W&F 2017/1

Hält der Frieden in Sierra Leone?

von Annette Schramm

Sierra Leone gilt weithin als Erfolgsfall nationaler und internationaler Peacebuilding-Bemühungen. Seit Ende des Krieges 2002 gab es keinen erneuten Gewaltausbruch, Wahlen wurden friedlich abgehalten und die Wirtschaft ist gewachsen. Dennoch weist das Bild einige Risse auf: So lassen sich in dem Land wirtschaftliche, soziale und politische Dynamiken beobachten, die Anlass zur Sorge bereiten. Es zeigt sich, dass die momentane Situation eher als negativer Frieden zu beschreiben ist. Eine Transformation struktureller Konfliktursachen hat hingegen nicht stattgefunden.

Mit der Schließung des UN Integrated Peacebuilding Office in Sierra Leone ging 2014 die letzte UN-Sicherheitsrat-Mission in Sierra Leone zu Ende. Die Beendigung der Mission wurde als großer Erfolg für die Vereinten Nationen und ihre Peacekeeping- und Peacebuilding-Strategien gewertet. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zählte Sierra Leone zu einem der erfolgreichsten Fälle von Post-Konflikt-Wiederaufbaubestrebungen weltweit (Ban Ki-moon 2014). In der Tat hat sich das Land nach dem Bürgerkrieg (1991-2002), der aufgrund der massiven Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und der Rolle von Diamanten zur Konfliktfinanzierung traurige Berühmtheit erlangte, stabilisiert. Drei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden seit 2002 weitestgehend friedlich durchgeführt, die Rebellengruppen wurden erfolgreich entwaffnet, und die Wirtschaft ist beachtlich gewachsen. Die Kriminalitätsrate in dem Land ist verhältnismäßig niedrig, und viele Sierra Leoner*innen sind stolz auf den erfolgreichen Friedensprozess. Auch aufgrund der erlebten Stigmatisierung durch die internationale Gemeinschaft während des Ebola-Ausbruchs 2014 werden viele nicht müde zu betonen, dass es in dem Land »keine Probleme« gibt. Auch von offizieller Regierungsseite werden immer wieder die Errungenschaften des Friedens hervorgehoben.

Dieses Bild des »Erfolgsfalls Sierra Leone« weist allerdings einige Risse auf. So lassen sich in dem Land einige Tendenzen beobachten, die Anlass zur Sorge bereiten.1 Zum einen ist die momentan schlechte wirtschaftliche Lage Anlass für Austeritätsmaßnahmen, die die ohnehin sehr arme Bevölkerung hart treffen. Zum anderen gibt es einen Anstieg von Gang-Gewalt. Die Situation der Jugend hat sich seit dem Krieg kaum verbessert. Darüber hinaus gibt es Befürchtungen, im Kontext der 2018 anstehenden Wahlen könnten die Spannungen und die Gewalt zunehmen. Auch wenn es momentan keine konkreten Anhaltspunkte für einen Wiederausbruch der Gewalt gibt, zeigt die aktuelle Lage gewisse Ähnlichkeit mit der Situation vor dem Bürgerkrieg. Daraus ergibt sich die Frage, wie nachhaltig der Frieden in Sierra Leone ist.

Wirtschaftskrise und Sparpolitik

Nach Ende des Bürgerkrieges 2002 gab es in Sierra Leone ein stetiges Wirtschaftswachstum, das 2013 in einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um ca. 20 % kulminierte (BTI 2016). Der anschließende Einbruch des Wachstums bis hin zu einem Schrumpfen der Wirtschaft um 21,5 % im Jahr 2015 zeigte deutlich die Anfälligkeit des Wirtschaftssystems (AfDB, OECD, UNDP 2016). Der massive Einbruch kann zum einen mit dem Ebola-Ausbruch und dem dadurch bedingten Abzug internationaler Akteure und einer damit einhergehenden regelrechten Lähmung des Landes erklärt werden. Zum anderen spielt auch der stark sinkende Weltmarktpreis für Eisen­erz eine große Rolle. Die Erschließung und der Abbau dieses Rohstoffs waren ein Hauptmotor des extremen Wachstums. Die jetzige wirtschaftliche Krise zeigt einmal mehr, wie problematisch es ist, wenn Staaten auf einzelne Rohstoffe setzen und sich in die Abhängigkeit der Weltmarktpreise begeben.

Nun vermögen die offiziellen Daten zur Wirtschaftslage die tatsächliche wirtschaftliche Situation eines Großteils der Bevölkerung nur unzureichend widerspiegeln. Viele Sierra Leoner*innen hatten auch von dem vorangegangenen Wirtschaftswachstum nicht profitiert; mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt immer noch in extremer Armut (weniger als 1,25 US$ am Tag), ein Großteil lebt von Subsistenzlandwirtschaft. Über das Leben dieser Menschen sagen die makroökonomischen Zahlen wenig aus. Allerdings bekommt die Bevölkerung die schlechte gesamtwirtschaftliche Lage sehr wohl zu spüren. So verkündete die Regierung unter Präsident Koroma im November 2016 Austeritätsmaßnahmen, um die Einnahmenausfälle an anderer Stelle einzusparen. Eine unmittelbar spürbare Konsequenz war die Aufhebung von Subventionen auf Erdöl-Produkte, die zu einem Anstieg der Benzinpreise um 60 % führte (Awoko 2016). Der Preis für eine Fahrt im Sammeltaxi, eines der Hauptverkehrsmittel in der Hauptstadt, stieg dadurch um 50 %. Ebenso werden die Lebensmittelpreise in dem Land, das ohnehin unter einer extrem schwachen Infrastruktur leidet, weiter steigen. Auch die instabile Währung mit einer hohen Inflationsrate trägt dazu bei, dass der ökonomische Druck auf die Bevölkerung weiter wächst.

Marginalisierung der Jugend

Die wirtschaftliche Situation ist für die gesamte Bevölkerung schwierig, trifft aber vor allem junge Menschen im Alter von 15 bis 35 hart. Die Arbeitslosigkeit liegt in dieser Altersgruppe schätzungsweise bei über 60 %, und auch nach dem Krieg hat die Zahl der jungen Menschen, die unter einem Dollar am Tag verdienen, weiter zugenommen (National Youth Commission 2012, S. 13). Wirtschaftlich, aber auch sozial marginalisiert, ist die Frustration bei der Jugend hoch. Es fehlt an wirtschaftlichen Möglichkeiten; außerdem haben junge Menschen das Gefühl, in der Gesellschaft nicht ernst genommen zu werden. Die Situation der Jugend zu verbessern war und ist eines der Hauptziele nationaler und internationaler Peacebuilding-Bestrebungen, galt doch die Exklusion der Jugend als eine Mitursache für den Bürgerkrieg. Arbeitslose Jugendliche sind leicht zu mobilisieren, und politische Eliten nutzen die Ausweglosigkeit der Jugend bis heute entsprechend aus. Politiker*innen locken die Jugendlichen mit vagen Versprechungen und einmaligen Geldzahlungen und setzen sie gegen ihre politischen Gegner ein. Insbesondere junge Männer erhoffen sich durch die Teilnahme an gewaltsamen Auseinandersetzungen von diesen Politiker*innen eine bessere soziale Stellung und Jobs. Vor allem vor den Wahlen 2007 und 2012 kam es so immer wieder zu inner- und zwischenparteilichen gewaltsamen Auseinandersetzungen (Enria 2015). Die sozio-ökonomischen Strukturen und Dynamiken, die dieses Zusammenspiel von Politikern und ausgegrenzten Jugendlichen ermöglichen, sind weiterhin existent.

Ein Anstieg von Gewalttaten in Freetown, aber auch anderen Städten in Sierra Leone, gibt Anlass zur Sorge in dem an sich sehr sicheren Land. Bislang wurde Sierra Leone als fast schon überraschend gewaltfrei bewertet, ein Zustand, der nun in Gefahr ist. In vielen Fällen wird die Gewalt auf Jugend-Gangs, zum Teil verknüpft mit rivalisierenden Rappern, zurückgeführt – ein neues Phänomen in Freetown. Momentan gibt es keine klare Strategie gegen den Gewaltanstieg. Als Reaktion wird in der Politik darüber diskutiert, die Todesstrafe, die seit 1998 ausgesetzt ist, wieder anzuwenden. Auch wenn die zukünftige Entwicklung von Gang-Gewalt noch nicht abgeschätzt werden kann, zeigt sie doch das Gewaltpotential, das mobilisiert werden kann.

Politische Polarisierung und Wahlen 2018

Die politische Landschaft in Sierra Leone zeichnet sich durch eine lang bestehende Polarisierung aus. Die beiden zentralen Parteien, die regierende APC (All People’s Congress) und die oppositionelle SLPP (Sierra Leone People’s Party) sind entlang ethnoregionaler Linien organisiert. Während die APC ihre Wählerschaft aus dem Norden des Landes bezieht, findet sich die Anhängerschaft der SLPP im Süden. In vielen Wahldistrikten ist so bereits vor der Wahl klar, welche Partei gewinnen wird. In der Folge sind Distrikte wie zum Beispiel Freetown oder Kono, in denen der Sieger nicht bereits vor der Wahl feststeht, besonders umstritten und anfällig für die Eskalation von Gewalt. Generell ist der Tonfall vieler Politiker*innen konfrontantiv. Politische Auseinandersetzungen und Medienberichte sind durchzogen von persönlichen Anfeindungen und Vorwürfen, die häufig inhaltliche Debatten überschatten.

Auch wenn die Parteien im Normalfall nicht direkt zu Gewalt aufrufen, kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Gewalt zwischen den Anhängern der beiden großen Parteien, die sich, wie bereits beschrieben, die Ausweglosigkeit junger Männer zu Nutze machen. Zwar verliefen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2012 friedlich, doch einigten sich die politischen Parteien im Vorfeld der Wahlen erst mit Mediationsbemühungen der Vereinten Nationen auf ein Abkommen, in dem sich die Partien auf Gewaltverzicht verpflichteten (BTI 2016). Mitte 2016 kam es im Vorfeld von Nachwahlen wiederum zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der APC und SLPP. Solche Vorfälle schüren die Befürchtungen, die 2018 anstehenden Wahlen könnten von massiver Gewalt begleitet werden (Sheriff 2016). Was dies insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden wirtschaftlichen Krise und steigender Gewalttaten bedeutet, wird sich zeigen müssen. Die Wahlen sind bereits jetzt das großes Thema in der Gesellschaft.

Wie nachhaltig ist der negative Frieden in Sierra Leone?

Die beschriebenen wirtschaftlichen, so­zialen und politischen Tendenzen sind besorgniserregend, vor allem, weil sie stark an die Situation vor dem Bürgerkrieg erinnern. Nach Meinung vieler Expert*innen, aber auch dem Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Sierra Leone, war das politische Missmanagement der Eliten mit einem damit einhergehenden Ausschluss der Jugend eine der Grundursachen für den Krieg. Ein Großteil der Bevölkerung hatte kaum eine Möglichkeit, aus der extremen Armut zu entkommen; zugleich waren die Möglichkeiten politischer Partizipation stark eingeschränkt. Vor allem die Jugend äußerte ihre Frustration in den 1970er und 1980er Jahren in Protesten, die von der Ein-Parteien Regierung der APC unterdrückt wurden. Eine schwere Wirtschaftskrise in den 1980er Jahren trug weiter dazu bei, dass sich junge Männer leicht mobilisieren ließen (Truth and Reconciliation Commission 2004; Keen 2005).

Insbesondere die politischen Strukturen haben sich seit dem Bürgerkrieg aber kaum verändert. Die politischen Eliten sind weitestgehend gleich geblieben; noch immer scheint Gewalt zumindest indirekt als Mittel eine Rolle zu spielen. Nur für wenige Jugendliche hat sich die soziale und ökonomische Situation verbessert. Gleichzeitig zeigt die aktuelle Wirtschaftskrise, wie anfällig das Land für ökonomische Schocks ist.

Momentan ist die Situation in Sierra Leone friedlich. Es gibt keine konkreten Anzeichen dafür, dass eine Gruppe oder außenstehende Akteure das gesellschaftliche Klima ausnutzen wollen und einen erneuten Bürgerkrieg anstreben. Allerdings lässt sich die Lage wohl eher als negativer Frieden, im Sinne einer Abwesenheit physischer Gewalt, beschreiben. Eine Transformation struktureller Konfliktursachen hat bisher nur in einem unzureichenden Maße stattgefunden. Das Bild des »Erfolgsfalls Sierra Leone«, das so gerne von nationalen sowie internationalen Akteuren heraufbeschworen wird, birgt dabei die Gefahr, eben diese Strukturen zu übersehen.

So bedarf der Weg zu einem nachhaltigen Frieden in Sierra Leone noch eines langen und ehrlichen Engagements nationaler Eliten, zivilgesellschaftlicher Organisationen, aber auch internationaler Partner. Die Wahlen 2018 stellen dafür die nächste Bewährungsprobe dar.

Anmerkung

1) Diese Befürchtungen wurden unter anderem von Sierra Leonischen Wissenschaftler*innen während der 26. Konferenz der International Peace Research Association (IPRA) in Freetown im November 2016 geäußert. Die Autorin war als Teilnehmerin vor Ort und hat darüber hinaus Interviews geführt. Der vorliegende Artikel spiegelt Beobachtungen und Gespräche während ihres Aufenthalts wider.

Literatur

AfDB, OECD, UNDP (2016): African Economic Outlook 2016.

Awoko (2016): Sierra Leone News: Government stops fuel subsidy … Price increases by 60 percent. 14. November 2016; awoko.org.

Ban Ki Moon (2014): Transcript of the Secretary-General’s remarks at Joint Press Conference with President of Sierra Leone, 5 March 2014; un.org.

Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 – Sierra Leone Country Report. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Enria, L. (2015): Love and Betrayal – The Political Economy of Youth Violence in Post-War Sierra Leone. Journal of Modern African Studies, 53 (4), S. 637-660.

Keen, D. (2005): Conflict and Collusion in Sierra Leone. New York: Palgrave.

National Youth Commission (2012): Sierra Leone Status of the Youth Report 2012; Published by the National Youth Commission and the Ministry of Youth Employm ent and Sports.

Sheriff, A.-B. (2016): Bye-Election Violence – The Paradox of »Peaceful« Sierra Leone. Concord Times, July 8, 2016.

Truth and Reconciliation Commission (2004): Witness to Truth. Report of the Sierra Leone Truth and Reconciliation Commission.

Annette Schramm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich »Bedrohte Ordnungen« (SFB 923) an der Universität Tübingen und promoviert zu Land- und Agrarpolitik in Post-Konfliktstaaten, insbesondere Sierra Leone.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/1 Facetten des Pazifismus, Seite 48–50