»Governance« statt »Government«?
Die Grenzen des post-liberalen Peacebuilding am Beispiel Bosnien
von David Chandler
Die von den USA angeführten internationalen Versuche von Peacebuilding im Irak und Afghanistan sind starker Kritik ausgesetzt. Ihre angeblich »liberale« oder »neoliberale« Ausrichtung sei einzig fokussiert auf die Errichtung westlicher Markt-Demokratien, basierend auf einem autonomen, rational denkenden Individuum. Die Peacebuilding-Aktivitäten der Europäischen Union werden hingegen oft als Positivbeispiel herangezogen. Allerdings sind auch diese Maßnahmen kritisch zu bewerten, wie David Chandler am Beispiel Bosnien zeigt.
Ziel dieses Artikels ist es, die Grenzen von Peacebuilding am Beispiel des Balkans aufzuzeigen, wo die Voraussetzungen in der Post-Konflikt-Zeit sehr viel günstiger waren als in Afghanistan oder im Irak. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der »nicht-liberalen« bzw.»post-liberalen« Ausgestaltung externer Peacebuilding-Interventionen der EU. Der Artikel geht von der These aus, dass die EU traditionelle liberale, rechtsbasierte Ansätze außer Acht lassen konnte, ohne wesentliche Kritik auf sich zu ziehen. Stattdessen stellte sie ihre interventionistische Rolle als unerlässlich für Fortschritt und Empowerment dar und vermochte sich dadurch trotz ihrer allumfassenden Machtbefugnisse und nur bescheidener Erfolge in Bosnien nach dem Friedensvertrag von Dayton Ende 1995 ihrer Verantwortung zu entziehen. Einer der Gründe für die relativ geringe Kritik liegt darin begründet, dass die EU Misserfolge und auftretende Probleme – besonders im Hinblick auf das Tempo der Integration und nachhaltigen Frieden – auf eine Weise dargestellt hat, dass ihr Anspruch, beim Export einer externen Good-Governance-Agenda eine wichtige Rolle zu spielen, noch gestärkt wurde. Einerseits haben diese begrenzten Reformerfolge der Selbstprojektion der EU Auftrieb gegeben, als eine »zivilisierende Mission« in einem vermeintlich gefährlichen Vakuum in der Region zu agieren. Andererseits hat sich die EU durch die Betonung von Good Governance geradezu der politischen Verantwortung entzogen, die mit ihrer starken Machtbefugnis in dieser Region verbunden ist.Statt ihre Politik auf der Basis von Legitimation durch Repräsentativität zu begründen, unterminiert die EU durch ihr Good-Governance-Konzept Bosniens Autonomie und eigenverantwortliche Regierungsführung, indem sie administrativen und regulativen Konzepten Priorität gegenüber demokratischen Prozessen einräumte. Die Grenzen dieses Ansatzes werden in der Tendenz ersichtlich, die Gestaltung der Politik von der Rechenschaftspflicht für diese Politik zu trennen und dadurch die Legitimität von Regierungsinstitutionen zu schwächen. Deshalb verfügt Bosnien, obwohl es aus völkerrechtlicher Sicht souverän sein mag, noch immer nicht über wirksame Mechanismen, um seine Gesellschaft politisch zu integrieren.
Das politische Konzept von Good Governance unterscheidet sich deutlich von dem klassischen liberalen Diskurs über»Government«. Während Government ein liberales, rechtsbasiertes Konzept politischer Legitimität hinsichtlich Autonomie und selbstbestimmter Staatsautorität voraussetzt, konzentriert sich der post-liberale Diskurs über Good Governance auf technische und administrative Kompetenzen, auf Regelungsmechanismen anstatt auf politische Legitimition durch Repräsentativität oder die daraus abgeleitete Autorität.
Diese Verschiebung ist für das Verständnis der Methoden notwendig, mittels derer die EU sowohl ihre politischen Prioritäten exportieren als auch eine legitime Autorität zur Bewertung der Kompetenzen der neuen Mitglieder und Beitrittskandidaten beanspruchen kann. Der Export von Good Governance gibt vor, das externe Engagement der EU sei eine Vorbedingung für politischen Fortschritt anstatt eine Ausnahme der Souveränitätsnorm, die der besonderen Rechtfertigung bedarf. Es ist eine Intervention, deren Legitimität – und die der daran gebundenen politischen Erlasse – eher im technischen und administrativen Sinne als im liberal-demokratischen beurteilt wird.
Das Good-Governance-Konzept kritisiert Souveränität nicht auf der Basis einer offenen Diskussion über das Recht auf Intervention oder der »responsibility to protect«, die die formale politische und rechtliche Gleichheit unterhöhlen würden. Vielmehr erfolgt die Kritik auf Basis des Bedarfs an externer Expertise, die nötig ist, um die Regierungsinstitutionen aufzubauen und zu befähigen. In der Terminologie der einflussreichen Politikanalytiker Claire Lockhart und Ashraf Ghani unterhöhlt diese externe Governance-Unterstützung die Souveränität nicht, sondern unterstützt sie vielmehr, indem sie die »Souveränitätslücke«, die sich in der technischen und administrativen Schwäche der Staaten in dieser Region manifestiert, überwindet (Claire Lockhart und Ashraf Ghani 2008). Durch ihren Erweiterungsprozess, in dem Beitrittskandidaten im Wesentlichen durch Mitgliedstaaten aufgebaut werden, ist die Europäische Union zum Exporteur von Good Governance par excellence geworden.
Die EU ist sehr daran interessiert, eine Führungsrolle im Bereich Good Governance einzunehmen. Auch Forscher unterstützen sie in dieser Rolle, indem sie betonen, dass die EU durch »soft power« und normative Einflussnahme eine »Union der Freiwilligkeit« errichten kann. Insbesondere europäische Forscher bewerten die Art und Weise der Einflussnahme durch die EU sehr viel positiver als die »neokolonialen« oder »machtbasierten« Ansätze der Vereinigten Staaten oder einzelner Mitgliedsstaaten. Bei einer genaueren Analyse des Good-Governance-Ansatzes der EU in Bosnien zeigt sich jedoch, dass die technokratische und administrative Legitimation externer Intervention kritikwürdig ist, und dies besonders im normativen und praktischen Bereich der Politik.
»Governance« statt »Government«
Die Ungleichheit in der Beziehung zwischen gewählten Vertretern in der Balkanregion und externen Regulierungsbehörden wie der EU fällt insbesondere bei den internationalen Regularien für Bosnien und Kosovo ins Auge. In beiden Ländern sind die Beschränkungen der lokalen Souveränität und Selbstverwaltung, durch die eine Beziehung der Ungleichheit und der externen Dominanz institutionalisiert wird, die Regel, nicht die Ausnahme. Im Kontext dieser ungleichen Partnerschaft zeigen sich deutlich die Probleme, die ein Export von Good Governance auf der Ebene institutioneller Reformen und Zivilgesellschaft mit sich bringt. Sowohl in Bosnien als auch im Kosovo gibt es gewählte Regierungen auf der lokalen, der regionalen und der nationalen Ebene. Indessen ist die internationale Verwaltung in doppelter Rolle vertreten: Der Hohe Repräsentant in Bosnien bzw. der Internationale Zivile Repräsentant im Kosovo sind beide gleichzeitig Sondergesandte der EU. In beiden Fällen wird behauptet, die internationale Verwaltung sei Bestandteil eines vertraglichen Prozesses auf dem Weg zu »ownership«, Selbstverwaltung und Integration in europäische Strukturen.
In Bosnien ist die EU bemüht, die so genannten »Bonner Befugnisse« des Hohen Repräsentanten zu reduzieren. Die Schlüsselfrage ist, wie unter diesen neuen Bedingungen durch Konditionalität Druck erzeugt werden kann, der bisher mit der Androhung der Entlassung von Amtsträgern und durch direkte Erlasse des Hohen Repräsentanten ausgeübt wurde. Der Beitrittsprozess zur EU gilt als vertraglich bindend und verpflichtet Politiker darauf, den Weg Richtung EU weiter zu beschreiten. Aber es geht bei Konditionalität nicht um die endgültigen Konditionen für eine Mitgliedschaft. Letztere bleibt ein Prozess mit einem offenen Ende, weil die Erweiterungskriterien unklar sind und keine allgemeinen technischen oder administrativen Elemente enthalten, sondern vielmehr von politischen Erwägungen abhängen. Konditionalität wird zu einem Prozess des Beziehungsmanagements, der auf schrittweisen Fortschritt zielt, um sicher zu stellen, dass Reformen stattfinden, ohne dass es zwischen Politikern und EU-Administratoren zu Pattsituationen kommt.
Konditionalität wirkt durch das tägliche Management des Beitritts- und Reformprozesses, wobei die EU-Beamten darauf bedacht sind, Konflikte zu vermeiden, die entstehen können, wenn »zu früh zu viel« gefordert wird. Dieser heikle Prozess des Reformmanagements verlagert die zentrale politische Arena von der nationalen Ebene auf die internationale. Die EU entscheidet nicht nur über ihre eigenen Standards für neue Mitglieder. Das Politikmanagement der EU in den Staaten der Region und ihre Sonderbeauftragten sind zugleich wichtige politische Akteure in den Gesellschaften, die sie zu managen suchen und in deren Umfeld sie heikle politische Entscheidungen über den weiteren Reformprozess treffen.
Die Unterscheidung zwischen » hard«- und »soft power«-Befugnissen im Kontext der Beziehung der EU zu den Staaten des Balkans ist nicht von grundlegender Bedeutung. Einmal in den Beitrittsprozess eingebunden, unterscheidet sich der vermeintliche »pull« aus Brüssel (EU-Konditionalität) nicht eklatant von beispielsweise dem »push« aus Bonn (den exekutiven Befugnissen des Büros des Hohen Repräsentanten). Der Sonderbeauftragte der EU muss seine exekutiven Vollmachten gar nicht einsetzen, sobald der Politikprozess einmal institutionalisiert ist und mit Hilfe von Konditionalität in Gang gesetzt wurde und damit den Zeitplan für Reformen und politische Inhalte vorgibt.
Für die Glaubwürdigkeit der EU ist es zwar unerlässlich, dass die bosnischen Politiker selbst den Kriterien des EU-Beitritts zustimmen. Dass der damit zusammenhängende Politikprozess der Legislative als fait accompli präsentiert wird, bedeutet aber, dass es aus innerstaatlicher Sicht kaum einen Unterschied zwischen den zwei Ansätzen gibt. Dabei ist es unerheblich, ob die Politik mit der »harten« Drohung von Entlassungen oder mit der »weichen« Drohung des Entzugs von Finanzmitteln und der Aussetzung des Beitrittsprozesses durchgesetzt wird: Die heimischen politischen Parteien haben keine Möglichkeit, politische Alternativen zu diskutieren. Das externe Konzept der Politikgestaltung bringt überdies mit sich, dass politische Parteien eher mit den internationalen Repräsentanten hinter verschlossenen Türen verhandeln als untereinander und unter Einbezug der Öffentlichkeit.
Dieser Prozess des Politikmanagements unter den Vorzeichen des Beitritts – oder der »soft power pull« von Brüssel – führt nicht nur zu einem extern gesteuerten politischen Prozess, sondern auch zu einem klar manipulativen. Anstatt zu klären, was eine EU-Mitgliedschaft beinhaltet, stehen die Eliten des Balkans unter dem Druck, öffentliche Diskussionen zu vermeiden und gleichzeitig gesellschaftliche Zustimmung einzuwerben. Der strategische Einsatz von Konditionalität bedeutet auch, dass die EU versucht, politische Aspekte als technische darzustellen, um so den Reformprozess voranzubringen.
Dies wurde in Bosnien deutlich, als die Polizeireform als technische Notwendigkeit und Voraussetzung für den Beitritt ausgegeben wurde, obwohl keine EU-Rahmenvereinbarung für eine zentral verwaltete Polizei vorlag. Im Grunde verbarg sich dahinter die Absicht, das Rahmenabkommen von Dayton umzugestalten und die Befugnisse der bosnisch-serbischen Entität zu schwächen. Dieser instrumentelle und manipulative Einsatz von Konditionalität findet sich auch in der laufenden Diskussion wieder, unter Verweis auf Menschenrechtsbestimmungen eine Reform des Wahlverfahrens für die dreiköpfige Präsidentschaft in Bosnien durchzusetzen.
Statt politische Ziele offen zu benennen, forciert die aktuelle Dynamik kontroverse Reformen unter dem Deckmantel technischer und administrativer Erfordernisse. Die politische Gestaltung der Gesellschaft des Balkans erfolgt durch externe Verwalter, was den gesamten politischen Prozess des Landes degradiert. Gleichzeitig werden Möglichkeiten für nationale Debatten und Initiativen untergraben und der Schulterschluss zwischen politischen Eliten und externen Verwaltern begünstigt – gegen die Wünsche und Erwartungen der jeweiligen Bürger.
Dieser »demokratische« Diskurs, der die EU als den wahren Vertreter des Volkes im Gegensatz zu den illegitimen und unreifen Politikern präsentiert, passt gut zu der Behauptung, dass Politikern die Interessen der Bürger nicht am Herzen lägen und ihre Motivation vielmehr persönlichen Interessen wie Gier und Eigennutz entspringe. Weiterhin impliziert dieser Diskurs, dass Wahlergebnisse als das Resultat einer Manipulation durch Eliten oder als Zeichen für mangelnde »Wahlreife« abzuwerten seien. Der Konditionalitätsprozess wird angeblich durch innerstaatliche Repräsentationsprozesse blockiert. (Ähnlich wurde die Ablehnung des Lissabon-Vertrags durch die irischen Wähler begründet, was impliziert, dass den Stimmen des Volkes weniger Gewicht zukommen sollte als dem Konsens internationaler Experten.)
Statebuilding durch die EU in der Region ist ein deutliches Beispiel für die Grenzen des Good-Governance-Diskurses. In Staaten mit schwachen Verbindungen zu ihren Gesellschaften saugt die Nachbarschaftspolitik der EU regelrecht das politische Leben aus diesen Gesellschaften und institutionalisiert bestehende politische Trennungen zwischen ethnischen und nationalen Gruppen, indem der Bedarf an öffentlicher Aushandlung und Kompromissfindung zwischen den heimischen Eliten unterlaufen wird.
Die externe Steuerung des Politikprozesses bedeutet, dass politische Eliten eher versuchen, externe EU-Akteure zu beeinflussen, als sich für den innerstaatlichen Aufbau einer Wählerschaft zu engagieren. Noch problematischer ist die Tatsache, dass angesichts des Interesses der politischen Eliten und EU-Beamten, den Prozess des Beziehungsmanagements aufrecht zu erhalten, lokale politische Eliten zunehmend davon abgehalten werden, sich mit ihren eigenen Bürgern auseinanderzusetzen (bei den politischen Eliten der EU-Mitgliedsstaaten passiert etwas ganz Ähnliches). Statt Demokratie zu exportieren und neue staatliche Strukturen zu legitimieren, führt das Statebuilding der EU zu einem politischen Prozess, bei dem die Wähler und die Prozesse elektoraler Repräsentation eher als Reformhemmnis denn als Reformvoraussetzung gelten.
Der »Governance«-Staat
Staaten, die nur dem Namen nach als unabhängige politische Subjekte konzipiert sind, sind nur eine Hülle ohne Inhalt. Staaten ohne politische Autonomie mögen auf dem Papier eine technisch solide Regierungsführung und administrative Strukturen aufweisen. Aber die verkümmerte politische Sphäre verhindert Versuche, Post-Konflikt-Gesellschaften zusammenzuhalten und die gesellschaftliche und politische Spaltung zu überwinden. Den so geschaffenen Staaten, die zwar völkerrechtlich souverän sind, aber die Kontrolle über die Politikgestaltung an eine externe Bürokratie in Brüssel abgetreten haben, fehlen die substantiellen Mechanismen der politischen Legitimation als Verkörperung eines kollektiven Willensausdrucks ihrer Gesellschaften.
Bosnien ist der offenkundigste Fall eines neuen Typs des »Good-Governance-Staates«, der im Kontext des EU-Erweiterungsprozesses einen Abstand zu Macht und politischer Verantwortung aufbaut. Allen Absichten und Zielen nach ist Bosnien ein Mitglied der Europäischen Union; tatsächlich ist Bosnien der erste authentische »EU-Staat«, in dem die Souveränität in Wirklichkeit nach Brüssel verlagert wurde. Die EU stellt seine Regierung; der internationale Hohe Repräsentant ist ein EU-Beamter und gleichzeitig Sonderbeauftragter der EU in Bosnien. Dieser EU-Verwalter hat die Befugnis, direkt Gesetze zu erlassen und gewählte Regierungs- und Verwaltungsbeamte abzusetzen. Die EU-Politik und die Prioritäten der »europäischen Partnerschaft« werden direkt durch die Direktion für Europäische Integration vorgegeben. Die EU führt obendrein die Polizei (die sie Ende 2002 von den Vereinten Nationen übernommen hat) und das Militär (das sie Ende 2004 von der NATO übernommen hat) und leitet Bosniens Verhandlungen mit der Weltbank. Ein Blick auf die bosnische Nationalflagge – mit den Sternen der EU vor gelb-blauen Hintergrund, also vor den Farben der EU-Flagge – macht deutlich, dass Bosnien EU-orientierter ist als jeder andere derzeitige Mitgliedsstaat.
Dennoch hat sich die EU von jeder Verantwortung für die Macht, die sie über Bosnien ausübt, distanziert. Formal ist Bosnien ein unabhängiger Staat, Mitglied der Vereinten Nationen – und weit davon entfernt, die Kriterien für die EU-Mitgliedschaft zu erfüllen. Nach 15 Jahren des Statebuilding in Bosnien besteht jetzt eine vollkommene Trennung zwischen Macht und Rechenschaftspflicht. Das passt der EU offenkundig gut, die auf diese Weise die Kontrolle über den winzigen Staat ausüben kann, ohne ihn entweder in die EU aufnehmen oder sein politisches Regime im strengen Sinne der externen Konditionalität darstellen zu müssen. Bosnien ist weder ein EU-Mitglied noch scheint es ein koloniales Protektorat zu sein. Bosniens formelle völkerrechtliche Souveränität erweckt den Eindruck einer unabhängigen Entität, die ihre Gäste zum Aufbau staatlicher Kapazitäten freiwillig beherbergt. Der Prozess der Angleichung des innerstaatlichen Rechts an das Konvolut von EU-Verordnungen scheint eine Angelegenheit innerstaatlicher Politik zu sein. Es gibt kein internationales Forum, auf dem die Widersprüche zwischen Bosniens sozialen und ökonomischen Forderungen einerseits und dem externen Druck der politischen Vorgaben Brüssels andererseits vorgebracht werden können.
Jedoch sind dies keine Fragen der innerstaatlichen Politik. Der bosnische Staat hat außerhalb der EU-»Partnerschaft« keinerlei unabhängige und autonome Existenz. Es gibt keine unabhängigen Strukturen, die fähig wären, alternative Politik zu artikulieren. Politiker sind internationalen Institutionen auf Grund der etablierten Mechanismen der Regierungsführung untergeordnet, die den EU-Bürokraten und -Verwaltern das letzte Wort über die Politikgestaltung geben. Der bosnische Staat ist ein künstliches, nicht aber ein fiktionales Konstrukt, und er spielt eine zentrale Rolle bei der Übermittlung der politischen Prioritäten der EU in ihren kniffligsten Details. Der Staat ist hier eine Inversion des souveränen Staates, der zentral für die liberale Moderne ist. Statt kollektiver politischer Ausdruck bosnischer Interessen, Selbstverwaltung und Autonomie zu sein – »westfälische Souveränität« in der Terminologie der »Statebuilder« –, ist der bosnische Staat Ausdruck einer extern gesteuerten Agenda.
Je mehr Bosnien der Gegenstand von externem Statebuilding war, umso weniger hat es die Charakteristika einer traditionell liberalen Staatsform angenommen. Hier ist der Staat ein vermittelndes Bindeglied zwischen dem »Inneren« innerstaatlicher Politik und dem »Äußeren« internationaler Beziehungen, aber statt diese Unterscheidung zu verdeutlichen, hebt es die Unterscheidung komplett auf. Die Auferlegung einer internationalen Good-Governance-Agenda erscheint international als innerstaatliche, innerstaatlich hingegen als externe, internationale Angelegenheit. Wo das traditionell liberale Paradigma der souveränen Autonomie klare Rechenschaftspflichten auswies, verwischt die post-liberale Good-Governance-Agenda diese. In diesem Zusammenhang hat innerstaatliche Politik keinen wirklichen Inhalt mehr, und in dem politischen Prozess steht nur sehr wenig auf dem Spiel. Tatsächlich verschwindet die politische Verantwortung für Politikgestaltung mit der Beseitigung des liberalen rechtsfundierten Rahmens der politischen Legitimität.
Schlussfolgerung
Für externe »Statebuilder« ist die Unterordnung der Politik unter die bürokratischen und administrativen Verfahren von Good Governance eine positive Entwicklung. Sie argumentieren, dass Souveränität und politischer Wettbewerb, den die Souveränität für die Kontrolle der Staatsgewalt mit sich bringt, in funktioneller Hinsicht ein Luxus ist, den Balkan-Staaten sich oft nicht leisten können. Führende Forscher haben argumentiert, dass viele Staaten, die jetzt EU-Beziehungen aushandeln, »geplagte Gesellschaften« sind, heimgesucht von ökonomischen, sozialen und ethnischen Spaltungen, die Wahlen in hochproblematische »winner takes all«-Situationen wenden können. In diesen Staaten ist nach dieser Argumentation bedingungslose souveräne Unabhängigkeit eher ein Fluch als eine Segnung, und Konflikt kann verhindert werden, indem man »externe Beschränkungen« der Autonomie gegen institutionelle Kapazitätsbildung eintauscht.
Post-Übergangs- und Post-Konflikt Staaten wie die des Balkans brauchen dringend ein «statebuilding«-Projekt, das sich in einer gemeinsamen zukunftsorientierten Perspektive mit Gesellschaft auseinandersetzt und die Gesellschaft zusammenschweißen kann. Stattdessen ist das, was sie von den »Statebuilder« der Europäischen Union bekommen, externe Regulierung, die in Wirklichkeit den Aufbau authentischer Staatsinstitutionen verhindert, die sich für gesellschaftliche Interessen engagieren und sie repräsentieren können. Diese geschwächten Staaten sind ein unvermeidbares Produkt der technischen, bürokratischen und administrativen Herangehensweise, die unter dem Paradigma der Good Governance exportiert wurde.
Literatur
Claire Lockhart und Ashraf Ghani (2008): Fixing Failed States. Oxford: Oxford University Press.
David Chandler ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität von Westminster in London. Er ist der Gründer und Herausgeber des Journal of Intervention and Statebuilding und Autor zahlreicher Büchern zu dem Thema, einschließlich »International Statebuilding: The Rise of Post-Liberal Governance« (Routledge 2010), »Empire in Denial: The Politics of Statebuilding« (Pluto, 2006) und »Bosnia: Faking Democracy after Dayton« (Pluto 2000). Übersetzt von Brigitte Wulf und Bentje Woitschach