Gewalt trotz »Frieden«
Status quo des liberalen Friedens in Lateinamerika
von Theresa Bachmann
Die Zeit der Bürgerkriege und der Militärdiktaturen in Lateinamerika scheint vorbei und doch hat Gewalt in verschiedensten Ausprägungen den Subkontinent fest im Griff. Der Beitrag argumentiert daher, dass das westlich-liberal geprägte Konzept des »liberalen Friedens« der Realität von Millionen Lateinamerikaner*innen nicht gerecht wird, und plädiert stattdessen für Kurtenbachs (2017) Verständnis von Frieden als Gewaltreduktion.
Liberale Demokratie und Ökonomie als Garant für Frieden und Stabilität in und zwischen Staaten – diese als »liberalen Frieden« bezeichnete Formel umschrieb Michael Doyle (2004) wie folgt: „Liberale Staaten, gegründet auf individuellen Rechten, wie Gleichheit vor dem Gesetz, freie Meinungsäußerung und andere Freiheiten, Privateigentum und gewählte Repräsentant*innen, sind in ihrem tiefsten Inneren gegen Krieg. Wenn Bürger*innen, die die Lasten von Krieg zu tragen haben, ihre Regierungen wählen, werden Kriege unmöglich. Zudem profitieren Bürger*innen nur in Friedenszeiten vom Handel. Sprich, die schlichte Existenz liberaler Staaten […] sichert Frieden. Frieden und Demokratie sind daher zwei Seiten derselben Medaille.“
Dieses Konzept leitet im Wesentlichen noch heute das Engagement der Vereinten Nationen in zahlreichen ehemaligen Kriegsgebieten weltweit. Liberalisierung bestimmt spätestens seit der Endphase des Kalten Krieges auch auf dem lateinamerikanischen Subkontinent die wirtschaftliche und politische Entwicklung zahlreicher Staaten. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint deren Umsetzung zunächst vielversprechend: 2014 erklärte die CELAC (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten) Lateinamerika zur »Friedenszone«. Die bewaffneten Konflikte, die insbesondere Zentralamerika in den 1980er Jahren fest im Griff hatten, hatten ein Ende gefunden. Zwei Jahre später wurde zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) ein Friedensvertrag unterzeichnet. Mit Ausnahme Kubas sind zudem alle Staaten der Region Demokratien.1 Zwischenstaatliche Kriege, historisch gesehen ohnehin die Ausnahme in Lateinamerika, erscheinen trotz einiger Konflikte äußerst unwahrscheinlich. Ist Lateinamerika also ein friedlicher Kontinent?
Die Realität von Millionen Lateinamerikaner*innen spricht eine andere Sprache. Wenngleich die regionalen Unterschiede beträchtlich sind – omnipräsente Gewalt in verschiedensten Ausprägungen zieht sich wie ein roter Faden durch die Region. Nur 9 % der Weltbevölkerung lebten 2017 auf dem Subkontinent, aber 42 % aller weltweiten Mordfälle passierten hier. Gemessen an der Zahl der Mordfälle pro 100.000 Einwohner*innen befinden sich die zehn gefährlichsten Städte der Welt in Lateinamerika (UNODC 2019). Insbesondere in zentralamerikanischen Staaten stellen anhaltend hohe Mordraten, die die Opferzahlen zu Bürgerkriegszeiten bei weitem übersteigen, sowie Drogenkartelle und Gangs, die ganze Städte kontrollieren, staatliche Behörden vor große Probleme.
Gewalt beschränkt sich nicht nur auf Kriminalität beziehungsweise organisiertes Verbrechen. Sabine Kurtenbach (2019) weist darauf hin, dass auch selektive politische Gewalt gegen Menschenrechtsaktivist*innen, soziale Bewegungen und Journalist*innen sowie staatliche Repression und die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit zunehmen. In Brasilien patrouillierte das Militär 2018 am Strand von Copacabana; in Chile beauftragte Präsident Piñera das Militär zu Beginn der aktuellen Proteste mit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in der Hauptstadt Santiago; in Guatemala hält das Militär weitgehend ohne internationale Aufmerksamkeit seit Ende letzten Jahres in Teilen des Landes unter Missachtung grundlegender Menschenrechte den Ausnahmezustand aufrecht. Quer durch die Region weisen die Teilnehmer*innen unter dem Motto »Ni una menos« (Keine weniger) auf Demonstrationen regelmäßig auf die anhaltende Gewalt gegen Frauen hin. In Kolumbien sieht sich Präsident Duque einer Massenprotestbewegung ausgesetzt, die unter anderem für die Einhaltung des Friedensabkommens mit den FARC und ein Ende der gezielten Tötungen von Menschenrechtsaktivist*innen auf die Straße geht.
Liberaler Frieden und Kriminalität in Lateinamerika
Nach Ende des Kalten Krieges veränderte sich nicht nur die Kriegsführung, sondern auch die Art bewaffneter Konflikte. Mary Kaldor (1999) prägte dafür den Begriff der »neuen Kriege«. Die meisten zeitgenössischen Konflikte sind innerstaatlicher Natur. Zeitgleich fand auch bei den Vereinten Nationen das Paradigma des »liberalen Friedens« zunehmend Akzeptanz, das auf der Theorie des demokratischen Friedens basiert. Seine Befürworter*innen2 teilen die Grundannahme, dass eine Kombination aus Demokratie3 und freier Marktwirtschaft das beste Mittel für Frieden und Stabilität in und zwischen Staaten sei. Mit dem übergeordneten Ziel des nachhaltigen Friedens in vormaligen Kriegsgebieten weltweit gehen diverse Maßnahmen für die Stärkung von Sicherheit, den Aufbau von Institutionen sowie für im neo-liberalen Sinn verstandene wirtschaftliche Entwicklung einher (Newman et al. 2009, S. 8). Einen besonderen Schwerpunkt bildete dabei in den 1990er Jahren die (einmalige) Organisation freier Wahlen. Diese Maßnahmen werden im Wesentlichen von externen Akteuren getragen, darunter den Vereinten Nationen sowie ihren Unterorganisationen, bilateralen Geberstaaten, weiteren internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen.
Lateinamerikanische Staaten spielen in der anhaltenden Debatte um westlich inspiriertes »Peacebuilding« allerdings eine untergeordnete Rolle, obgleich 2016 mit dem Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC sogar das Ende des längsten bewaffneten Konflikts der Region greifbar nahe schien. Dennoch – oder gerade deswegen – lassen sich aus dem Status quo lateinamerikanischer Gesellschaften wertvolle Erkenntnisse für die Konzeption des liberalen Friedens gewinnen.
In Teilen der Literatur wird liberales »Peacebuilding« als ineffizient, kulturell insensibel, vom »Westen« aufoktroyiert und für ohnehin marginalisierte Bevölkerungsschichten schädlich abgelehnt (Duffield 2001; Richmond und MacGinty 2013). Anhaltende Gewalt, omnipräsente organisierte Kriminalität, Drogenkartelle und gewalttätige Gangs in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten sind die teils fatalen Konsequenzen des einseitigen Fokus‘ auf politische Gewalt, der dem liberalen Friedensbegriff zugrunde liegt. Aus der Perspektive von Institutionen wie der CELAC mögen die zu Zeiten des Kalten Krieges als »politisch« porträtierten Konflikte in der Region vorbei sein. Dennis Rodgers (2009) wies aber darauf hin, dass die heute als »kriminell« dargestellte Gewalt, insbesondere in Lateinamerikas Städten, lediglich eine strukturelle Fortsetzung von Konflikten sei, die in der Vergangenheit als »politisch« eingestuft wurden.
Einige Zahlen verdeutlichen das Ausmaß der Krise:4 In keiner anderen Weltregion geschehen absolut wie relativ mehr Morde. 2017 wurden auf dem amerikanischen Kontinent nach Angaben des UN Office on Drugs and Crime (UNODC 2019) rund 173.000 Menschen getötet, jedes Jahr allein in Brasilien etwa fünfzig- bis sechzigtausend. Aus Angst vor Mord, sexueller Gewalt, gewaltsamem Verschwinden und anderen Menschenrechtsverletzungen verlassen jährlich Tausende, vor allem zentralamerikanische, Bürger*innen ihre Heimatstaaten in Richtung USA. Die Anzahl der Asylanträge in den USA aus dem am stärksten betroffenen El Salvador wuchs nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen allein zwischen 2012 und 2017 um mehr als 1.000 % (Human Rights Watch 2020). Diese Zahlen sind Ausdruck der Angst von Millionen Lateinamerikaner*innen vor alltäglicher Gewalt. Sie zeigen, dass der Status quo des »liberalen Friedens« die multiplen Formen physischer Gewalt eher ausblendet und unsichtbar macht, als dass er sie reduziert oder gar eliminiert. Angesichts des zunehmenden Verwässerns der Grenzen zwischen politischer und krimineller Gewalt muss ein Friedensverständnis, das die Realität lateinamerikanischer Gesellschaften reflektieren will, diese Dimensionen jedoch miteinbeziehen.
Ein Verständnis von Frieden als Gewaltreduktion
Dies ist der Ausgangspunkt für Sabine Kurtenbachs (2017) Überlegungen zu einem globalen Friedenskonzept. In Anlehnung an Jenny Pearce (2016) wird Frieden darin nicht als das Gegenteil von Krieg verstanden, sondern als das Gegenteil von multiplen Formen physischer Gewalt. Primäres Ziel ist dementsprechend nicht nur die Beendigung von Kriegen und bewaffneten Konflikten, sondern die Reduzierung beziehungsweise Eliminierung aller Formen direkter physischer Gewalt. In der Annahme, dass Konflikte inhärenter Bestandteil jeder Gesellschaft sind, wird gewaltfreie Konflikttransformation als weiterer zentraler Bestandteil eines globalen Friedenskonzepts angesehen.
Globale Friedenskonsolidierung muss Kurtenbach (2017, S. 7) zufolge daher folgende Elemente beinhalten:
- die Reduktion direkter physischer Gewalt sowie die Ermöglichung gewaltfreier Formen von Widerstand,
- eine detaillierte Konfliktanalyse unter Einbeziehung wesentlicher Prozesse sozialen Wandels,
- die Gewährleistung, dass »Peacebuilding«-Strategien flexibel und kontextspezifisch angepasst werden können.
Die Vorteile eines solchen Friedensverständnisses liegen auf der Hand. Während westlich geprägte Vorstellungen von »liberalem Frieden« normativ aufgeladen sind und vielfach abgelehnt werden, ist ein Fokus auf die Verringerung oder gar Vermeidung physische Gewalt kaum kontrovers. Dieses Friedensverständnis kann daher zumindest prinzipiell für alle Weltregionen angewandt und handhabbar gemacht werden (ibid., S. 4). Vor allem aber bezieht es Erfahrungen des Globalen Südens mit ein. Durch seinen menschen- statt staatszentrierten Fokus ermöglicht es, stärkere Aufmerksamkeit auf marginalisierte Gruppen zu legen und individuelle Erfahrungen mit physischer Gewalt einzubeziehen, anstatt deren Exklusion durch dominierende Friedensdiskurse weiter zu reproduzieren.
Kurtenbachs Ansatz verortet sich damit zu einem gewissen Grad in der Tradition Galtungs (1981) und dessen Hinweis auf ein breiteres Verständnis von Frieden in nicht-westlich geprägten historischen und kulturellen Kontexten. Wesentliche Unterschiede zu Galtung ergeben sich jedoch durch die Dimensionen von Gewalt: Galtungs positiver Friedensbegriff setzt die Abwesenheit von physischer, struktureller und kultureller Gewalt voraus, Kurtenbachs Friedensverständnis hingegen beschränkt sich auf physische Gewalt. Dies verhindert zwar eine Überdehnung und einen damit einhergehenden Verlust an inhaltlicher Substanz des Friedensbegriffes, doch sollten die strukturellen Ursachen von Gewalt, wie die omnipräsente extreme Ungleichheit auf dem gesamten lateinamerikanischen Subkontinent, dadurch nicht in den Hintergrund geraten.
Fazit
Jede Sprache der Welt kennt ein Wort, das dem deutschen »Frieden« entspricht, dahinter verbergen sich jedoch ganz unterschiedliche Vorstellungen. Die Schwierigkeit, einen globalen Friedensbegriff zu etablieren, ergibt sich u.a. aus der Vielzahl an Akteur*innen, sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen und konkreten Politiken, aus deren Interaktion Friedensdiskurse und -prozesse entstehen. Die westlich geprägte Idee des liberalen Friedens scheitert nicht nur an der konkreten Umsetzung, sondern auch an der Ausblendung von Erfahrungen des Globalen Südens. Vor diesem Hintergrund plädiert dieser Beitrag für Kurtenbachs Verständnis von Frieden als Gegenpol zu physischer Gewalt. Der Blick auf die aktuelle Situation in zahlreichen lateinamerikanischen Gesellschaften zeigt jedenfalls, wie »Frieden« in seiner liberalen Auslegung angesichts der grassierenden Gewalt, der sich Millionen Lateinamerikaner*innen täglich ausgesetzt sehen, zu einer leeren Worthülse werden kann.
Anmerkungen
1) Zum Teil erhebliche Defizite, beispielsweise in Bezug auf Korruption und schwache Institutionen, bestehen allerdings weiter (Kurtenbach 2019, S. 285). Aus Platzgründen werden diese in diesem Beitrag nicht näher betrachtet.
2) Für Informationen zu verschiedenen Strömungen innerhalb des »Liberal Peacebuilding«-Paradigmas siehe Richmond (2006).
3) In der »Liberal Peacebuilding«-Literatur wird Demokratie unter Rückgriff auf Dahls (1971) Polyarchie-Modell zumeist als Verfahrensdemokratie mit politischen Institutionen, Wahlen und allgemeinem Wahlrecht verstanden.
4) Es gibt zum Teil massive regionale Unterschiede. Hinzu kommt, dass Daten zu Gewalt äußerst umstritten und sogar ihrerseits Gegenstand eines Konflikts sein können (Kurtenbach, 2017, S. 286).
Literatur
Dahl, R. (1971): Polyarchy – Participation and Opposition. New Haven: Yale University Press.
Doyle, M. (2004): Liberal Internationalism – Peace, War and Democracy. nobelprize.org.
Duffield, M. (2001): Global Governance and the New Wars – The Merging of Development and Security. London: Zed.
Galtung, J. (1981): Social Cosmology and the Concept of Peace. Journal of Peace Research, Vol. 18, Nr. 2, S. 183-199.
Human Rights Watch (2020): Deported to Danger – United States Deportation Policies Expose Salvadorans to Death and Abuse. Washington, DC: Human Rights Watch.
Kaldor, M. (1999): New and Old Wars – Organized Violence in a Global Era. Cambridge: Polity Press.
Kurtenbach, S. (2017): No One Size Fits All – A Global Approach to Peace. GIGA Focus, Nr. 5/2017, S. 1-11.
Kurtenbach, S. (2019): The Limits of Peace in Latin America. Peacebuilding, Vol. 7, Nr. 3, S. 283-296.
Newman, E; Paris, R.; Richmond, O. (2009): Introduction. In: dieselben (eds.): New Perspectives on Liberal Peacebuilding. Tokyo: United Nations University Press, S. 3-25.
Pearce, J. (2016): The »Violence Turn« in Peace Studies and Practice. In: Unger, B. et al. (eds.): Undeclared Wars – Exploring a Peacebuilding Approach to Armed Social Violence. Berlin: Berghof Handbook Dialogue Series 12, S. 31-40.
Richmond, O.; McGinty, R. (2013): The Local Turn in Peacebuilding – A Critical Agenda for Peace. Third World Quarterly, Vol. 34, Nr. 5, S. 763-783.
Rodgers, D. (2009): Slum Wars of the 21st Century – Gangs, Mano Dura and the New Urban Geography of Con?ict in Central America. Development and Change, Vol 40, Nr. 5, S. 949-976.
United Nations Office on Drugs and Crime/UNODC (2019): Global Study on Homicide. Wien.
Theresa Bachmann (B.A.), Marburg, studierte im Bachelor Lateinamerikastudien in Eichstätt und Belo Horizonte. Aktuell studiert sie im letzten Jahr des binationalen Masterstudiengangs »Peace and Conflict Studies« an der University of Kent und der Philipps-Universität Marburg.