W&F 2015/3

»Gütekraft« transportiert Gandhis Impulse besser

Antwort auf Thomas Nauerth in W&F 2-2015

von Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp

Die Impulse von Gandhi und die Erfolge des gewaltfreien Vorgehens sind nach wie vor von großer Bedeutung. Friedensforschung und -bewegung, Politik und Öffentlichkeit können diesen Erfahrungsschatz, auch den der deutschen Revolution 1989 (vgl. Arnold 2014), noch viel wirksamer als bisher nutzen. Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp sahen eine unzureichende Vermittlung des Begriffes als mitverantwortlich für die mangelnde Rezeption und führten daher 1993 ein neues Schlüsselwort ein: »Gütekraft«. Thomas Nauerth begründete in W&F 2-2015 (S.48-50), warum es „zwingend […] bei der alten Terminologie zu belassen“ sei: bei »Gewaltfreiheit« und »Gewaltlosigkeit«. Die Autoren antworten hier, warum sie »Gütekraft« für einen geeigneteren Begriff halten.

Wenn Thomas Nauerth – bei aller Kritik an Gütekraft – am Ende meint, »Kraft« und »Güte« helfen zu erläutern, „wie gewaltfreies Handeln geht, wieso es wirken kann“, dann sind wir uns im Wesentlichen einig. Denn auch wir meinen: „Die […] Geschichten von King, Gandhi, Goss-Mayr und vielen anderen müssen tradiert, erinnert und immer wieder erzählt werden.“

Das damit verbundene Problem erwähnt Nauerth – Wolfgang Hertle zitierend – selbst: dass bei »nonviolence« immer „die Abwesenheit von etwas Starkem [Gewalt], also Schwäche“ mitschwingt. Wer, so darf man fragen, interessiert sich für Geschichten, die mit Schwäche assoziiert werden? Das Erzählen genügt oft eben nicht, damit „das Wort »Nonviolence« […] kraftvoll konnotiert“ ist. Um diese Vorgehensweise für sich zu erwägen, brauchen viele auch eine Vorstellung davon, wie sie wirkt.

Wir möchten Missverständnisse darüber ausräumen.

1. Missverständnis: „[…] dass man gütig sein muss, um gewaltfrei handeln zu können“

Wir sprechen nicht von Gütekräftig-Sein als Eigenschaft bestimmter Menschen im Unterschied zu anderen. Denn Gütekraft-Potenz steckt in allen. Diese Annahme macht gewaltfreies Vorgehen stark. Sie ist deshalb von zentraler Bedeutung. Dies begründet die Benennung. Damit sind weitere Fragen fast schon beantwortet: „Und wie erklärt sich der Erfolg gewaltfreier Aufstände […] von Menschen, die weder etwas von gewaltfreier Aktion noch gar von […] Gütekraft gehört haben[…]?“ Weil die Gütekraft-Potenz, die Neigung, anderen mit Wohlwollen und Gerechtigkeit zu begegnen, uns Menschen wie die Sprechfähigkeit in die Wiege gelegt ist, wirkt entsprechendes Handeln ansteckend.

Und: „[…] man müsse eine besondere Form der »Heiligkeit« haben“. Die Unterscheidung von Eigenschaften des Handelns und Eigenschaften der handelnden Person ist nicht nur in der Tradition Gandhis, sondern auch in der christlichen grundlegend. „Der Eindruck, es käme auf individuelle Güte an, um gütekräftig handeln zu können“, ist also falsch.

Als Theologe stellt Nauerth fest: „Gottes gute Kraft wirkt durch uns […] Die Kraft ist nicht in uns, nicht wir sind gütekräftig“. In der Tat, gütekräftig sind nicht wir als Personen, sondern unsere Haltung und Handlungen können gütekräftig sein. Dass die Kraft dazu auch in uns ist, schreibt Papst Franziskus in »Laudato si’«: „Heiliger Geist, […] du lebst auch in unseren Herzen, um uns zum Guten anzutreiben.“ (Papst Franziskus 2015, S.217) Quäker nennen diese Kraft das Göttliche in jedem Menschen. Die UN-Menschenrechtscharta umschreibt sie mit »Vernunft und Gewissen«. Sie ist etwas Allgemein-Menschliches. Der Begriff »Gütekraft« würdigt dies: Er ist weltanschaulich offen.

2. Missverständnis: „Gewaltlos zu sein scheint auszureichen“

Wer kann behaupten, gewaltlos zu sein? Gandhi meinte, das kann niemand vor dem Tod erreichen. Gibt es also mehr oder weniger gewaltlos? Welches Maß „scheint auszureichen“?

Befremdlich wirkt Nauerths Verdacht der „Infizierung mit […] herrschaftsförmige[m] Denken […] Effektivität, Stärke und Schnelligkeit sind Erfolgskriterien der kapitalistischen Spätmoderne“. Gütekräftiges Handeln steht zumeist im Gegensatz zu Herrschaft. Menschen effektiv, stark und schnell zu retten, oder wenn Menschen ihre miserablen Lebensverhältnisse effektiv, stark und schnell verbessern – das muss nicht „herrschaftsförmige[m] Denken“ entspringen.

„Gewaltfreies Handeln ist immer auch ein Unterlassen […], Nicht-Unterstützung von Unrecht und Gewalt.“ Ja, Nichtzusammenarbeit ist ein Grundelement des gütekräftigen Vorgehens. Nur dem »immer« stimmen wir nicht zu: Das »konstruktive Programm« war für Gandhi auch allein »satyagraha«-Handeln. Birgit Berg drückte es auf einem Plakat so aus: „Die überzeugendste Form des Nein zum Unzumutbaren ist das Ja zu den reiferen Möglichkeiten.“

3. Missverständnis: „Aufgabe der Wörter »Gewaltfreiheit« bzw. »Gewaltlosigkeit«“

Wir plädieren nicht dafür, diese Begriffe aufzugeben, sondern sie in ihrem allgemeinverständlichen Wortsinn zu gebrauchen: »keinen Schaden zufügen«.

Gemeinsam weiterarbeiten

Nauerth fragt, „[…] welches Wort alle Aspekte einer bestimmten Praxis umfasst“. Diesen Anspruch kann wohl kein Wort erfüllen, denn, wie er selbst feststellt, „der Kontext [ist] entscheidend“.

Gandhi fand für die Aktivitäten, die ihn und sein Konzept bekannt machten, kein geeignetes Wort vor. Er formte 1908 das Wort »satyagraha« für „die Kraft, die aus Wahrheit und Liebe geboren wird“ (Gandhi 1999 Vol. 34, S.93 [Übers. M.A.]; vgl. Arnold 2011b). Leider übersetzte er es nicht ins Englische, sondern gab »satyagraha« mit der Übersetzung eines anderen indischen Wortes wieder: ahimsa, Nicht-Gewalt, non-violence. In Indien benennt dieser Begriff im Unterschied zu unserem westlichen Verständnis eine hoch geachtete Tradition innerer Stärke.

Als Insider schreibt Nauerth: „Das Wort »Gewaltfreiheit« […] ruft beeindruckende Namen und große Geschichten in Erinnerung. Mohandas Gandhi, Martin Luther King, Hildegard Goss-Mayr, die Menschen in Südafrika und viele, sehr viele andere kämpften unter der Flagge »Nonviolence«.“ Worte ermöglichen Verständigung, wenn Sprecher und Hörer ungefähr dasselbe damit assoziieren. Protagonist_innen der »nonviolence« erkannten den Mangel dieses Wortes längst (Arnold und Egel-Völp 2011). Martin Luther King benutzte es auch, aber sein Hauptwerk heißt »Strength to Love«. Auch Journalisten vermeiden in Titeln die Begriffe »Gewaltlosigkeit« oder »Gewaltfreiheit«, betonen dagegen den Kraft-Aspekt: „Die Macht des Widerstands – Salzmarsch und Sit-ins“ (ZDF 2014), „Die Macht der Mutigen“ (DER SPIEGEL 1995).

In vielen Bezeichnungen ist es ähnlich: Gütigkeit – die zweckmäßigste und intensivste Kraft (Albert Schweitzer), Kraft der Gerechtigkeit (Lanza del Vasto), Würde anbieten (Philippinen), Liebe, Nächstenliebe, Feindesliebe, Geduld, Kraft des Heiligen Geistes (Neues Testament), Kraft der Gewaltlosigkeit (Hildegard Goss-Mayr), force tranquille (Frankreich), Jesus-Strategie, Dritte Macht (Egon Spiegel), integrative Konfliktbearbeitung (Jeffrey Z. Rubin/Dean G. Pruitt/Sung Hee Kim), konstruktive Konfliktaustragung (Rainer Steinweg), firmeza permanente (Lateinamerika), Macht des Gewissens (Siegfried Fischer-Fabian), People Power (Philippinen), Liebeskraft (Horst Eberhard Richter), Macht der Armen (Gustavo Gutiérrez), Der Dritte Weg (Walter Wink), Unverletzende Selbstbehauptung (Eva Marsal), Biophilie (Erich Fromm), Kraft der Empathie (Marshall Rosenberg). Viele Ansätze enthalten die Annahme der Gütekraft-Potenz.

Brauchen wir das Wort »Gütekraft«?

Wir brauchen das Wort »Gütekraft« nicht unbedingt. Was wäre, wenn Gandhi auch im Englischen »satyagraha« gesagt hätte? Ebert, Sternstein, Hertle und viele andere mussten auch »Gewaltfreiheit« wortreich erklären. Das ist bei »Gütekraft« nicht anders.

Was wäre, wenn Kings Ausdruck »strength to love« übersetzt worden wäre? Die Größe des Wortes »Liebe« hielt uns (wie auch Gandhi seinerzeit) davon ab. Was wäre, wenn Hildegard Goss-Mayrs Mitbringsel von den Philippinen »Würde anbieten« sich verbreitet hätte? So war es nicht. Und so ist es auch mit dem Wort »Gütekraft« bisher nicht.

Die Arbeitsgruppe Gütekraft (guetekraft.net) hat 1999 ihre Diskussion pragmatisch beendet, indem sie »Gütekraft« als Arbeitsbegriff annahm, „bis ein besserer gefunden wird“. So bieten wir »Gütekraft« im Sinne von Nauerths Schlusssatz weiter an. Und wenn der Begriff nur dazu dient, die Wirkkraft aktiver Gewaltfreiheit deutlicher zu machen und Menschen dafür zu interessieren, dann hat er zu etwas gedient.

Wir brauchen mehr Gütekraft-Forschung und -Praxis!

Begriffe geben Hinweise auf Inhalte. Hildegard Goss-Mayr schreibt: „Ich sehe sehr deutlich die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erforschung und Annäherung an den Begriff der Gütekraft. Die Humanwissenschaften haben schon sehr wichtige Elemente der Gütekraft ans Licht gebracht.“ (Goss-Mayr 2002, S.16) Die Gütekraft-Forschung beschreibt die drei Hauptwirkungselemente »Eigentätigkeit, Ansteckung und massenhafte Nichtzusammenarbeit«. Sie zeigt sechs Entfaltungsstufen auf bis hin zur dritten Eskalationsstufe »Massenhaftes Aufkündigen der Unterstützung des Missstand-Systems, Alternativen aufbauen«. Sie stellt das Erklärungsmuster »Reframing« dar sowie die »Umorientierung«, die die Fähigkeit fördert, gütekräftig zu handeln (Arnold 2011a). Die Traditionen um Gandhis Impulse so unter dem Aspekt der Wirkungsweise zu betrachten, „[bietet für] alle, die sich […] mit Wegen zur Überwindung von Gewalt auseinandergesetzt haben, […]eine entscheidende Weitung und Korrektur des Blicks“, meint Konrad Raiser, ehemaliger Generalsekretär des Weltkirchenrats (Ökumenische Rundschau 4/2012, S.512).

Mut zeigen, wohlwollend Kontakt aufnehmen, Schläge hinzunehmen bereit sein, nicht zurückschlagen, nicht zurückweichen, auf Gerechtigkeit bestehen: Aus diesen Elementen besteht, ganz kurz gefasst, Gandhis wirksame Streitkunst in der Praxis (Arnold 2015).

Literatur

Martin Arnold (2014): Die Friedliche Revolution 1989: Wie Friedensgebete ihr das Tor öffneten – dargestellt am Beispiel von Leipzig. Fakten – Wirkung der Gütekraft – Bedeutung. Aachener Friedensmagazin aixpax.de, Dezember.

Martin Arnold (2015): Wirksam durch Gütekraft. Online auf martin-arnold.eu.

Martin Arnold (2011a): Gütekraft. Ein Wirkungsmodell aktiver Gewaltfreiheit nach Hildegard Goss-Mayr, Mohandas K. Gandhi und Bart de Ligt. Baden-Baden: Nomos.

Martin Arnold (2011b): Gütekraft – Gandhis Satyagraha. Overath: Bücken & Sulzer.

Martin Arnold und Reinhard Egel-Völp (2011): Gandhi neu entdecken: Von der Norm zur Kraft. Gewaltfreiheit – nur etwas für „Kleinmütige, Schwächlinge und utopische Pazifisten“? online unter guetekraft.net.

Mahatma Gandhi (1999): Electronic Book of The Collected Works of Mahatma Gandhi. Hrsg von Publications Division . New Delhi: Icon Softec, CD-ROM.

Hildegard Goss-Mayr (2002): Elemente der Gütekraft – An Hand von Beispielen erklärt. gewaltfreie aktion, Jg. 34, Heft131, S.16-25.

Mirjam Mahler und Martin Arnold (2013): »Gewaltfreiheit« -> »Gütekraft«! Minden: Bund für Soziale Verteidigung e.V. Informationsblätter.

Papst Franziskus (2015): Enzyklika Laudato si‘. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. 24. Mai 2015.

Dr. Martin Arnold, Essen und Reinhard Egel-Völp, Overath, sind seit Anfang der 1980er Jahre friedenspolitisch engagiert. Sie waren bzw. sind in verschiedenen Gruppen und Vereinen aktiv, darunter Ohne Rüstung Leben, Gewaltfreie Aktionsgruppen, Ökumenische Aktion Steuern zu Pflugscharen im Netzwerk Friedenssteuer, Gemeinschaft der Arche des Gandhischülers Lanza del Vasto, Gewaltfreie Kommunikation (Marshall Rosenberg) u.a.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/3 Friedensverhandlungen, Seite 50–51