W&F 1996/4

Gewalt für Frieden?

Skeptisch-utopischer Nachtrag zu Pfarrer Dierlamms und anderer Vertrauensbekundung gegenüber der Staatsgewalt

von Albert Fuchs

Wir setzen unsere Beiträge zur Pazifismusdebatte fort mit der noch ausstehenden Antwort des Redaktionskollegen A. Fuchs auf die »polizeipazifistischen« Einwände von Pfarrer Dierlamm (in W&F 3/95) gegen die »radikalpazifistische« Position. Fuchs versucht, diese Position auch im Hinblick auf die Staatsgewalt nach innen »durchzubuchstabieren«, ohne einem kruden Anarchismus das Wort zu reden.

Pfarrer Dierlamms Rückfragen zu meiner Kritik an seiner polizeipazifistischen Position (Dierlamm, 1994; 1995; Fuchs, 1994) sind durchzogen von einer kaum zu überbietenden Skepsis gegenüber den eigenen Auffassungen, so daß sich eine Replik aus radikalpazifistischer Perspektive fast erübrigt. Andererseits geht es um fundamentale sozialethische Fragen, die seit der Antike vielstimmig und kontrovers diskutiert werden und die ich mit Sicherheit nicht auf ein paar Seiten allseits zufriedenstellend beantworten kann. Und schließlich stellt man sich als offensichtlicher Nutznießer des Staatsgewaltsystems unweigerlich selbst in Frage, wenn man dieses System hinterfragt. Ich will trotz dieser »Unübersichtlichkeit« versuchen, einerseits Dierlamms eigene Zweifel zu vertiefen und mich andererseits der konkreten Utopie der aktiven Gewaltfreiheit zu versichern. Meine Antwort auf Dierlamms Rückfragen verstehe ich auch als kritischen Kommentar zu den polizeipazifistischen Thesen von Koppe (1995) und zu den entsprechenden Vorschlägen von Tönnies (1996). Primär aber geht es mir um die auf einem grundsätzlicheren Niveau ansetzenden Fragen Dierlamms.

Befriedungsgewalt – durch den Nettonutzen moralisch gerechtfertigt?

Gewalt im Sinne von Tötungsgewalt ist nicht einmal im Falle von individueller Notwehr normativ im strengen Sinn zu rechtfertigen. Das war ein – mir selbst bis dato nicht so klares – wesentliches Ergebnis der Auseinandersetzung mit Greinachers Nuklearpazifismus (Fuchs, 1995). Die Situation der Nothilfe, die Dierlamm offensichtlich der innerstaatlichen Anwendung von (polizeilicher) Gewalt zugrundeliegen sieht, wenn er fragt: „Ist es ausgeschlossen und ohne Beispiel, daß durch Androhung und Ausübung von Gewalt je und dann tatsächlich für Recht und Frieden gesorgt wird?“ (Dierlamm, 1995, S. 45), scheint mir keine grundlegend andere zu sein. Auch in dieser Situation läuft trotz aller (annahmegemäß) prosozialen Motivation die Gegengewalt darauf hinaus, sich des (vermeintlichen) Übeltäters als eines Mittels zur Erhaltung bzw. Herbeiführung eines erträglichen Zustands – der Rettung seines Opfers – zu bedienen, den Übeltäter also gerade nicht als Zweck an sich selbst zu betrachten, worin nach vernunftethischem Verständnis im Sinne Kants spezifisch moralisches Handeln besteht. Ein Test nach der in vielen, heterogenen Kulturen bekannten, auch Kants Moralprinzip zugrundeliegenden, »alltagsphilosophisch« aber wohl plausibleren »Goldenen Regel« führt zum gleichen Ergebnis. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, daß man von einem hypothetischen Fall, in dem man sich in der Lage des betroffenen – des Übeltäters also – befindet, sagt, es solle Tötungsgewalt zur Anwendung kommen.

„In einer gewaltbesoffen dahintorkelnden Kultur bestehe ich darauf, anzuhalten, über die Gewalt und ihre Alternativen nachzudenken und dann eine Wahl zu treffen.“
Albert Camus

Gegen diese Argumentation kann man zum einen vorbringen, die Situation der Nothilfe beinhalte keine Instrumentalisierung des Angreifers. Zum andern kann man die (ausschließliche) Verbindlichkeit von Kants Moralprinzip bestreiten. Für die erste Strategie bietet sich die klassische moralphilosophische und -theologische Lehre von der Doppelwirkung einer Handlung an. Danach wäre die Tötung des Angreifers nicht Mittel zur Rettung des Opfers, sondern »nur« zwar vorhergesehene, aber nicht intendierte Folge der Rettungshandlung, also indirekter Natur. Wenn ich Dierlamm recht verstehe, denkt er nicht in diese Richtung. Daher kann ich mich mit einem Hinweis auf die Schwierigkeiten begnügen, in die man sich mit einer solchen Konstruktion etwa im Falle des polizeilichen »finalen Rettungsschusses« – sprich: des gezielten Todesschusses – unweigerlich verstrickt.

Dierlamm dürfte eher eine Ergänzung der vernunftethischen Konzeption durch das sozialpragmatische (utilitaristische) Prinzip der maximalen allgemeinen Interessenbefriedigung im Blick haben. Wie aber ein solches Zusammenspiel funktionieren könnte, ist (mir) völlig unklar. Nicht weniger unklar ist, wie man die »maximale allgemeine Interessenbefriedigung« intersubjektiv akzeptabel bestimmen will – was ja möglich sein muß, wenn es sich um ethische Erkenntnis handeln soll. Und selbst wenn diese Probleme zu lösen wären, könnte man mit guten Gründen bezweifeln, daß die Menschheitsgeschichte dank der Erfindung des mit einem Gewaltmonopol ausgestatteten Staates weniger düster, weniger zu Lasten der wie auch immer zu operationalisierenden allgemeinen Interessenbefriedigung verlaufen ist, als sie ohne diese Erfindung verlaufen wäre (vgl. Krippendorf, 1985; Münkler, 1987). Zumindest, wenn man wirklich alle Menschen – und nicht nur die Angehörigen des je eigenen Clans – als prinzipiell gleichberechtigte Träger der fraglichen Interessen betrachtet und demgemäß das vielfach komplementäre Verhältnis von gewaltgestützter Befriedung nach innen und Gewaltanwendung nach außen mit in Rechnung stellt, lassen sich diese Zweifel nicht unter den Teppich kehren.

Trotz aller dieser Fragen und Zweifel erscheint mir meine frühere apodiktische Gleichsetzung von innerstaatlich-polizeilicher und zwischenstaatlich-militärischer Gewalt (Fuchs, 1994) jetzt zu undifferenziert. Im demokratischen Verfassungsstaat gelten die Adressaten der Gesetze zugleich als ihre Autoren; das ist ihre Legitimationsbasis. Die – eventuell gewaltsame – Durchsetzung von Gesetzen durch die Polizei wird demnach als im Interesse der Betroffenen selbst liegend verstanden. Polizeiliche Eingriffe sind zudem in striktem Sinn dem Ultima-ratio- und dem Verhältnismäßigkeits-Grundsatz unterworfen. Und schließlich müssen polizeiliche Eingriffe einer Überprüfung unter Legalitätsgesichtspunkten standhalten. Gleichwohl – und abgesehen von der notorischen Diskrepanz zwischen demokratietheoretischen Idealen und politischer Realität und polizeilicher Praxis – sehe ich auch weiterhin nicht, wie innerstaatliche (Tötungs-)Gewalt normativ im strengen Sinn zu rechtfertigen wäre.

Neben einem Staatsverständnis, das auf das Gewaltmonopol als »Wesensmerkmal« im Sinne von Paulus, Augustinus, Luther, Hobbes, Weber usw. abstellt, findet man in Dierlamms Einlassung auch eine funktionalistische Staatsauffassung, am deutlichsten in dem Satz: „Ich verstehe unter 'Staat' einfach Rechtsverhältnisse und das durch sinnvolle Regeln und Vereinbarungen geordnete Zusammenleben von Menschen.“ (Dierlamm, 1995, S. 45). Zwar wird nicht gesagt, was diese Rechtsverhältnisse zu Rechtsverhältnissen macht und worin der Sinn dieser Regeln und Vereinbarungen besteht. Ich denke aber, daß Dierlamm diese Seite seines Staatsverständnisses prägnant durch eine Charakterisierung der menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck gebracht sehen könnte, die einer frühen Arbeit von Rawls zu entnehmen ist.

»Gerechte Gemeinschaft« – mit (aller) Gewalt?

Rawls (1967/91) sieht in der menschlichen Gesellschaft ein Gemeinschaftsunternehmen zur Herbeiführung wechselseitigen Nutzens, das sich von einer geteilten Gerechtigkeitsauffassung leiten läßt. Dieses Gemeinschaftsunternehmen ist sowohl durch Interessengleichheit als auch durch Interessenkonflikt gekennzeichnet. Interessengleichheit besteht, sofern die soziale Kooperation allen ein besseres Leben ermöglicht, als jeder es führen könnte, wenn er versuchen würde, nur von seiner eigenen Arbeit zu leben; Interessenkonflikt ergibt sich daraus, daß jeder zur Beförderung seiner eigenen Ziele einen möglichst großen Anteil an dem durch die gemeinsame Anstrengung erzielten größeren Nutzen anstrebt. Daher sind Gerechtigkeitsprinzipien unabdingbar, um eine Übereinkunft hinsichtlich der je angemessenen Anteile zu erreichen und den Verkehr zwischen den sozialen Institutionen zu regeln, denen man die Verteilung des erzielten Nutzens anheimstellen will.

In dieser Perspektive schrumpft das »Wesensmerkmal« der legitimen Gewaltanwendung bestenfalls zu einem Mittel zur Durchsetzung der Gerechtigkeitsauffassung, zu einem Mittel der sozialen Kontrolle unter anderen; im besonderen sind Gewalt und Macht nicht gleichzusetzen (vgl. Arendt, 1970; Litke, 1992; Narr, 1980; Parsons, 1964). Die entscheidende Frage ist dann, ob Gewalt ein geeignetes Mittel zu jenem Zweck darstellt oder nicht viel eher kontraproduktiv ist.

Anthropologische Pessimisten halten es nicht nur für geeignet, sondern für schlechterdings notwendig und verwandeln es damit unter der Hand wieder zu einem »Wesensmerkmal« der menschlichen Gesellschaft. Sie übersehen dabei, daß just ihr dogmatischer Pessimismus als sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken muß: Durch ein Verhalten, das den eigenen pessimistischen Annahmen und Erwartungen – typischerweise gegenüber den anderen, kaum gegenüber sich selbst und der eigenen Klientel – entspricht, induziert man ebensolches (gewaltförmiges) Verhalten bei den anderen und bestätigt dadurch die eigenen Annahmen und Erwartungen und rechtfertigt zugleich sein Verhalten (vgl. Merton, 1948/67). Nicht, daß die pessimistische Anthropologie einfach durch eine ebenso dogmatische optimistische ersetzt werden sollte; damit der Verzicht auf Gewalt auch als Kitt der Gesellschaft überhaupt in den Blick kommen kann, muß man sich aber wohl auf eine sozusagen experimentalistische evolutionäre Anthropologie, für die die menschliche Entwicklung weitgehend offen ist und die in der Verantwortung des Menschen selbst liegt, einlassen (vgl. Brunkhorst, 1996).

Wenn man sich wenigstens versuchsweise darauf einläßt und demgemäß Ausschau hält nach kritischen Bedingungen eines Auskommens ohne Gewalt auch bei der Organisation der Gesellschaft, kann man etwa bei der empirischen Sozialisations- und Moralforschung (vgl. Hoffmann, 1977; Montada, 1987) oder auch bei der kriminologischen Forschung fündig werden. Offenbart aber dieser Rekurs auf politisch-pädagogische Programmtik nicht eine Weltfremdheit, die einem angesichts der alltäglichen organisierten wie nicht-organisierten (Gewalt-)Verbrechen die Sprache verschlagen muß? Ich denke nicht. Wenn man das egoistisch motivierte Verbrechen in Relation setzt zu den staatlichen Megaverbrechen zum angeblichen Schutz vor jenem, kann man gewiß endlos streiten, was schwerer wiegt (s.o.). Nimmt man im Hinblick auf die Unentscheidbarkeit dieser Frage beides gleich ernst – die Verbrechen im Namen egoistischer Interessen und der Rebellion gegen die Normen und Werte einer Gesellschaft wie die Verbrechen im Namen des Guten und des Gehorsams –, wird man den Glauben an die Gewalt als ihren gemeinsamen harten und bitteren Kern ausmachen und entweder resignieren oder sich »ausklinken« aus dieser »Glaubensgemeinschaft«. Was die zweite Alternative bedeuten könnte, wurde mindestens seit den Zeiten des Propheten Jesaja zwar immer wieder thematisiert, bisher aber offensichtlich allenfalls ansatzweise kulturbildend »getestet«. Darauf kommt es jedoch an.

Große Sprünge durch kleine Schritte!

Das klingt vermutlich »erweckungsmoralisch«, »utopisch« oder auch »fundamentalistisch«. Es sollte jedoch klar sein, daß es nicht (nur) um Erweckungsmoral, um Utopie im Sinne von »Nicht-Ort«, um pure Prinzipien geht, sondern um Utopie als Projekt und Programm, um die politisch-kulturelle Durchsetzung eines Paradigmawechsels bezüglich der Austragung von Konflikten auf allen sozialen Ebenen. Damit kommen meine »Kompromisse und Konzessionen« ins Spiel, hinter denen Dierlamm die spezifischen »Halbherzigkeiten« der radikalpazifistischen Position vermutet. Ich denke, dieser Vermutung ist gegenstandslos.

Zunächst kann man einen Kompromiß darin sehen, daß die radikalpazifistische Position nach meinem Verständnis konzeptionell weder Endgültigkeit noch Konfliktfreiheit beinhaltet, wie sehr diese Momente auch zu den beliebten Karikaturen dieser Position gehören mögen (vgl. Sternberger, 1986/95). Da alles Leben in Konkurrenz zu anderem Leben steht und Konflikte lebensnotwendig immer neu entstehen, kann das Ziel »nur« ein bestimmter Modus der Konfliktbearbeitung sein: die einvernehmliche Erarbeitung tragfähiger Problemlösungen. Dieser Konfliktbearbeitungsmodus unterscheidet sich von der Konfliktverleugnung kaum weniger als von rücksichtslosen und daher letztendlich gewaltsamen Durchsetzungsversuchen. Insofern ist eher mit einer Konfliktbelebung als mit Konfliktfreiheit zu rechnen. Damit ist auch gesagt, daß es keine Endgültigkeit geben kann, daß der Weg das Ziel ist und bleibt. Das schließt die institutionelle und kulturelle Verankerung eines gewaltfreien Konfliktbearbeitungsmodus als effektive Annäherung an eine gewaltlose Weltgesellschaft so wenig aus, wie nach der falsifikationistischen Wissenschaftskonzeption die Unerreichbarkeit absoluter wissenschaftlicher Wahrheit eine Wahrheitsannäherung ausschließt. Die Verankerung eines solchen Konfliktbearbeitungsmodus halte ich für die konkrete radikalpazifistische Utopie. Dennoch wird es selbst diesbezüglich auch insofern keine Endgültigkeit geben, als man Waffen kaum »wegerfinden« kann und das, was war, möglich bleibt – auch Auschwitz und Hiroshima, verstanden als Realsymbole des denkbar extremsten Gegensatzes zu dieser konkreten Utopie.

Einen zweiten grundlegenden Kompromiß halte ich auf der Ebene der politischen Prioritätensetzung für unabdingbar. So wenig – vom Standpunkt der Moral – ein wesentlicher Unterschied auszumachen ist zwischen der nach außen und der nach innen gerichteten Gewalt des Staates und so sehr beide Formen unvereinbar sind mit dem radikalpazifistischen Projekt, so bedeutsam erscheint mir dieser Unterschied für das konkrete friedenspolitische Engagement. Die nach innen gerichtete staatliche Gewalt ist offensichtlich funktional für die legitimen Sicherheits- und Schutzbedürfnisse der meisten Bürger; für die nach außen gerichtete gilt das nur sehr bedingt. Jene dürfte daher wesentlich stärker internalisiert sein, das staatsbürgerliche Selbstverständnis viel grundlegender prägen als diese. Zudem ist die nach außen gerichtete Gewalt des Staates im historischen Alltagsbewußtsein vermutlich immer noch – zumindest hierzulande – weitgehend diskreditiert. Und schließlich erscheint die nach innen gerichtete Staatsgewalt in einer rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaft kaum gefährlich, eben durch Recht und Gesetz gezähmt. Daß diese Zähmung labil, wenn nicht illusionär ist, da letztlich wiederum gewalt- und kaum gerechtigkeitsfundiert, dürfte dem Alltagsbewußtsein allenfalls einleuchten, wenn es »auf dem Rechtsweg« keine Gerechtigkeit erfährt bzw. selbst zum Opfer »legaler Gewalt« wird. Aus diesen Gründen hat m.E. unter politischen, d.h. unter Erfolgsgesichtspunkten die kritische Auseinandersetzung mit der Gewalt des Staates nach außen Vorrang auch für das radikalpazifistische Engagement. Allerdings bedroht das immense nach außen gerichtete staatliche Vernichtungspotential, oberflächlich betrachtet, im allgemeinen »nur« andere, nicht die Staatsbürger selbst. Vielleicht wird dieser Nachteil im Hinblick auf Mobilisierung und Organisierung von Widerstand gegen die staatliche Gewalt nach außen dadurch kompensiert, daß nachhaltige Erfolge in dieser Richtung auch zu einer Infragestellung und empfindlichen Schwächung der Gewalt nach innen führen dürften. Denn daß eine Gesellschaft nach außen auf Gewalt verzichtet, nach innen aber fraglos daran festhält, erscheint mir mindestens ebenso unwahrscheinlich wie ein Verzicht auf Gewalt nach innen unter Beibehaltung eines gewaltbestimmten Verkehrs nach außen.

Der Prioritätenkompromiß fächert sich für mein Verständnis nochmals dahingehend auf, daß radikalpazifistische Politik nur von Grund auf gradualistisch bzw. reformistisch angelegt sein kann. Soll heißen: Große Sprünge sind nur durch kleine Schritte zu machen! Das ergibt sich aus der Struktur des politischen Handelns bzw. aus der Struktur des menschlichen Handelns überhaupt. So sehr die idealen Zielentwürfe die realen Gegebenheiten kritisieren und in Frage stellen, sie werden von den gegebenen Möglichkeiten notwendigerweise modifiziert, und zielführendes Handeln muß an den Gegebenheiten ansetzen und die Gegebenheiten in Rechnung stellen. Das besagt, man muß Unterziele setzen und verfolgen; je idealer die Oberziele, desto zahlreicher und vielfältiger die Unterziele. Im besonderen ergibt sich diese Kompromißhaftigkeit der radikalpazifistischen Position aus der konstitutiven Festlegung auf politische Einflußnahme durch Überzeugungsbildung statt durch Zwangsprozesse; Überzeugungsbildung innerhalb einer Gesellschaft oder gar über diverse Gesellschaften hinweg dürfte i.a. ein kumulativer Vorgang, ein Wachstumsprozeß sein, wenn es auch Phasen unterschiedlicher Wachstumsgeschwindigkeit geben mag. Nicht zuletzt sind die psychopolitischen Ergebnisse von Überzeugungsprozessen als »Kompromißbildungen« (Freud) zu charakterisieren.

Aus dem Gesagten folgt schließlich eine grundsätzliche Kompromißbereitschaft auf der Ebene der politischen Bündnisse und Allianzen. Wer auch immer vergleichbare Unterziele anstrebt, weder den radikalpazifistischen Oberzielen entgegenarbeitet noch deren Verfolgung behindert und Radikalpazifisten nicht zur Durchsetzung augenscheinlich dysfunktionaler oder unakzeptabler Ziele nötigt oder benützt, kommt als Bündnispartner in Frage. In der politischen Praxis wird es zudem immer Unsicherheiten geben, da die Funktionalität von Mitteln (Unterzielen) und die Bedeutung von Neben- und Fernwirkungen von Handlungen vielfach nur schwer oder auch überhaupt nicht zu durchschauen sind und folglich u.U. höchst kontrovers beurteilt werden. Damit eröffnet sich jedenfalls auch auf dieser Ebene ein weites Feld von »Kompromissen und Konzessionen«.

Es existiert allerdings eine Grenze, die Pazifisten m.E. nur um den Preis der Selbstaufgabe überschreiten können: Wenn man einem Pazifisten oder einer Pazifistin zumutet, (Tötungs-) Gewalt auszuüben oder zu rechtfertigen, „dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“ (W. Borchert).

Literatur

Arendt, H. (1970). Macht und Gewalt. München: Piper.

Brunkhorst, H. (1996, 26.06.). Der Mensch muß sich selbst erfinden. Frankfurter Rundschau, S. 11.

Dierlamm, W. (1994). Nein zum Militär, Ja zur Polizei. Publik-Forum, 23, Nr. 13, 10-11.

Dierlamm, W. (1995). Gewalt für Frieden? „Eigentlich“ Schutzmacht für die Schwachen. Wissenschaft und Frieden, 13 (3), S. 45.

Fuchs, A. (1994). Gewalt für Frieden? Wissenschaft und Frieden, 12 (4), S. 55-56.

Fuchs, A. (1995). Gewalt für Frieden? Radikalpazifistische Antworten auf Professor Greinachers Rückfragen. Wissenschaft und Frieden, 13 (4), S. 55-58.

Hoffmann, M.L. (1977). Moral internalization: Current theory and research. Advances in Experimental Social Psychology, 10, 86-135.

Koppe, K. (1995). Pazifismus im Zeichen neuer Gewalt. Zehn Thesen. Wissenschaft und Frieden, 13 (1), S. 69.

Krippendorf, E. (1985). Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Litke, R.F. (1992). Violence and power. International Social Science Journal, 44 (2), S. 173-183.

Merton, R.K. (1967). Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen. In E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften (S. 144-161). Köln: Kiepenheuer & Witsch. (Original 1948)

Montada, L. (1987). Entwicklung der Moral. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 738-766). Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Münkler, H. (1987). Staat, Krieg und Frieden: Die verwechselte Wechselbeziehung. In R. Steinweg (Red.), Kriegsursachen. Friedensanalysen 11 (S. 135-144). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Narr, W.D. (1980). Physische Gewaltsamkeit, ihre Eigentümlichkeit und das Monopol des Staates. Leviathan, 8, S. 541-573.

Parsons, T. (1964). Some reflections on the place of force in social process. In H. Eckstein (Ed.), Internal war (pp. 33-70). London: CollierMacmillan.

Rawls, J. (1991). Eine Vertragstheorie der Gerechtigkeit. In N. Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral (S. 197-213). Stuttgart: Reclam. (Original 1967) Sternberger, D. (1995). Über die verschiedenen Begriffe des Friedens. In D. Senghaas (Hrsg.), Den Frieden denken (S. 91-105). Frankfurt/M.: Suhrkamp. (Original 1986)

Tönnies, S. (1996). Der Pazifismus und die Vereinten Nationen. Wissenschaft und Frieden, 14 (3), S. 82-84.

Dr. Albert Fuchs lehrt an der Pädagogischen Hochschule Erfurt und ist Redaktionsmitglied von W&F.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/4 Weltweit im Kommen: Die neue Bundeswehr, Seite