Gräueltaten in der Ukraine
Ist es Völkermord?
von Jonathan Leader Maynard
Viele Politiker*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen beschuldigen Russland, in der Ukraine einen Völkermord zu begehen. Der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin bestätigte auch, dass er ein Verfahren gegen Russland wegen Völkermordes vorbereitet. Dies ist jedoch eine umstrittene Behauptung – und viele Genozidforscher*innen (den Autor eingeschlossen) und spezialisierte NGOs, die sich mit Völkermord befassen, haben sich mit dieser Formulierung zurückgehalten. Was spricht für welche Sichtweise? Ein Debattenbeitrag.
Das Jahr 2022 wird in die Geschichte eingehen, und zwar nicht nur wegen der Rückkehr des großen Landkrieges auf den europäischen Kontinent mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, sondern auch wegen der schlimmsten Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung in Europa mindestens seit den jugoslawischen Zerfallskriegen 1991-1995. Es gibt immer mehr Beweise dafür (vgl. UNOHCHR Ukraine 2022), dass die russischen Streitkräfte drei besondere Arten rechtswidriger Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ausgeübt haben: a) die wahllose und vorsätzliche Bombardierung ziviler Gebiete (vgl. Amnesty 2022); b) gezielte Tötungen, Vergewaltigungen und Folterungen von Zivilist*innen durch russische Streitkräfte (vgl. HRW 2022a); und c) die tatsächliche Zwangsdeportation von bis zu 1,6 Millionen Ukrainer*innen, viele davon nach Russland (siehe Reuters 2022, HRW 2022b). Es gibt auch Beweise für Verstöße gegen das Kriegsrecht durch ukrainische Truppen, insbesondere für die Misshandlung von russischen Kriegsgefangenen. Das Ausmaß dieser Verstöße scheint jedoch weitaus geringer zu sein, und im Gegensatz zu Russland hat die Ukraine im Allgemeinen mit der Internationalen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen (siehe UNOHCHR 2022a), die Verstöße beider Seiten in dem Konflikt untersucht, sowie mit der UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine zusammengearbeitet (UNOHCHR 2022b). Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat mit Stand vom 21. November 2022 6.595 in dem Konflikt getötete Zivilist*innen bestätigt (UNOHCHR 2022c), betont aber, dass die tatsächliche Zahl viel höher sein wird. Im März 2022 eröffnete der Internationale Strafgerichtshof eine Untersuchung wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in der Ukraine (siehe ICC 2022).
Wie sollten wir diese Gewaltakte der russischen Streitkräfte beschreiben? Regierungen, die Vereinten Nationen, andere internationale Organisationen und Wissenschaftler*innen bezeichnen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zunehmend gemeinsam als »Gräueltaten« (»atrocity crimes«, vgl. UN 2014). Wenn solche Verbrechen besonders umfangreich sind (in der Regel, wenn sie 1.000 oder mehr Opfer innerhalb eines Jahres betreffen), werden sie oft als »Massengräueltaten« (»mass atrocities«) bezeichnet. Anhand der schon vorliegenden Beweise scheint klar, dass die russischen Streitkräfte Gräueltaten in Form von Kriegsverbrechen begangen haben – Verstöße gegen das Kriegsrecht, wie es beispielsweise in den Genfer Konventionen verankert ist. Dies ist in der Regel die am leichtesten nachweisbare Kategorie von Gräueltaten – und die Ukraine behauptet, dass mindestens 34.000 mögliche Kriegsverbrechen von den russischen Streitkräften begangen worden sind (BBC 2022). Es scheint sehr wahrscheinlich, dass die von den russischen Streitkräften verübte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt – was genauer gesagt eine Reihe von Verstößen bezeichnet, die nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 „Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs sind, der sich gegen eine Zivilbevölkerung richtet“ (Art.7 (1) Römisches Statut). Da die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen Verstöße „in allen Regionen, auf die sie sich bisher konzentriert hat“ (UNOHCHR 2022a, S. 7), festgestellt hat, scheint auch dieses Kriterium erfüllt zu sein.
Die Frage des Völkermordes
Viele Politiker*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen sind jedoch noch weiter gegangen. Im März 2022 beschuldigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij die russische Regierung öffentlich, in der Ukraine einen Völkermord begangen zu haben, und der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin bestätigte, dass er ein Verfahren gegen Russland wegen Völkermordes vorbereitet (BBC 2022). Dieser Vorwurf wurde im April 2022 von dem führenden Holocaust-Wissenschaftler Eugene Finkel, der selbst in der Ukraine geboren ist, in prominenter Weise bekräftigt (Finkel 2022). Im August 2022 rief eine der führenden Organisationen zur Verhinderung von Völkermorden, »Genocide Watch«, den Völkermord-Notstand in der Ukraine aus und erklärte, dass die russische Politik, die sie als »Urbizid« bezeichnete – d. h. Gewalt, die auf die Zerstörung ganzer Städte abzielt – einem Völkermord gleichkomme (vgl. Genocide Watch 2022). Genocide Watch ist eine von 21 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die jetzt einen offenen Brief unterzeichnet haben, in dem sie eine Resolution des US-Senats unterstützen, in der das Vorgehen Russlands in der Ukraine als »Genozid« bezeichnet wird (Razom 2022).
Dies ist jedoch eine umstrittene Behauptung – und viele Genozidforscher*innen (mich eingeschlossen) und spezialisierte NGOs, die sich mit Völkermord befassen, haben sich mit dieser Formulierung zurückgehalten. Es geht hierbei nicht um die Frage, wie schlimm die russischen Gräueltaten in der Ukraine sind. Auch wenn Völkermord manchmal als »das Verbrechen der Verbrechen« bezeichnet wird, ist es nicht gleichbedeutend mit wirklich schrecklichen oder groß angelegten Gräueltaten. Kein*e seriöse*r Wissenschaftler*in und keine angesehene Nichtregierungsorganisation bestreitet, dass die russischen Streitkräfte massive und entsetzliche Übergriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung begehen. Solche Gräueltaten sind Gräueltaten, ob sie nun völkermörderisch sind oder nicht. Aber Völkermord hat eine spezifischere rechtliche Bedeutung, die in der Völkermordkonvention von 1948 wie folgt definiert ist:
„Jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) Verursachung eines schweren körperlichen oder geistigen Schadens bei Mitgliedern der Gruppe;
(c) die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die Gruppe ganz oder teilweise physisch zu zerstören;
(d) Auferlegung von Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe;
(e) Zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.
Dies sind komplexe Kriterien, und was als „Absicht zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung“ gilt, ist Gegenstand umfangreicher juristischer und wissenschaftlicher Debatten. Einige, wie der einflussreiche Genozidforscher A. Dirk Moses (2021), schlagen sogar vor, dass das Konzept des Genozids nicht zweckmäßig ist und weitgehend aufgegeben werden sollte.
Wann gelten Gräueltaten als Völkermord?
Bei den Meinungsverschiedenheiten darüber, ob Russland in der Ukraine einen Völkermord begeht, geht es daher nicht in erster Linie um die Art der verfügbaren Beweise, sondern darum, welche Art von Beweisen und welche Schwelle für die sichere Feststellung eines Völkermordes erforderlich sind. Viele Genozidforscher*innen halten es für das Beste, sich im Großen und Ganzen an die in der Völkermordkonvention festgelegte Bedeutung zu halten – da die Konvention dem Völkermord seine wichtigsten rechtlichen Implikationen verleiht, weil die Völkermordkonvention einer konsensualen Erklärung der internationalen Gemeinschaft zum Genozid am nächsten kommt und weil andere konkurrierende Definitionen von Völkermord oft leichter politisiert oder manipuliert werden können.
Völkermord in diesem Sinne beinhaltet zwei Schlüsselelemente: (i) „gruppenselektive Massengewalt“ und (ii) ein Ziel der „Gruppenvernichtung“ (um die Sprache des Politikwissenschaftlers Scott Straus (2015) zu verwenden). Erstens müssen Menschen mit Gewalt angegriffen werden, weil sie Mitglieder bestimmter nationaler, ethnischer, »rassischer« oder religiöser Gruppen sind – und nicht einfach nur wegen ihres Verhaltens, ihrer politischen Überzeugungen, ihres Widerstandes gegen militärische Operationen oder ihres Privatvermögens, das geplündert werden könnte. Zweitens muss die Gewalt als Mittel zur Zerstörung der Gruppe eingesetzt werden – im Gegensatz zum Beispiel zur Terrorisierung der Gruppe, damit sie sich ergibt, oder zur absichtlichen Tötung von Zivilist*innen in dem Bemühen, auch die in der Zivilbevölkerung eingebetteten militärischen Kräfte zu treffen. Viele Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit weisen diese beiden Merkmale nicht auf. Russland beispielsweise scheint eindeutig wahllose Bombardierungen von zivilen Gebieten vorzunehmen. Wenn diese Gewalt jedoch »lediglich« darauf abzielt, die Moral der Zivilbevölkerung zu untergraben und potenzielle Verteidigungsanlagen der Streitkräfte zu zerstören, handelt es sich zwar um ein Kriegsverbrechen, aber nicht um Völkermord.
Diese beiden Elemente des Völkermordes angemessen zu beurteilen, ist eine komplexe Herausforderung. Neben vielen anderen Problemen wird groß angelegte Gewalt oft von mehreren Motiven geleitet, so dass die Täter*innen beispielsweise zum Teil mit nicht völkermörderischen Absichten wie militärischer Vorteilsgewinnung oder Plünderung vorgehen und dennoch bereit sein könnten, eine ganze Zivilbevölkerung absichtlich auszulöschen, um diese Ziele zu erreichen – was einen Völkermord darstellen würde. In der Tat stellen Völkermörder*innen ihre Angriffe auf die Zivilbevölkerung oft als politische und militärische Notwendigkeit dar, weil sie die Zivilbevölkerung als Bedrohung ansehen – wie wahnhaft diese Vorstellung auch sein mag. Beispielsweise haben sowohl die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs als auch die »Hutu Power«-Regierung in Ruanda im Jahr 1994 solche Behauptungen über ihre Opfer aufgestellt.
Außerdem müssen die Täter*innen nicht versuchen, eine Gruppe vollständig auszulöschen, damit etwas als Völkermord gilt. Tatsächlich ist es nur wenigen Völkermörder*innen in der Geschichte gelungen, jedes einzelne Mitglied einer Gruppe auf diese Weise auszulöschen. Entscheidend ist, ob die Täter*innen dennoch versuchen, eine Gruppe physisch zu eliminieren, soweit sie dazu in der Lage sind.
Ein Völkermord in der Ukraine? Erste Einschätzungen
Es ist daher eine recht anspruchsvolle Mischung von Beweisen erforderlich, um zu der sicheren Schlussfolgerung zu gelangen, dass eine bestimmte Reihe von Gräueltaten als »Genozid« in diesem rechtlichen Sinne gelten. Ein wichtiges Element sind Beweise für die allgemeinen Einstellungen, Absichten und Ideologien der Täter*innen – sowohl der politischen und militärischen Befehlshaber*innen als auch der ihnen unterstellten »einfachen Leute«. Es gibt eindeutige Beweise für die Unterstützung einer völkermörderischen Ideologie durch die russische politische Elite. Am offensichtlichsten ist dies belegt durch die weitschweifige und historische Fakten verdrehende Rede, mit der Präsident Putin seine Invasion begann, in der er die Existenz der Ukraine als unabhängiger Nation effektiv leugnete. Am 3. April 2022 veröffentlichte die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti einen Leitartikel, in dem dazu aufgerufen wurde, das ukrainische Volk in großer Zahl zu töten, da es im Grunde genommen alle Nazis seien. „Entnazifizierung“, schrieb der Autor, „ist unweigerlich auch Ent-Ukrainisierung.“ (zit. nach Brown 2022) Das ist klassische Völkermordideologie: Sie entspricht den Rechtfertigungen, die man beim Holocaust, dem Völkermord in Ruanda, dem Völkermord an den Armeniern und in allen anderen maßgeblichen Fällen findet.
Eine solche völkermörderische Rhetorik allein reicht jedoch nicht aus, um daraus schließen zu können, dass die Gräueltaten »vor Ort« tatsächlich völkermörderischer Natur sind. Die Rhetorik der Regierung könnte vor allem dazu dienen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren oder Verwirrung über den Konflikt zu stiften, während die Gewalt »vor Ort« von ganz anderen Beweggründen geprägt ist. Wir müssen daher auch das tatsächliche Muster der Gewalt untersuchen, die ausgeübt wird. Im Fall der Ukraine müssen wir untersuchen, ob die russischen Streitkräfte offenbar versuchen, die Ukrainer physisch zu vernichten, soweit dies für sie möglich ist, oder ob sie Zivilist*innen zu anderen, nicht völkermörderischen Zwecken ins Visier nehmen, etwa um die Bevölkerung durch Terror zur Kapitulation zu bewegen.
Das ist natürlich schwierig. Da der Konflikt in der Ukraine noch nicht beendet ist, gibt es kaum zuverlässige Daten über russische Gräueltaten. Die meisten Gewalttaten sehen jedoch eher nach terroristischen Bombardements, wahllosen Angriffen auf die zivile Infrastruktur und Angriffen aus, bei denen Zivilist*innen getötet werden, um auch ukrainische Streitkräfte zu töten oder um Städte als Rückzugsorte für ukrainische Militäroperationen unbenutzbar zu machen, als nach völkermörderischen Bemühungen, die Ukrainer*innen als nationale Gruppe physisch auszulöschen. Gegenwärtig gibt es nur wenige, wenn überhaupt bestätigte Fälle, in denen russische Streitkräfte ganze Städte oder Dörfer auslöschen oder auf andere Weise alle Ukrainer*innen in einem bestimmten Gebiet unter russischer Besatzung töten – die Art von Gewalt, die wir bei einem Völkermord erwarten würden.
Hier sind jedoch zwei wichtige Vorbehalte anzubringen. Erstens könnten weitere Beweise auftauchen, die diese Einschätzung verändern würden. Es gibt bereits bruchstückhafte Beweise für Handlungen wie z. B. die systematische Trennung ukrainischer Kinder von ihren Familien und ihre Deportation nach Russland, was als Völkermord im Sinne der Konvention von 1948 eingestuft werden könnte. Teilweise wurde berichtet, dass die russische Seite Zivilist*innen nur deshalb ins Visier nahm, weil sie ukrainisch sprachen – auch dies könnte als Völkermord gelten. Je mehr wir erfahren, desto klarer könnte es werden, dass tatsächlich ein Völkermord vorliegt. Es ist auch möglich, dass einzelne Akte des Völkermords im Rahmen breiter angelegter Muster von Gewalt gegen Zivilist*innen stattfinden, die nicht rein völkermörderisch sind.
Zweitens hängt diese Einschätzung von einer recht engen rechtlichen Definition von Völkermord ab, wie sie in der Völkermordkonvention von 1948 zum Ausdruck kommt. Einige Kommentator*innen bezeichnen das russische Vorgehen in der Ukraine im weiteren Sinne als Völkermord: nicht, weil die Gewalt darauf abzielt, das ukrainische Volk physisch zu vernichten, sondern weil Russlands weiter gefasste Ziele im Krieg darin bestehen, die Existenz der Ukraine als unabhängige Nation effektiv zu leugnen und Symbole und Institutionen der ukrainischen Nationalität zu zerstören. Diese Art von »kulturellem Völkermord« (Novic 2016) wird jedoch im Allgemeinen als nicht unter die Völkermordkonvention fallend betrachtet und ist nicht dasselbe wie der Versuch, eine Gruppe physisch zu vernichten, wie dies beim Holocaust, dem Völkermord an den Armeniern, dem Völkermord in Ruanda oder ähnlichen berühmten Genoziden der Fall war. Wenn Begriffe wie »Urbizid« – die Zerstörung von Städten – einen Völkermord darstellen, dann müssten wir zu dem Schluss kommen, dass die britischen und amerikanischen Luftangriffe auf Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg, die ausdrücklich auf die Zerstörung ganzer Stadtgebiete abzielten, einen Völkermord darstellten. Nur wenige akzeptieren dieses Verdikt.
Auch hier geht es keineswegs darum, die Schwere der russischen Gräueltaten herunterzuspielen. Gewalt muss nicht völkermörderisch sein, um abscheulich zu sein – und die internationale Gemeinschaft hat sich seit 2005 zu ihrer Verantwortung bekannt, Gräueltaten zu verhindern, auf sie zu reagieren und wiederaufzubauen, unabhängig davon, ob sie völkermörderisch sind oder nicht. Als Wissenschaftler, der sich mit Genozid und Massenverbrechen befasst, ist eine meiner größten Befürchtungen, dass die Menschen Völkermord als eine Art Schwelle betrachten, unterhalb derer Gewalt effektiv ignoriert werden kann. Es gibt einfach keinen Grund, warum uns die völkermörderische Ermordung von 8.000 Bosniaken durch serbische Streitkräfte in Srebrenica im Juli 1995 mehr beunruhigen sollte als die nicht völkermörderische Ermordung von einer halben Million angeblicher »Kommunist*innen« in Indonesien in den Jahren 1965-66 oder die Ermordung von über 1,5 Millionen Nordkoreaner*innen durch die staatlich verursachte Hungersnot in den 1990er Jahren.
Politiker*innen und Nichtregierungsorganisationen sollten daher innehalten, bevor sie vorschnell die Sprache des Völkermords als Mittel zur Anprangerung Russlands verwenden, wenn die wichtigsten Beweise für die tatsächlichen Absichten hinter der Gewalt vor Ort unklar bleiben. Eine solche Sprache ist nicht notwendig und verstärkt die fragwürdige Botschaft, dass nur Völkermorde und nicht die breite Palette anderer Gräueltaten wirklich von Bedeutung sind. Sie kann auch das Verständnis für den tatsächlichen Charakter der Gräueltaten verzerren und könnte die spätere Strafverfolgung erschweren. Wir täten besser daran, den Konsens darüber zu stärken, dass Gräueltaten, unabhängig von ihrer besonderen Form, eine dringende humanitäre Krise darstellen, die internationale Aufmerksamkeit und Maßnahmen erfordert.
Literatur:
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BBC (2022a): Ukraine conflict: What war crimes is Russia accused of? 14.11.2022.
Brown, Ch. (2022): A Kremlin paper justifies erasing the Ukrainian identity, as Russia is accused of war crimes. CBC News, 5.4.2022.
Finkel, E. (2022): What’s happening in Ukraine is genocide. Period. Meinungsbeitrag, Washington Post, 5.4.2022.
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Moses, D. A. (2021): The Problems of Genocide. Permanent Security and the Language of Transgression. Cambridge: Cambridge University Press.
Novic, E. (2016): The Concept of Cultural Genocide: An International Law Perspective. Oxford: OUP.
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Straus, S. (2015): Making and unmaking nations. War, leadership, and genocide in modern Africa. Ithaca, NY: Cornell University Press.
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Jonathan Leader Maynard (Twitter: @jleadermaynard) ist Dozent für internationale Politik am King‘s College London, wo er sich mit Völkermord, Gräueltaten und der ideologischen Dynamik politischer Gewalt beschäftigt. Sein erstes Buch »Ideology and Mass Killing: The Radicalized Security Politics of Genocides and Deadly Atrocities« erschien im Juni 2022 bei Oxford University Press.