W&F 2018/2

Große Zurückhaltung

Atomwaffenverbot kaum im Fokus humanitärer Hilfsorganisationen

von Rainer Lucht

Die internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) haben zusammen mit 122 Staaten erreicht, dass das generelle Verbot von Atomwaffen als humanitäres Völkerrecht auf die Tagesordnung kam. Am Beispiel Deutschlands wird untersucht, ob und wie humanitäre Hilfsorganisationen sich für dieses Anliegen engagiert haben bzw. engagieren wollen. Das Ergebnis ist ernüchternd und lässt Schlüsse auf ein Selbstverständnis zu, das bewirkt, dass sich die meisten Hilfsorganisationen bei einem existenziellen humanitären Anliegen wie dem Atomwaffenverbot zurückhalten.

Am 7.7.2017 beschlossen 122 Staaten nach mehrwöchigen Verhandlungen am Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York ein Vertragswerk über das generelle Verbot von Atomwaffen.1 Es war eine Reaktion der Nicht-Atomwaffenstaaten, in ihrer übergroßen Mehrheit Staaten aus dem Globalen Süden. Sie hatten die bittere Erfahrung gemacht, dass der nukleare Nichtverbreitungsvertrag weder zur versprochenen Abrüstung durch die etablierten Atomwaffenstaaten geführt noch verhindert hatte, dass andere Staaten sich Zugang zu Atomwaffen verschaffen konnten. Der Verbotsvertrag kam nur gegen heftigen Widerstand der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten, darunter auch Deutschland, zustande. Grund: Ein generelles Verbot übt Druck aus, gefährdet ihre atomare Vormacht, delegitimiert ihre Politik der nuklearen Abschreckung und fordert effektive Schritte zur Abschaffung ihrer Atomwaffen.

Der Erfolg der Vertragskonferenz ist u.a. der weltweiten Kampagne von ICAN2 und der langjährigen Lobbyarbeit des IKRK und seines internationalen Verbunds3 zu verdanken. Nun geht es den Unterstützer*innen um die Umsetzung, d.h. möglichst viele Staaten, darunter auch Deutschland, zur Unterzeichnung und Ratifizierung des Vertrags zu bewegen.4

Die Verbotsinitiative schaffte es unter Verweis auf die katastrophalen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes, die alle Maßstäbe der humanitären Hilfe sprengen würden, eine breite Unterstützung der UN-Mitgliedstaaten zu erreichen. Der Vertrag orientiert sich an den bestehenden internationalen Verboten von chemischen und biologischen Waffen, Anti-Personenminen und Streumunition und ergänzt das humanitäre Völkerrecht zur Ächtung aller Massenvernichtungswaffen.

Da sich zahlreiche humanitäre Hilfsorganisationen in diesen anderen Verbotsinitiativen aktiv engagiert hatten, sollte man annehmen, dass auch das Verbot von Atomwaffen ein wichtiges humanitäres Anliegen für sie ist. Das norwegische Nobelkomitee, das zuvor bereits die Kampagne zum Verbot von Landminen (1997) und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (2013) gewürdigt hatte, zeichnete ICAN im Dezember 2017 „für ihre Arbeit, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen jeglichen Einsatzes von Atomwaffen zu lenken und für ihre bahnbrechenden Bemühungen um ein vertragliches Verbot solcher Waffen“5 mit dem Friedensnobelpreis aus.

Atomwaffenverbot – eine widersprüchliche Wirklichkeit in Deutschland

Nach repräsentativen Umfragen befürwortete 2016 und 2017 eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus einer humanitären Einstellung heraus und über alle Parteiorientierungen hinweg den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland (85 %) und ein völkerrechtliche Verbot von Atomwaffen (93 %)6 sowie die Beteiligung Deutschlands an den Verhandlungen über ein generelles Atomwaffenverbot (75 %).7

Im Gegensatz dazu boykottierte die Bundesregierung – trotz ihres offiziellen Bekenntnisses zu vollständiger atomarer Abrüstung – die Verbotsverhandlungen und schloss sich der Position der Atomwaffenstaaten an, die mit der Notwendigkeit atomarer Abschreckung argumentieren. Erleichtert wurde ihr diese Politik durch die geringe öffentliche Debatte zu dem Thema – auch in den großen deutschen Medien; lediglich im Kontext der Verleihung des Nobelpreises kam es kurz zu einer (vorrangig kritischen) Berichterstattung.8

Dazu trug auch das schwache Engagement der Zivilgesellschaft bei. Bis Juli 2017 hatte ICAN in Deutschland trotz intensiver Werbung neben der Unterstützung der Graswurzel-Kampagne »atomwaffenfrei.jetzt« nur drei deutsche Partnerorganisationen: die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, das Netzwerk Pazifik und das Forum Friedensethik, eine kleine Organisation der Evangelischen Landeskirche in Baden. Mit dem Vertragsabschluss und dem Nobelpreis sind die Unterstützung und der Druck auf die Bundesregierung gewachsen, sich mit dem Verbotsvertrag auseinanderzusetzen.9

Das Engagement der deutschen humanitären Hilfsorganisationen

Im Detail untersuchte der Autor das Engagement bzw. die Haltung der humanitären Hilfsorganisationen, einem wichtigen Teil der Zivilgesellschaft, zu diesem Thema. Dazu wurden von November 2017 bis Januar 2018 die Leitungen von 15 wichtigen deutschen Hilfsorganisationen und von VENRO, dem Verband für Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe, dem die Mehrheit der angeschriebenen Organisationen angehört, wie folgt befragt:

  • „Hat Ihre Organisation die Debatte um den Vertrag aktiv verfolgt? Wenn ja, hat sie sich in der Debatte öffentlich engagiert und positioniert? In welcher Weise?“
  • „Beabsichtigt Ihre Organisation, nach der Verabschiedung des Vertrags sich für eine aktive Umsetzung und Unterstützung einzusetzen, in der humanitären Community, in der Öffentlichkeit, gegenüber der Bundesregierung? In welcher Weise?“

Die Befragung ergab folgende Ergebnisse, die in Tabelle 1 kurz zusammengefasst sind:

  • 13 Organisationen (inkl. VENRO) engagierten sich weder für das Zustandekommen des Atomwaffenverbots noch haben sie vor, sich für die Umsetzung des Verbots zu engagieren. Hierbei sind diejenigen mitgerechnet, die nicht oder nur unverbindlich antworteten, wenn bei ihnen keine öffentlichen Verlautbarungen zum Thema gefunden wurden.
  • Zwei Organisationen engagierten sich begrenzt und haben dies auch bei der Umsetzung vor, etwa durch Unterstützung einiger öffentlicher und Lobbyaktivitäten von ICAN. Im Unterschied zu ihrem Engagement für das Verbot von Landminen oder die Kontrolle des Kleinwaffenhandels hat das Atomwaffenverbot für sie keine vorrangige Priorität.
  • Eine Organisation hat die Verbotsinitiative des IKRK sowie die Resolutionen und Anstrengungen des IKRK und IFRC unterstützt und will im nicht-öffentlichen Dialog die Bundesregierung dafür gewinnen, dem Verbotsvertrag beizutreten.

Ergänzend wurden im Januar 2018 einige Journalisten, die sich in ihrer Berichterstattung auch mit humanitärer Hilfe und humanitärem Engagement beschäftigen, befragt, um ihre persönliche Sicht zu erfahren. Die Fragestellung lautete: „Sollen sich nach Ihrem Selbstverständnis humanitäre Hilfsorganisationen – ergänzend zu ihren Hilfsaktivitäten – zu solch einem Thema positionieren und engagieren oder Zurückhaltung üben und dieses Feld anderen Akteuren überlassen?“

Ihre Antworten sind eindeutig: Sie befürworten Positionierung und Engagement.

  • Marion Dilg: „Humanitäre Hilfsorganisationen sind in ihrer Ausrichtung vorwärtsgewandt, zukunftsorientiert – die Veränderung gegenwärtiger Bedingungen soll eine bessere Zukunft ermöglichen […] Es bedarf auch mehr denn je nichtstaatlicher Akteure, wie der humanitären Hilfsorganisationen, die Interessen im Sinne der Menschenrechte und des Völkerrechts vertreten, wozu auch die Ächtung von Atomwaffen zählt.“
  • Arnd Henze: „Humanitäre Hilfsorganisationen sollten sich zum Thema Nichtverbreitung und Atomwaffenverbot unbedingt positionieren – und dabei genau mit ihrer humanitären Kernkompetenz argumentieren: Es ist das Wesen von Massenvernichtungswaffen, eine humanitäre Katastrophe zu versuchen, die alle Maßstäbe des humanitären Völkerrechts sprengt und damit auch die humanitäre Hilfe unmöglich macht.“
  • Andreas Zumach: „Ja, sie sollen sich positionieren und engagieren – so wie es das IKRK auch bereits für das Verbot von Streumunition gemacht hat.“

Analyse und
kritische Bewertung

Bezogen auf die Ausgangsthese, dass das Atomwaffenverbot ein wichtiges Anliegen für die humanitären Hilfsorganisationen sein sollte, ist das Ergebnis der Befragung mit wenigen Ausnahmen ernüchternd. Etliches erklärt sich aus den Antworten und ihren Begründungen:

  • In den meisten Rückmeldungen wird das Atomwaffenverbot als wichtiges Anliegen bezeichnet und seine Verabschiedung begrüßt,
  • dennoch habe ihre praktische humanitäre Hilfe in den zunehmenden Krisen und Katastrophen in Umfang wie Qualität erste Priorität und Existenzberechtigung.
  • Sie hätten keine oder nur beschränkte Kapazitäten und Ressourcen für humanitär-politische Anliegen,
  • deshalb würden die Priorität auf solche humanitär-politischen Anliegen gelegt, die direkt mit den Bedrohungen, Problemen und Hilfeleistungen für Menschen in humanitärer Not zusammenhingen und ihre Präsenz, Kompetenz und Profil als Organisation stärkten.

Welche tieferen Gründe können sich dahinter verbergen? Drei Motive sind möglich:

  • Ein Grund kann sein, dass die Organisationen so in ihrer Handlungswelt der akuten humanitären Krisen und Katastrophen absorbiert und gefangen sind, dass ihnen die humanitäre Bedrohung durch Atomwaffen fern liegt und nicht als konkrete Gefahr erscheint. Daraus ergibt sich kaum Handlungsdruck, und das Anliegen kann anderen Akteuren überlassen oder in die Zukunft verschoben werden.
  • Ein anderer Grund kann sein, dass Organisationen sich auf ihr »Geschäftsmodell« konzentrieren, möglichst viel öffentliche Finanzierung und private Spenden einzuwerben und effizient für humanitäre Hilfsaktivitäten einzusetzen. Dann erscheint es wenig lohnenswert, Ressourcen und Anstrengungen für andere humanitär-politische Anliegen einzusetzen, oder es wäre gar kontraproduktiv, wenn diese politisch konfliktiv sind und das Verhältnis zu staatlichen Gebern beeinträchtigen könnten.
  • Ein dritter Grund kann sein, dass humanitäre Organisationen sich als eine besondere Welt sehen, die sich mit ihrem humanitären Mandat von Menschlichkeit, Unparteilichkeit und Neutralität von der politischen Interessenwelt abheben will. Das macht potentielle Gemeinsamkeiten und übergreifende Zusammenarbeit mit anderen »politischen Akteuren«, etwa der Friedensbewegung, schwierig und führt zur Selbstbeschränkung, nämlich sich nicht »politisch« zu engagieren.

Zusammen bewirken diese Gründe offenbar, dass sich die meisten humanitären Hilfsorganisationen bei einem politisch-humanitären Anliegen wie dem Atomwaffenverbot, das existenzieller kaum sein könnte, zurückhalten – und das in einer Zeit, in der Großmächte wie die USA und Russland wie in Zeiten des Kalten Krieges massiv atomar aufrüsten und das atomare Kräftespiel zwischen den USA und Nordkorea die realen Gefahren vor Augen führt, und in einer Welt, in der es die atomaren »Habenichtse« des Südens sind, die den Mut aufbringen, gemeinsam dagegen aufzustehen.

1. Keine Antwort

Caritas international, Ärzte der Welt, World Vision Deutschland

2. Engagement für UN-Verbotsvertrag

a) Kein Engagement

Ärzte ohne Grenzen, Care Deutschland-Luxemburg, Deutsche Welthungerhilfe, Diakonie Katastrophenhilfe, HELP, Kindernothilfe, Islamic Relief Deutschland, Johanniter-Auslandshilfe, Malteser International, VENRO

b) Begrenztes Engagement/Unterstützung der ICAN-Kampagne

medico international, Oxfam Deutschland

c) Aktives Mitglied bei ICAN

d) Unterstützung der IKRK-Verbotsinitiative

Deutsches Rotes Kreuz

3. Aktives Engagement für Umsetzung des UN-Verbots

a) Kein Engagement

Ärzte ohne Grenzen, Care Deutschland-Luxemburg, Deutsche Welthungerhilfe, Diakonie Katastrophenhilfe, HELP, Kindernothilfe, Johanniter-Auslandshilfe, Malteser International, VENRO,

b) Unverbindliche Antwort

Islamic Relief Deutschland

c) Begrenztes Engagement/Unterstützung der ICAN-Kampagne zur Umsetzung

medico international, Oxfam Deutschland

d) Aktives Mitglied bei ICAN

e) Unterstützung der IKRK-Anstrengungen zur Umsetzung

Deutsches Rotes Kreuz

Tabelle 1: Positionen der befragten deutschen Hilfsorganisationen zu Aktivitäten für das Verbot von Atomwaffen

Anmerkungen

1) Zum Vertrag und seiner Geschichte siehe folgende W&F-Artikel:
Ständige Vertretung der NATO: Atomwaffenverbot – bloß nicht!? Realpolitik im Wortlaut der NATO (nicht autorisierte Übersetzung). W&F 1-2017, S. 53-54.
Jürgen Scheffran: Atomwaffenverbot – Chance für die nukleare Abrüstung. W&F 3-2017, S. 47-50.
Jürgen Nieth: Nobelpreis gegen Doppelmoral (Presseschau). W&F 4-2018, S. 4.
Sascha Hach: Wohin nach dem Friedensnobelpreis? W&F 4-2018, S. 5.
Bernd Hahnfeld: Völkerrecht versus Atomwaffen. W&F 1-2018, S. 47-49.
Yannick Laßhof: Transit und Verbot – Stärkung der nuklearwaffenfreien Zonen. W&F 2-2018, S. 51.

2) ICAN ist ein internationales Bündnis von über 400 Ärzteorganisationen, säkularen und kirchlichen Friedensorganisationen, Initiativen für Abrüstung und Waffenverbote, Menschrechts- und Umweltorganisationen, die sich für das Atomwaffenverbot einsetzen. Keine namhafte humanitäre Hilfsorganisation ist Partner von ICAN.

3) Das IKRK setzt sich seit etlichen Jahren bei den Vereinten Nationen für ein allgemeines Atomwaffenverbot ein. Es wird dabei von der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) und zahlreichen nationalen Gesellschaften unterstützt. Siehe z.B.: Council of Delegates of the International Red Cross and Red Crescent Movement (2017): Working towards the elimination of nuclear weapons – 2018-2021 action plan. Resolution, 11.11.2017.
Die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften der Atomwaffenstaaten haben die entsprechenden Resolutionen und Aktionspläne nicht mitgetragen.

4) Der Vertrag tritt in Kraft, wenn mindestens 50 Staaten ihn unterzeichnet und ratifiziert haben. Bis zum 8.5.2018 haben 58 Staaten den Vertrag unterzeichnet und neun ratifiziert.

5) Presseerklärung des Nobelpreiskomitees vom 6.10.2017, hier in der Übersetzung von ZEIT ONLINE vom selben Tag.

6) Forsa-Umfrage »Meinungen zu Atomwaffen« vom 17. und 18.3.2016; ippnw.de.

7) Umfrage der YouGov Deutschland GmbH vom 29.5. und 31.5.2017. In der Umfrage Deutschland sprachen sich nur 12 % gegen eine Beteiligung an den Verhandlungen aus; icanw.de.

8) Siehe z.B. FAZ-Kommentar »Utopisch« vom 7.10.2017.

9) Siehe z.B. Aufruf in der FAZ vom 5.8.2017 »An die Bundesregierung: Treten Sie dem Vertrag zum Verbot von Atomwaffen bei!«. In der Sitzung des Bundestags vom 23.2.2017 forderten Die Linke, die Grünen und die AfD die Bundesregierung zur Unterzeichnung des Vertrags auf.

Dr. Rainer Lucht ist seit 2013 freier Berater in Policy- und Grundsatzfragen der humanitären Hilfe. Zuvor war er lange Jahre Referent für Grundsatzfragen bei der Diakonie Katastrophenhilfe und Länderreferent bei Caritas international.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/2 Wissenschaft im Dienste des Militärs?, Seite 48–50