W&F 2024/2

Geopolitik in der Mittelmeerregion

Großmachtrivalitäten, zerfallene Staaten und europäische Abgrenzung

von Pablo Flock

Das Mittelmeer und die Anrainerstaaten sind Knotenpunkte der Interessen und Rivalitäten von Groß- und Regionalmächten, ein Aufmarschgebiet von Armeen, die Leinwand von Ressourcenkämpfen und das Grab vieler marginalisierter Menschen, die diesen Interessen zum Opfer gefallen sind. Doch worin bestehen die Interessen und wo wird militärische Kontrolle ausgeübt? Wessen strategische Positionierungen gelten welchen Gegnern? Wessen Interessen stehen dabei immer zurück? Ein Überblick.

Das zwischen dem afrikanischen, asiatischen und europäischen Kontinent gelegene, verhältnismäßig kleine Mittelmeer begünstigte durch seine recht einfache Schiffbarkeit historisch die Ausbreitung der ersten Imperien und Seemächte, von den Phöniziern über die Griechen bis zu den Römern. Bis heute ist der mediterrane Raum von großer Bedeutung für die modernen Großmächte. Während die Schiffbarkeit es den historischen Imperien erlaubte, sich über das Mittelmeer entlang der Küsten auf allen drei Kontinenten bis hin zu anderen »natürlichen« Grenzen wie den Alpen oder der Sahara auszubreiten, wirkt es heute eher in sich selbst als Grenze, über die der Fluss von Waren und Investitionen, wie auch von militärischer Macht und Ausrüstung sichergestellt wird. Demgegenüber werden die Bewegungen der Menschen über das Meer wegen ihrer unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten, oder nach mancher Ansicht auch Religion oder Hautfarbe, engmaschig kontrolliert und dokumentiert und in vielen Fällen eingeschränkt oder verhindert.

Zunehmend geht es um die Etablierung militärischer Präsenz in Form von Schiffsflotten, Häfen und Flughäfen, Truppen und Stützpunkten durch die jeweiligen Mächte, um die eigenen Interessen zu sichern und geopolitischen Rivalen oder Nachbarn zuvorzukommen. Ein Fokus liegt im östlichen Mittelmeer, wo anhaltende Konflikte, fossile Energiereserven und geschwächte Staaten für Nachbarn, Regional- und Großmächte einiges zu gewinnen und zu verlieren bereithalten. Hier erlauben essentielle Transportrouten und Zwischenstoppmöglichkeiten für Handel und Militär die Machtprojektion in rückgelagerte Konfliktregionen in Nordafrika und in Westasien, im Roten und im Schwarzen Meer.

Großmächte »sichern« Schifffahrtsrouten

Besonders für die überregionalen Großmächte sind die Meerengen und Verbindungen zu anderen Meeren strategisch wichtig. Deshalb verwundert es kaum, dass sich um die Straße von Gibraltar verschiedene ihrer Militärhäfen finden. Die Stadt Gibraltar, auf einer Halbinsel an der südlichen Küste Spaniens gelegen, ist seit dem Ende des spanischen Erbfolgekrieges 1713 ein Überseegebiet Großbritanniens und beherbergt einen Marine- und einen Luftwaffenstützpunkt, sowie Abhörstationen der einstigen Weltmacht. Das Vereinigte Königreich kann dort nicht nur eigene Marineschiffe tanken und reparieren, sondern auch eine gewisse Kontrolle über den Verkehr zwischen Atlantik und Mittelmeer ausüben. Auf der anderen, atlantischen Seite der Meerenge nutzt die Marine der aktuellen Großmacht USA einen Großteil des spanischen Stützpunkts Rota. Sie dient besonders als Ankerpunkt der 6. Flotte der US-Navy in ihrer Region »Europe, Africa, Central«, die sich bis über Djibouti hinaus nach Bahrain erstreckt und ihre Hauptbasis in Neapel, Italien, unterhält. Zudem befinden sich auch kleinere Kontingente der US-Airforce und Marines (die keine Marineeinheit sondern eine Spezialkräfteeinheit sind) auf dem Stützpunkt in Rota. Schiffe anderer NATO-Mitgliedsstaaten, deren »Allied Joint Force Command (JFC Naples)« wiederum ebenso in Neapel liegt, nutzen den Hafen ebenfalls.

Ein noch kleineres und dadurch kritischeres Nadelöhr ist der Suezkanal, der zwischen der Sinai-Halbinsel und dem afrikanischen Teil Ägyptens verlaufend das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbindet. Als das Containerschiff »Ever Given« Ende März 2021 havarierte, bildete sich innerhalb von wenigen Tagen ein über 100km langer Rückstau an Schiffen. Die gestiegenen Transportkosten schlugen sich international in Preissteigerungen nieder. Während der Kanal selbst unter ägyptischer Ägide steht, befinden sich im Roten Meer zahlreiche Basen verschiedener Großmächte. Auf ägyptischem Boden sind dies nur Basen der USA. In Djibouti, gegenüber der nun von den Houthi im Jemen teilweise blockierten Meerenge Bab el-Mandeb zum indischen Ozean, haben neben den USA auch Großbritannien, Russland und Frankreich je eine von vielen, Saudi Arabien eine von drei, China eine von zwei und Japan und Italien ihre einzigen militärischen Auslandsbasen. Während die Großmächte am politisch instabilen »Horn von Afrika« auf militärische Präsenz setzen, könnte zumindest die westliche Unterstützung für den autokratischen ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi mit der Sorge zusammenhängen, bezüglich der Schifferei auf dem Suez-Kanal von einer nicht pro-westlichen Regierung abhängig zu sein.1

Auch die dritte Meerenge, die das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer verbindet, steht unter der Kontrolle einer sich über zwei Kontinente erstreckenden, aufstrebenden Regionalmacht, der Türkei. Der Bosporus ist die engste natürliche Meerenge, die für internationale Schifffahrt verwendet wird, die Dardanellen sozusagen seine zum Mittelmeer hin gelagerten Vorläufer. Vor dem Hintergrund, dass die Kontrolle dieser Meerenge auch die Kontrolle über einen großen Teil der russischen Marine bedeutet, die neben ihrem von NATO-Staaten eingekreisten Heimathafen in Sankt Petersburg besonders von ihrem Hafen auf der Krim im Schwarzen Meer abhängig ist, verwundert es nicht, dass die Türkei als einziges (vorwiegend) nicht-europäisches Land nach den Gründungsmitgliedern USA und Kanada in die NATO aufgenommen wurde. Schon kurz vor der Aufnahme Anfang 1952 eröffneten die USA ihre erste und bis heute größte Auslandsbasis in der Türkei, die sogenannte »Incirlik Airbase«. Auf dieser sind auch die Atombomben gelagert, die damals die Stationierung sowjetischer Atomwaffen auf Kuba und damit die sogenannte Kubakrise provozierten. Zudem haben die USA bei Izmir, also an der Westküste etwas südlich der Dardanellen, einen Luftwaffen-Stützpunkt.

Der starken Kontrolle, die die NATO-Staaten über die Meerengen Gibraltar, zum Atlantik, und Bosporus, zum Schwarzen Meer, sowie über die Unterstützung des verbündeten, autokratischen al-Sisi auch über den Suez-Kanal ausüben, steht die relative Schwäche des erklärten Rivalen Russlands gegenüber, der im Mittelmeer nur über den Marinehafen in Syrien bei Tartus verfügt. Zwar konnte Russland mit seinen unterstützenden Bombardierungen den Zerfall des syrischen Assad-Regimes in der letzten Dekade verhindern, jedoch kann es wegen seiner Abhängigkeit von Ankara in Sachen Bosporus beispielsweise nicht gegen die Einverleibung syrischer Gebiete im Rahmen des türkischen Angriffskriegs gegen das Land vorgehen. Die enge Auslegung der Montreux-Konvention durch die Türkei ist Russland wichtig, da diese während eines Kriegs zwischen Anrainerstaaten, wie aktuell mit der Ukraine, auch NATO-Kampfflotten den Zugang zum Schwarzen Meer verschließt, wenn es auch selbst seine Schwarzmeerflotte dadurch nicht verstärken kann (siehe Dalay und Sabanadze 2024).

Regionale Mächte und alte Dispute

Der Mittelmeeranrainer Türkei schafft es nach den Großmächten USA, Großbritannien, Frankreich und Russland am besten, so zumindest das Fazit des International Center for Strategic Studies (IISS 2023), seine Macht in die verschiedenen Arenen in der Region zu projizieren, also Handlungsfähigkeit zu beweisen. Eine Herausforderung für sie ist jedoch die Beziehung zum NATO-Partner Griechenland, mit dem die maritimen Grenzen noch nicht geregelt sind (vgl. in größerer Tiefe Gürbey in diesem Heft, S. 10). Diese strittigen Gebiete schließen Inseln nahe des türkischen Festlands, z.B. Lesbos und Samos, die seit Langem unter griechischer Kontrolle stehen, und Gasfelder mit ein. Ursprünglich von den USA im Kampf gegen den Kommunismus noch in den 1940er Jahren durch Gelder an den Westen gebunden, ängstigt nun der sich selbstsicher äußernde Nationalismus der Türkei gepaart mit erstarkender militärischer Macht den Nachbarstaat Griechenland. Dort ist die Erinnerung an die osmanische Besatzung in den älteren Generationen noch lebendig. Während die USA heute versuchen, durch militärische Hilfe für Griechenland türkische Rüstungsdeals auszubalancieren, und beispielsweise durch das Zurückhalten von F-35 Bombern an die Türkei als Strafe für die Beschaffung des russischen S-400 Flugabwehrsystems Druck auf die Türkei auszuüben, unterstützte besonders das EU-Schwesterland Frankreich offen Griechenland, nicht nur eigennützig durch den Verkauf von Rafale Kampfjets und öffentlichen Solidaritätsadressen, sondern beispielsweise auch durch die Entsendung eines Flugzeugträgers nach Zypern im Jahr 2020. Der im östlichen Mittelmeer liegende Inselstaat ist seit 1974 ein Fokuspunkt der beiderseitigen Rivalität. Damals putschte eine Gruppe Offiziere der griechischsprachigen Mehrheitsbevölkerung und wollte die Insel mit dem damals ebenfalls von einer Militärjunta regierten Griechenland vereinen, woraufhin die Türkei, wohl um die türkischsprachige Minderheit zu schützen, den Norden der Insel besetzte. Von der UN geführte Pläne zur Wiedervereinigung scheiterten seitdem am Widerstand der zypriotischen Bevölkerung oder der Türkei.

Schätze im Boden, Krieg darüber

Besonders seit in zyprischen, wie auch israelischen und ägyptischen Gewässern Gasfelder gefunden wurden, dürfte der türkische Wille zur zyprischen Einheit gemäßigt sein. Die Pläne der EU, Zyperns, Israels und Ägyptens, die von Zypern verlaufende »Eastern Mediterranean Pipeline« (EastMed) zu bauen, stört die türkischen Absichten, ein Energieknotenpunkt für Gas aus der Region in die EU zu werden. Pläne der Türkei und Kräften in den USA, die auf eine Einbindung pochen, die Pipeline über türkisches Land zu bauen, werden wohl an Erdoğans lautstarker Unterstützung der palästinensischen Unabhängigkeit und an israelischem Misstrauen scheitern.2 2019 provozierte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, als er mit der international anerkannten, sogenannten libyschen Einheitsregierung den Vertrag über eine Ausschließliche Wirtschaftszone vereinbarte, die sich über die gesamte Meeresfläche zwischen den beiden Ländern erstreckt. Bevor ein libysches Gericht diesen Vertrag 2021 für nichtig erklärte, hatten Griechenland und Ägypten mit einer überschneidenden exklusiven Zone geantwortet und türkische Probebohrungen nahe griechischer Inseln schon zu einer Konfrontation und gefährlichen Manövern zwischen griechischer und türkischer Marine geführt (vgl. Aydıntaşbaş et al. 2020; Flock 2021).

Zerfallene Staaten im östlichen Mittelmeer

Heißer noch, und weit bekannter, sind sicherlich die kriegerischen Auseinandersetzungen einer anderen Regionalmacht, die mehr als das Doppelte der Türkei für das Militär ausgibt, bzw. vom Ausland indirekt finanziert bekommt. Israel hat im Vergleich mit Ägypten, Griechenland und der Türkei zwar weniger gepanzerte Fahrzeuge und (U-)Boote (vgl. IISS 2023), die eine Machtprojektion in ferne Gebiete erlauben würden, kann jedoch mit der größten Kampfjet-Flotte der Region nicht nur eine komplette Region wie den Gaza-Streifen in Schutt und Asche legen, sondern auch Ziele tief im Inland anderer souveräner Staaten angreifen, wie im Libanon und in Syrien. Hier steht es einer anderen Macht von außerhalb der Mittelmeerregion gegenüber, Iran, die die Hisbollah im Libanon und das Regime in Damaskus wie auch weitere bewaffnete Gruppen dort unterstützt. Die Instabilität beider Staaten nützt Israel in dem Sinne, dass sich diese weder gegen Israels völkerrechtswidrige Angriffe wehren, noch auf die Rückeroberung besetzter Gebiete, wie die ölreichen, syrischen Golanhöhen, konzentrieren können. Wie die geleakten, sogenannten »Clinton-Mails« belegen, war dies auch Motivation für das US-amerikanische Engagement in Syrien ab 2012.3 Seit dem Terrorangriff der Hamas zunehmend aktuell ist die Frage, ob die Hisbollah zur Unterstützung der ebenfalls durch den Iran unterstützten Hamas zur Hilfe eilt und ihre sporadischen Angriffe zum Krieg ausweitet – oder ob Israel einen solchen vom Zaun zu brechen sucht, um ihre, wegen der israelischen Kriegsverbrechen schwindende, internationale Unterstützung durch eine Ausweitung gegen die „gemeinsamen Gegner“ Iran und Hisbollah wieder zurückzuerlangen.

Der bis vor 15 Jahren reichste Staat Afrikas mit dem bis dato höchsten Human Development Index des Kontinents, Libyen, ist seit der Bombardierung durch Frankreich, die USA und Großbritannien ebenfalls ein zerfallener Staat, in dem verschiedene Regierungen und Milizen sich gegenseitig bekämpfen und äußere Kräfte diese für ihre Interessen gegeneinander ausspielen. Der libysche Bürgerkrieg zwischen der sogenannten international anerkannten Einheitsregierung (GNA) und dem vom bekannten Warlord Khalifa Haftar und seiner »Libyan National Army« (LNA) unterstützten Abgeordnetenhaus in Tobruk hatte eigentlich im Oktober 2020 geendet, doch die Kräfte begannen erneut, sich innerhalb der neuen Einheitsregierung zu bekämpfen, scheiterten am Versuch, gemeinsam Wahlen zu organisieren, und auch die ausländischen Kämpfer blieben im Land. Im Fall der besonders von der Türkei, aber auch durch Italien und Katar unterstützen GNA sind gegebenenfalls noch syrische Kämpfer aus pro-türkischen Milizen vor Ort. Für die LNA unter Haftar, die Ägypten nahesteht und teilweise sogar Luftunterstützung durch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) erhielt, könnten noch einst angereiste Söldner der russischen Gruppe Wagner oder der sudanesischen »Rapid Support Forces« in Libyen eingesetzt sein. Während sich die EU-Staaten bis auf Italien und Frankreich, das teilweise mit Haftar Geschäfte gemacht haben soll, kaum in den Konflikt hineinziehen ließen, haben auch sie bedeutende militärische Ressourcen in das Land geschickt, deren einzige Mission es war, die Migrant*innen nicht über das Mittelmeer gelangen zu lassen.

EU-Maxime: Migrationsbekämpfung

Die sogenannte libysche Küstenwache ist wohl eines der aufwändigsten europäischen Projekte zur Migrationsbekämpfung – nach den Milliarden, die Erdoğan für seinen Migrationspakt ergattern konnte. Kurz nach der Bombardierung und dem Ende des Gaddafi-Regimes richtete die EU schon 2013 die »European Union Border Assistance Mission in Libya« (EUBAM Libya) ein. 2016 begann dann die europäische Marinemission EU NAVFOR Med mit der Ausbildung der »Küstenwache«. Bis 2023 erhielt diese rund 455 Mio. €. Obwohl die inhumanen Zustände in den völlig überfüllten Lagern, in die die vorgebliche Küstenwache die Migrant*innen zurückführte, sowie Zwangsarbeit und Menschenhandel, systematischer sexueller Missbrauch und Erpressung durch die führenden »Behörden« seit Jahren bekannt waren, stellte die deutsche Regierung erst 2022 ihre Beteiligung an der Ausbildung der Gruppe ein (Jordans 2022). Trotzdem schienen die EU-Staaten die Operation zumindest teilweise als Erfolg einzustufen, da sie dasselbe Konzept von Ausbildung und Ausrüstung in der Folge in verschiedenen Staaten anwendeten, wie Tunesien, Ägypten, Niger und Sudan. In Nordafrika ist nur Algerien nicht Teil einer solchen (Anti-)Migrationspartnerschaft, schirmt sich jedoch auch aus eigener Motivation und mit eigenen Mitteln gegen Migration aus dem Süden ab.

Der Konflikt zwischen Algerien, dem hochgerüsteten Staat mit großen Erdgasvorkommen, und Marokko, der vom Westen aufgerüsteten »Touristenattraktion«, prägt das westliche Mittelmeer derart, dass es selbst europäische Staaten tangiert. Algerien unterstützt traditionell die Befreiungsfront der südlich von Marokko gelegenen Westsahara (»Frente Polisario«), die Marokko seit der Entkolonialisierung durch Spanien zu zwei Dritteln besetzt hält. In Spanien ist der Konflikt deswegen relativ präsent. Durch das Unterlassen der Migrationskontrolle zu den beiden vom Königreich umgebenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla konnte Marokko zuletzt 2021 und 2022 ein starkes Druckmittel beweisen, das den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez, aber auch die deutsche Außenministerin, zum Einlenken und zur de facto Unterstützung des marokkanischen »Autonomie-« bzw. Annexionsplans für die Westsahara bewegen konnte. Danach »bedankten« sich die königlich marokkanischen Kräfte im Juni 2022 durch die Wiedereinführung brutaler Grenzsicherung – ein Umstand, der unter anderem rund drei Dutzend Migrant*innen das Leben kostete, die am 24. Juni versuchten, nach Melilla zu gelangen. Algerien jedoch stellte in Antwort auf die politische Entscheidung den Gastransport durch eine über Marokko nach Spanien führende Pipeline ein, und versetzte der Energiesicherheit beider Länder damit herbe Schläge. Die Weiterführung dieses Kurses durch den sozialdemokratischen Sánchez – entgegen dem Protest seines Koalitionspartners Podemos und der öffentlichen Meinung – zeigt, wo die Prioritäten zwischen billigem Pipeline-Gas und Migrationsabwehr liegen – und das, obwohl selbst Politiker*innen der konservativen spanischen Volkspartei bemängelten, dass die Gasknappheit beispielsweise die wichtige Keramikindustrie stark schwächte. Demgegenüber konnte ausgerechnet Italien, das nach Spanien drittgrößter Exporteur von Keramikwaren ist und das die frei werdende Menge von Algerien abnahm, seine Produktion steigern.

Fazit

Die meist von außerhalb der Region kommenden militärischen Supermächte, USA, Russland, Großbritannien und Frankreich, unterhalten Basen an verschiedenen strategischen Punkten im Mittelmeer, die hier durchaus nicht vollständig aufgezählt wurden, und sichern mit diesen, sowie durch Bündnisse mit den Wächtern der Meerengen, Türkei und Ägypten, sowohl ihre militärischen Wege als auch ihre Handelsrouten über dieses kleine Meer, das nur 1 % der weltweiten Meeresfläche, aber 20 % der internationalen Schifffahrt umfasst.

Die regionalen Mächte, besonders die Türkei, aber auch Israel und Ägypten, nutzen die Möglichkeiten, die ihnen schwache oder gescheiterte Staaten in ihrer Nachbarschaft geben, um weitere strategische Gebiete zu besetzen oder präferierte Gruppen an die Macht bringen zu können. Dabei müssen sie nicht nur ihre internationalen Partner, die USA und den Westen sowie Russland, balancieren können, wie die Türkei und Ägypten es tun, sondern auch Unterstützung für, oder zumindest Akzeptanz oder Ignoranz gegenüber ihren eigenen völkerrechtswidrigen Aktionen aufrechterhalten können. Zudem werfen andere überregionale Kräfte wie der Iran oder die VAE ihr geopolitisches sowie militärisches Gewicht gegen ihre Gegner Israel bzw. Türkei in den Ring. Die Europäer treten kaum als ordnende Mächte in diesen Konflikten im östlichen Mittelmeer auf, exportieren jedoch Waffen an die beteiligten Akteure. Deutschland und Italien gehören dabei zu den größten Rüstungsexporteuren sowohl nach Ägypten als auch nach Israel und in die Türkei.

Die europäischen Mittelmeer-Anrainerstaaten kooperieren mit ihren südlichen Nachbarn zwar auch, beispielsweise auf energiepolitischer Ebene (vgl. Sülün in dieser Ausgabe, S. 17), richten ihre Kooperation in diesem Bereich jedoch hauptsächlich nach den jeweiligen Prioritäten bei der Migrationsabwehr aus. Die kürzlich verabschiedete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wird mit seiner Institutionalisierung der Abschiebung in »sichere« Drittstaaten (statt Herkunftsländer) diese Art der Diplomatie noch stärken.

Anmerkungen

1) Al-Sisi wurde noch unter dem langjährigen Diktator Hosni Mubarak Direktor des Militärgeheimdienstes und wurde dann nach den ersten freien Wahlen nach der Revolution des arabischen Frühlings von der neuen Regierung der Muslimbruderschaft unter Mohamed Mursi, die dem Westen suspekt war, zum Verteidigungsminister ernannt. Er beteiligte sich dann am Putsch gegen Mursi und führt das Land seitdem mit harter Hand. Dies zeigt sich auch daran, dass Ägypten eine der global höchsten Zahlen an politischen Gefangenen aufweist (Jannack und Roll 2021).

2) Die jüngsten sprachlichen Eskalationen werden es nicht besser gemacht haben, vgl. IntelliNews 2024.

3) Unter den freigegebenen Mails von Hillary Clinton findet sich in einer falsch datierten Email ohne Absender mit dem Titel »NEW IRAN AND SYRIA 2.DOC« das hier zitierte Ziel: „Der beste Weg, Israel einen Umgang mit den wachsenden nuklearen Fähigkeiten Irans zu ermöglichen, ist es, den Menschen in Syrien dabei zu helfen, das Regime von Bashar Assad zu stürzen.“ (siehe wikileaks.org/clinton-emails/emailid/18328)

Literatur

Aydıntaşbaş, A.; et al. (2020): Deep sea rivals: Europe, Turkey, and new eastern Mediterranean conflict lines. European Council on Foreign Relations, Mai 2020.

Dalay, G.; Sabanadze, N. (2024): How geopolitical competition in the Black Sea is redefining regional order. Chatham House, Kommentar, 7.3.2024

Flock, P. (2021): Geopolitik vor Klimawandel. IMI-Analyse 2021/31, Juni 2021.

IntelliNews (2024): Israel incensed as Erdogan vows to ‘send Netanyahu to Allah’. IntelliNews, 22.3.2024

International Institute for Strategic Studies (IISS) (2023): Turbulence in the Eastern Mediterranean. Geopolitical, Security and Energy Dynamics. London, November 2023.

Jannack, P.; Roll, S. (2021): Politische Gefangene in Sisis Ägypten. Willkürliche Inhaftierungen als Hindernis für deutsche Stabilisierungsbemühungen. SWP-Aktuell 2021/A 55, 30.08.2021.

Jordans, F. (2022): Germany won’t train Libyan coast guard due to alleged abuse. APNews, 30.3.2022.

Pablo Flock ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung e.V. und Teil der Redaktion ihres vierteljährlich erscheinenden Magazins »Ausdruck«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/2 Fokus Mittelmeer, Seite 6–9