deshalb eine Frau zu schätzen, die ihren Beitrag leistet (Interview, 26.11.2016). In einer Diskussion mit einer Gruppe befreundeter junger Frauen in Freetown (unter ihnen Schulabbrecherinnen, Studentinnen und Kleinhändlerinnen), von denen mehrere aktuell in gewaltsamen Beziehungen lebten, hieß es: „Liebe ist nur schön, wenn Du eine mächtige Familie im Rücken hast.“ (Gruppendiskussion, 16.2.2017) Auf Nachfrage erklärten sie mir, dass ihre Liebhaber sie nicht schlagen würden, wenn sie Brüder oder Väter hätten, die für sie eintreten würden.

Insgesamt zeigt sich ein Bild, das wenig mit den »neuen Geschlechterbeziehungen« zu tun hat, wie sie in den Aufklärungsprojekten der Nachkriegszeit angedacht und vorgestellt wurden. Die tatsächlichen Geschlechterbeziehungen sind vielmehr von gegenseitigem Misstrauen geprägt, und weder Gewaltfreiheit noch Rechtstaatlichkeit spielen in ihnen eine nennenswerte Rolle. »Aufgeklärte Frauen« streben in dieser Situation nach Selbstbestimmtheit und Selbständigkeit, die sie und ihre Kinder zudem vor ausbeuterischen und gewaltsamen Beziehungen bewahren sollen. Statt durch Rechte, Polizei und Justiz abgesichert zu sein, wollen sie sich selbst absichern können. Und die Sicherheit, die sie anstreben, ist für sie nur mit und durch Geld zu bekommen. Es ist also nicht verwunderlich, dass das Streben nach Geld und die Schwierigkeiten, es zu bekommen, unsere Interviews und Gespräche oft dominierten.

Aufklärung, Struktur und Wandel – ein Ausblick

Was also hat Aufklärung in Nachkriegs-Sierra Leone zum Wandel gewalthaltiger Geschlechterbeziehungen beigetragen? Die Antwort muss gemischt ausfallen: einerseits eine Menge und andererseits sehr wenig. Denn ohne Frage haben sich Einstellungen teils drastisch und teils weniger drastisch verändert, und die Geschlechterbeziehungen sind in Bewegung gekommen. Dass sie dadurch weniger gewalthaltig geworden sind, erscheint insgesamt unwahrscheinlich. Stattdessen ist eine Situation entstanden, in der Frauen zunehmend auf Selbstschutz setzen und sich weder auf Polizei und Justiz noch auf Männer als Beschützer und Versorger verlassen wollen.

Wie diese Entwicklung weitergeht und wohin sie führen wird, ist völlig offen. In jedem Fall aber wird in Sierra Leone weiterhin auf Aufklärung gesetzt, während strukturelle Herausforderungen eher weniger als mehr thematisiert werden. Dies frustriert auch die Vertreter*innen vieler lokaler Nichtregierungsorganisationen, die in Interviews und informellen Gesprächen vielfach beklagten, dass sie von Gebern überhaupt nur noch Fördermittel für Aufklärungsprojekte erhalten. Diese seien einfach und vergleichsweise günstig durchzuführen und würden deshalb bevorzugt.

Das aktuelle Fokus-Thema vieler dieser Projekte ist derzeit die Prävention von Teenager-Schwangerschaften, für die insbesondere Aufklärungsprojekte für junge Mädchen realisiert werden. Sie sollen lernen, selbstbewusst »nein« zu Sex zu sagen, um sich auf ihre Bildung konzentrieren und eine selbstbestimmte Zukunft anstreben zu können. Strukturelle Zwänge, die das individuelle »nein« tendenziell erschweren, werden hingegen kaum berücksichtigt (Denney u.a. 2016, S. 11-22). Hier wird die Betonung der Einzelnen, die sich durchsetzen und letztlich selbst schützen muss, also noch weiter bestärkt.

Anmerkungen

1) »Theorie des Wandels« (bzw. gebräuchlicher auf Englisch »Theory of Change«) ist ein technischer Begriff der Projektplanung in humanitärer Hilfe, Peacebuilding und Entwicklungszusammenarbeit. Darunter werden Annahmen verstanden, die bestimmte Aktionen/Maßnahmen sinnvoll und plausibel mit erwünschten Wirkungen verbinden.

2) Der Bericht der sierra-leonischen Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde erheblich von externen Gender-Expertinnen geprägt, die sehr darum bemüht waren, ein Dokument zu schaffen, welches dazu geeignet seien würde, (geberfinanzierte) Reformen in Nachkriegs-Sierra Leone anzustoßen. Die Arbeit der Kommission ist u.a. Gegenstand des vergleichenden Forschungsprojekts, in dessen Kontext die Forschung durchgeführt wurde, auf der dieser Beitrag basiert. Vgl. uni-marburg.de/­konfliktforschung/personal/buckley-zistel/truth-commissions-eng?language_sync=1.

3) In einem Interview beschreibt eine der beteiligten externen Lobbyistinnen/Expertinnen, wie die Verabschiedung verschiedener Gesetze im Jahr 2007 schließlich zustande kam; archive.skoll.org/2008/01/29/implementing-the-­gender-acts-in-sierra-leone/.

4) Alle Interviews und Gespräche wurden in der sierra-leonischen Verkehrssprache Krio geführt.

Literatur

Abramowitz, S. (2014): Searching for Normal in the Wake of the Liberian Civil War. Philadel­phia, PA: University of Pennsylvania Press.

Benton, A. (2015): HIV Exceptionalism – Development through Disease in Sierra Leone. Minneapolis, MA, und London: University of Minnesota Press.

Billaud, J. (2015): Kabul Carnival – Gender Politics in Postwar Afghanistan. Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press.

Coulter, C. (2009): Bush Wives and Girl Soldiers – Women’s Lives through War and Peace in Sierra Leone. Ithaca, NY, und London: Cornell University Press.

Denney, L.; Ibrahim, A. (2012): Violence against Women in Sierra Leone – How Women Seek Redress. London: Overseas Development Institute.

Denney, L.; Gordon, R.; Kamara, A.; Lebby, P. (2016): Change the context not the girls – Improving efforts to reduce teenage pregnancy in Sierra Leone. London: Overseas Development Institute.

Hoffman, D. (2011): The War Machines – Young Men and Violence in Sierra Leone. Durham, NC, und London: Duke University Press.

Menzel, A. (2017a): Sexual violence in post-Ebola Sierra Leone – Old problems and new policy priorities. Beitrag für den Blog des Mauerpark­instituts, 14.5.2017; mauerparkinstitute.org.

Menzel, A. (2017b): Betterment versus Complicity – Struggling with Patron-Client Logics in Sierra Leone. In: Højbjerg, C.; Knörr, J.; Murphy, W. (eds.): Politics and Policies in Upper Guinea Coast Societies – Continuity and Change. New York, NY: Palgrave MacMillan, S. 77-98.

Menzel, A. (2015): Was vom Krieg übrig bleibt – Unfriedliche Beziehungen in Sierra Leone. Bielefeld: transcript.

Truth and Reconciliation Commission (2014): Witness to Truth – Report of the Sierra Leonean Truth & Reconciliation Commission, Volume 3b. Graphic Packaging Ltd. GCGL: Freetown.

Wai, Z. (2012): Epistemologies of African Conflicts – Violence, Evolutionism and the War in Sierra Leone. New York, NY: Palgrave MacMillan.

Dr. Anne Menzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung, Philipps Universität Marburg. Der Beitrag basiert auf ihrer aktuellen Forschung im DFG-Projekt »Anerkennung von sexualisierter Gewalt in Wahrheitskommissionen. Opferzuschreibungen und ihre gesellschaftlichen Implikationen in Zeiten des Übergangs«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/3 Gender im Visier, Seite 34–37