W&F 2015/1

Halbwahrheiten und Doppelstandards

Medien im Ukraine-Konflikt

von David Goeßmann

„Medien sind mächtiger als Bomben“, sagt die Alternative Nobelpreisträgerin Amy Goodman. Massenmedien können durch Halbwahrheiten, Doppelstandards und Schweigen die eskalierende Rolle der eigenen Regierungen und ihrer Verbündeten bei Konflikten kaschieren, relativieren oder rechtfertigen und deren Gegner zum »Paria der Weltgemeinschaft« ernennen. David Goeßmann geht in diesem Beitrag der Berichterstattung der Medien in Deutschland und den USA über den Ukrainekonflikt nach. Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Selbrund-Verlages dem Buch »Ukraine im Visier« entnommen, wird hier aus Platzgründen allerdings gekürzt und ohne Fußnoten mit den Quellenhinweisen abgedruckt.

Vor über hundert Jahren zwangen die USA, die Kuba damals militärisch besetzt und eine US-freundliche Regierung installiert hatten, Kuba einen Pachtvertrag auf, der Washington die Nutzung von Guantánamo erlaubte. Seit der Unabhängigkeit Kubas in den späten 1950er Jahren hat die kubanische Regierung den Vertrag immer wieder für ungültig erklärt und die USA aufgefordert, Guantánamo zu verlassen. Zwar haben Verträge unter militärischem Zwang und Besatzung per se keine Gültigkeit, doch alle US-Regierungen haben sich darüber hinweggesetzt. Präsident Georg W. Bush und Barack Obama betreiben seit 2002 zudem auf dem kubanischen Territorium ein Folter-Gefängnis für »feindliche Kämpfer«. […]

[Solche] Aneignungen von Territorien, ob nun Krim oder Guantánamo, sind widerrechtliche und kriminelle Akte. Der Anschluss der Krim an Russland verstößt gegen die UN-Charta und diverse Verträge, daran ändert auch ein Referendum nichts. Die Vereinnahmung Guantánamos wird andererseits nicht durch einen Pachtvertrag legitimiert, der unter militärischer Okkupation aufgezwungen wurde.

Geteilte Empörung: das Spiel mit „roten Linien“

Doch während die Angliederung der Krim-Halbinsel an Russland eine Empörungswelle in den USA, Europa und den westlichen Medien auslöste, ist die Aneignung Guantánamos durch die USA der Presse bis heute so gut wie keine Zeile wert. […] Bei einer Pressedatenabfrage von rund 160 überregionalen und regionalen Print- und Onlinemedien in Deutschland findet sich nur ein Artikel im Wirtschaftsmagazin »Focus Money«, der im Zuge des Krim-Anschlusses an Russland auf den moralischen Doppelstandard des Westens und die völkerrechtlich „nicht ganz saubere“ Guantánamo-Nutzung hinweist. Chefredakteur Frank Pöpsel fragte ironisch in der Schlagzeile: „Warum pachtet Putin nicht die Krim?“

US-Kritiker Noam Chomsky hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vergleich Guantánamo/Krim eher schmeichelhaft für die US-Besatzung ausfalle. Denn anders als bei der Krim hätten die USA keinerlei Anspruch auf Guantánamo. Die Krim ist historisch russisch geprägt. Sie bietet Russland zudem den wichtigsten Zugang zu einem eisfreien Hafen. Sewastopol hat eine wichtige militärstrategische Bedeutung für Moskau. Dort ist die Schwarzmeer-Flotte Russlands stationiert. Über die Angliederung der Krim an Russland fand zudem ein Referendum statt. Keinen dieser Ansprüche könne die USA im Fall Guantánamos geltend machen, so Chomsky.

[…] Die Wirtschaftswoche kommentierte am 2. März 2014 nach der Krim-Sezession: „Putin hat eine rote Linie überschritten“. Der tschechische Präsident Zeman wird einen Monat später von der ZEIT bis zur Welt mit seiner Drohung gen Moskau zitiert. Sollte Russland in den Osten der Ukraine marschieren, so Zeman, sei eine „rote Linie“ überschritten. Dann müssten NATO-Soldaten in die Ukraine geschickt werden. Deutsche und US-amerikanische Journalisten werden seit Beginn der Krise nicht müde, Obama und die EU aufzufordern, endlich gegenüber Russland eine rote Linie zu ziehen. Sie mahnen härtere Sanktionen oder gar Militärinterventionen an. „Auf der Krim überschreitet Moskau die rote Linie des Westens, um die Ordnung nach dem Kalten Krieg in Frage zu stellen“, schreibt DIE ZEIT am 14. März 2014. Im Boston Globe bringt Kolumnist Thanassis Cambanis den Sachverhalt auf den Punkt: „[Präsident Wladimir] Putins Annexion der Krim ist ein Bruch der Ordnung, auf die sich Amerika und seine Verbündeten seit dem Ende des Kalten Krieges stützen – nämlich eine, in der Großmächte nur dann militärisch intervenieren, wenn der internaionale Konsens auf ihrer Seite ist oder, ist dies nicht der Fall, wenn sie keine roten Linien eines Gegners überschreiten.“ […]

Die Halbwahrheiten der real existierenden Tagesschau, taz & Co.

[D]ie mediale Behandlung des Ukraine-Konfliktes [fügt sich] in das ideologische Muster ein, in dem nicht jedes widerrechtliche Ereignis und nicht jede Verletzung territorialer Souveränität und Integrität »rote Linien«und »Krisen« erzeugt und einen neuen kalten Krieg in Gang setzt. Doch in einem Punkt stellt die Ukraine durchaus einen Sonderfall dar. Zum ersten Mal gab es eine breite Kritik an der Parteinahme in der medialen Darstellung, eine Kritik, die über Friedensgruppen und medienkritische Plattformen hinausging. In vielen tausenden Kommentaren üben Leser und User immer wieder zum Teil scharfe Kritik an der Einseitigkeit der Berichterstattung. Sie bemängeln, dass Russland in deutschsprachigen Medien dämonisiert werde, Putins „Griff nach der Ukraine“ und sein angeblicher Expansionsdrang Subtext vieler Schlagzeilen und Artikel sei. Sie vermissen kritische Stimmen zum Vorgehen der ukrainischen Übergangsregierung in der Ostukraine, eine angemessene Darstellung der rechten bzw. faschistischen Kräfte innerhalb der Maidan-Bewegung bzw. Kiewer Regierung und Analysen zur eskalierenden Rolle des Westens sowie zu den ökonomischen und militärischen Interessen von USA und EU. Eine vergleichbare Welle an Kritik hatte es in dieser Form bisher nicht gegeben. „Wir haben uns natürlich bemüht, ausgewogen zu berichten“, verteidigt taz-Chefredakteurin Ines Pohl im Deutschlandfunk-Interview die eigene Berichterstattung. Hinter den kritischen Kommentaren sieht Pohl jedoch, wie viele ihrer Kollegen, von Moskau bezahlte Trolle am Werk. Belege für diese Anschuldigungen werden nicht vorgelegt. Die taz, die sich über weite Strecken weigerte, den Konflikt mit journalistischer Distanz darzustellen und Russland als neue Bedrohung präsentierte, büßte im Laufe von 2014 laut der AG Medienanalyse 20 Prozent ihrer Reichweite ein. Statt 300.000 Leser pro Ausgabe sind es jetzt nur noch 240.000. Andere meinungsbildende Zeitungen wie die FAZ, SZ oder der Spiegel verloren ebenfalls drastisch an Leserschaft.

Auch innerhalb des ideologischen Rahmens wichen die deutschen und die US-Medien bei der Darstellung des Konfliktverlaufes nicht von der Linie der US-Administration und der NATO-Staaten ab. Auslöser des Konfliktes war demnach der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, der das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte, gelockt von russischen »Milliardengeschenken«, worauf die ukrainischen Bürger aus Protest gegen die Regierung auf die Straße gingen. Der Maidan wurde zum Symbol des Widerstandes gegen ein autokratisches und korruptes System, eine Art »ukrainischer Frühling« gegen einen »ukrainischen Mubarak«. Janukowitsch unterdrückte den Aufstand gewaltsam. Doch die Maidan-Bewegung konnte sich letztlich erfolgreich durchsetzen und eine neue Übergangsregierung mit Arsenij Jazenjuk an der Spitze des Parlamentes einsetzen, die von den USA und europäischen Staaten sofort anerkannt wurde und nun für Stabilität und demokratische Verhältnisse steht. Der neue Präsident Petro Poroschenko unterzeichnete schließlich das EU-Assoziierungsabkommen, das als „historisch“ bezeichnet wurde. Gegen die europafreundliche Bewegung in Kiew positionierte sich der russische Präsident Putin aggressiv, annektierte die Krim und unterstützte die aufständische Separationsbewegung in der Ostukraine, um wieder Kontrolle über die Region zu erhalten – so die Lesart. Um gegen die destabilisierende Einmischung Russlands vorzugehen, verhängten die USA und die EU Sanktionen, die nach dem Absturz des malaysischen Passagierflugzeuges MH17 noch ausgeweitet wurden. USA und EU fordern nun die Umsetzung des Poroschenko-»Friedensplanes«, um den Konflikt zu deeskalieren, doch Putin und die Separatisten blockieren den Frieden.

Es wäre die Aufgabe der Medien gewesen, diese offizielle Erzählung und Darstellung der Ereignisse zu überprüfen, relevante Informationen und Hintergründe zu liefern und den Konflikt mit seinen diversen Akteuren fair darzustellen. „Insgesamt geben wir ein realistisches Bild dieser sehr diffusen Lage ab, immer wissend, dass jede Partei ein Interesse daran hat, ihre Seite, ihre Sichtweise besonders bevorzugt darzustellen“, weist der Redaktionsleiter von tagesschau.de, Andreas Hummelmeier, den Vorwurf einseitiger Berichterstattung zurück. Doch das »realistische Bild«, das Tagesschau, Süddeutsche Zeitung oder Spiegel skizzierten, war und ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Die halbe Wahrheit ist aber nun einmal nicht die Wahrheit, so wenig ein Sportreporter, der nur von den Toren seiner Lieblingsmannschaft berichtet, ein Ereignis wahrheitsgemäß wiedergibt.

Es gab zum Beispiel gute Gründe, warum der ukrainische Präsident Janukowitsch das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte. Die EU stellte der ukrainischen Regierung ein Ultimatum, verlangte von ihr eine Entscheidung. Ein Abkommen mit der EU gäbe es nur ohne Zollunion mit Russland. Die daraus resultierende Schwächung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland hätte weitreichende negative Folgen für die Ukraine gehabt. Russland ist der wichtigste Handelspartner der Ukraine, beide sind ökonomisch eng miteinander verbunden. Die »militärische Kooperation«, wie sie das EU-Abkommen vorsah, war zudem ein unmissverständliches Signal Richtung NATO-Beitritt, was von Moskau nicht akzeptiert werden konnte. Gleichzeitig ließen die Medien weitestgehend unberücksichtigt, dass die Ukraine aus mindestens „zwei Ukrainen“ besteht, wie der US-amerikanische Russland-Experte Stephen Cohen, Professor emeritus für Russland-Studien und Politik an der New York University und Princeton University, immer wieder betonte. „Eine neigt Richtung Polen und Litauen, dem Westen, der Europäischen Union; die andere Richtung Russland. Das ist nicht meine Meinung. Seit die Krise sich entfaltete, zeigen alle Meinungsumfragen, dass etwa 40 Prozent der Ukrainer zum Westen gehören wollen, 40 Prozent wollen mit Russland verbunden bleiben und, wie meist bei solchen Umfragen, sind 20 Prozent nicht entschieden oder sicher.“

Die Haltung gegenüber dem EU-Assoziierungsabkommen war in der ukrainischen Bevölkerung daher gespalten, wie Umfragen zeigten. Die eine Hälfte wollte es, die andere nicht. Doch die Medienberichte konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Befürworter einer EU-Annäherung, die dann als Haltung »der Ukrainer« gekennzeichnet wurden. Es ist daher zumindest irreführend, Janukowitschs Ablehnung als Auslöser der Krise zu bezeichnen, wie es die Medien taten, ohne zu erklären, warum es zu dieser Ablehnung kommen musste. Auch verschwiegen sie, dass eine Lösung möglich gewesen wäre, aber von der EU blockiert wurde. Stefan Kornelius schrieb am 24. Februar 2014 in der Süddeutschen Zeitung: „Der Präsident [Janukowitsch, d. Verf.] akzeptierte die Logik, dass die Ukraine eine Wahl zu treffen habe zwischen dem Westen und Russland. Diese Logik prallt aber an der EU ab. Die Gemeinschaft erträgt unter ihren Mitgliedern ökonomische und politische Unterschiede, sie schafft keine Fronten. Die EU bietet vielmehr Optionen für Staaten, die sich Regeln für gute Regierungsführung unterwerfen. Die EU sucht nicht nach neuen Mitgliedern, neue Staaten streben in die EU.“ Eine Verkehrung der tatsächlichen Geschehnisse. Während die EU der Ukraine ein Ultimatum stellte, zwischen Russland und der EU zu wählen, bot Moskau der EU eine »tripartite«-Regelung an, also Zollunion und EU-Abkommen gleichzeitig, doch die EU lehnte das ab. Der Konflikt eskalierte.

„Ein Meilenstein“ – Mythos und Realität des EU-Assoziierungsabkommens

Als der neue Präsident Poroschenko das EU-Assoziierungsabkommen schließlich nach dem Staatsputsch und der folgenden Wahl unterzeichnete, folgten die deutschen Medien den Vorgaben Poroschenkos und des EU-Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy, dass es sich um einen „historischen Tag“, einen „Meilenstein“ handele, der der Ukraine nun einen „verbesserten Marktzugang mit 500 Millionen Verbrauchern“ ermögliche.

»Historisch« war an dem Tag vielmehr, dass eine kaum entwickelte Agrargesellschaft in Zukunft mit einem der größten Wirtschaftsräume der Welt ohne nennenswerte Schutzmaßnahmen wie Zölle, Industriesubventionen, Agrarhilfen, Heizzuschüsse etc. auf dem »freien Markt« konkurrieren muss und von seinem wichtigsten Handelspartner abgeschnitten zu werden droht. Die Journalisten vergaßen auch mitzuteilen, dass das EU-Abkommen einherging mit einem zweistelligen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), der gekoppelt wurde an ein rigides Sparprogramm, vergleichbar dem in Griechenland. Der IWF-Kredit bedient wie in anderen Staatsschulden-Fällen die Gläubiger der Ukraine, also vor allem europäische und US-amerikanische Banken und Finanzinstitute. Die Kosten tragen die ukrainischen Bürger.

Die Austeritätsmaßnahmen im Sinne des EU-IWF-Reformpaketes sind bereits angelaufen. Die Folgen sind u.a. sinkende Löhne, steigende Inflation, drastisch hochschnellende Gas-, Wasser und Strompreise für die Ukrainer, und das bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 275 US-Dollar, wobei der größte Teil für Lebensmittel ausgegeben werden muss. Zudem wurden im Rahmen des Sparprogramms bereits Staatsangestellte entlassen. Ökonomen gehen davon aus, dass die Kaufkraft der Ukrainer im Zuge der »Reformprogramme« weiter sinken werde und damit die Wirtschaft tiefer in die Rezession getrieben wird. Die Regierung in Kiew hat zudem angekündigt, Sozialprogramme, Unterstützung für Arbeitslose und Behinderte drastisch zu kürzen und die Löhne für Angestellte des öffentlichen Dienstes nicht an die galoppierende 16-prozentige Inflation anzupassen, während man das Staatsbudget für Sicherheit und Militär stark ausbauen will.

Im aktuellen Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) heißt es dazu: „Es war eines der Hauptziele der zivilgesellschaftlichen Aktivisten, Experten und Journalisten, die sich nach dem Maidan zusammenschlossen, um für die erforderlichen Reformen zu werben, dass jeder in der Ukraine in den vollen Genuß sozialer und ökonomischer Rechte kommt. Allerdings ist die neue Gesellschaft, die, so ihre Hoffnung, mit dem wiederbelebten »Reformpaket« [reanimation package of reforms] entstehen würde, noch weit von der Wirklichkeit entfernt.“ […]

»Wertvolle« und »wertlose« Proteste

[…] Die Maidan-Berichterstattung ist ein Tiefpunkt im deutschen Journalismus. Dieselben Medien, die sonst friedliche Proteste im eigenen Land gern auf ein paar Randalierer reduzieren und eskalierende Polizeigewalt unerwähnt lassen, übersahen auf dem Maidan die immer präsenter werdenden extremistischen Kräfte rechter und faschistischer Gruppierungen oder spielten ihre Bedeutung für den Staatscoup herunter. Offen geäußerte rassistische Einstellungen wurden als Petitesse abgetan, die sonst so fein eingestellten Antisemitismus-Sensorien der meinungsführenden Rundfunkanstalten und Zeitungen, die bei Protesten gegen Israels Gaza-Kriegen zuverlässig immer neue Wellen von Judenhass entdecken, wurden schlicht abgeschaltet. Nach dem Staatssturz mit Hilfe der Rechtsextremen titelte die Süddeutsche Zeitung: „Russland erklärt sich zum antifaschistischen Schutzwall“. Mit ein paar Sätzen relativierte die Süddeutsche Zeitung die Rolle rechtsextremer Gruppen auf dem Maidan als umstritten und marginal. Anklagen wegen Volksverhetzung, Juden-, Russen-, Roma- und Schwulen-Hetze, Verherrlichung des Vernichtungskrieges gegen die ukrainischen Juden, dem 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, enge Kontakte zur NPD, der militanten Neonazi-Szene und anderen europäischen rechtsextremistischen Parteien usw.? Fehlanzeige. Man erfuhr im SZ-Artikel auch nicht, dass der Jüdische Weltkongress die Partei »Swoboda«, deren Vorsitzender Oleg Tjagnibok die Hände vieler westlicher Politiker wie Steinmeier, Ashton oder McCain schüttelte, als neonazistisch einstuft und ein Verbot der Partei fordert. Man beschäftigte sich lieber 14 Absätze lang mit Rassismus in Russland, einem Land, so die SZ, das sich nun „zynisch“ als „antifaschistischer Schutzwall“ im Ukraine-Konflikt inszeniere.

Der doppelte Standard der Medienberichterstattung setzte sich fort bei den Protesten in der Ostukraine. Wie von Kritikern des Staatssturzes erwartet, brach der Konflikt, angefeuert von US-amerikanischen und europäischen Solidaritätsadressen, entlang der ethnischen, kulturellen und politischen Trennlinien in offenen Bürgerkrieg aus. Die deutschen und US-amerikanischen Medien schalteten ihr Bewertungsschema jedoch jetzt um. Der Übergangspräsident „Jats“, wie Victoria Nuland, zuständig für Europa und Eurasien im US-Außenministerium, ihren »favorite« in einem geleakten Telefonat nannte (anders als Janukowitsch von den Medien jetzt nicht als »Marionette« diffamiert), und der neu gewählte Oligarch Poroschenko (Wie war das noch einmal mit dem Aufstand gegen die »Macht der Oligarchen« auf dem Maidan?) sind nun Garanten von Stabilität, Demokratie, legitimer Gewaltanwendung, auch wenn sie brutal gegen das eigene Volk in der Ostukraine vorgehen. Doch über diese Gewalt berichten die Medien so gut wie nicht. Die Aktivisten sind demgegenüber Aufständische, Separatisten, Terroristen, die von Russland infiltriert sind bzw. gesteuert werden, um Teile der Ostukraine an Russland anzugliedern.

Die Wahrheit ist komplizierter. Auch in der Ostukraine erhalten rechte und gewaltbereite Kräfte im Verlauf der Eskalation mehr Einfluss, aber darin unterscheidet sich der Protest nicht von dem auf dem Maidan. Zudem: Ukrainische Bürger, darunter etliche junge Aktivisten und Studenten, protestierten in Lugansk, Donezk oder Odessa oft friedlich für Reformen. Sie fordern nicht Abspaltung von Kiew, keine Angliederung an Russland, sondern Rechtsschutz für die russischstämmige Bevölkerung und mehr Autonomie in einem föderalen System. Von diesen Protestierenden und ihren politischen Ansichten erfährt man so gut wie nichts in der Presse – anders als bei der Maidan-Berichterstattung. Der Eindruck musste entstehen: In der Ostukraine, anders als bei den europafreundlichen Protesten in Kiew, zündelten ausschließlich militante Umstürzler ohne legitime politische Interessen. „Prorussische Separatisten“ ist heute eine feste Wortfügung in allen Nachrichten. Das Bild in der Ostukraine ist weitaus gemischter. […]

Und was ist mit der destabilisierenden Einmischung Moskaus in der Ostukraine? Nehmen wir den Kernvorwurf, die russischen Waffentransporte ins Krisengebiet. Der Vorwurf wird mit Verweis auf Social-Media-Fotos und Satellitenbilder erhoben, bereitgestellt von der US-Administration. Eindeutige Belege liegen nicht vor, die Lage ist unübersichtlich, trotz Indizien.

Journalisten sollten zudem auch die Frage stellen: Was ist mit der anderen Seite? Was ist mit den US-Militärhilfen? Die militärische »Einmischung« des Pentagon liegt anders als im Fall Moskaus offen zutage. Im US-Senatsausschuss für Internationale Beziehungen hat das Verteidigungsministerium seine militärische Unterstützung für die Ukraine erläutert. Die Hilfen sollen danach im Zuge der Krise vervierfacht werden. Neben Militärausrüstung, wie Körperpanzer, Nachtsichtgeräte, Bomben-Spürroboter usw., sollen auch amerikanische Berater und Trainer in die Ukraine geschickt werden „um das ukrainische Militär auszubilden und zu professionalisieren“. In das ukrainische Verteidigungsministerium will man US-Berater „einbetten“, um mit der Regierung zusammen eine »Nationale Sicherheitsstrategie« zu entwerfen, die eine „kohärente Vision für das Militär, den Grenzschutz, die Nationalgarde und andere Sicherheitsinstitutionen der Ukraine“ bereitstelle, so der Staatssekretär für Internationale Sicherheit im Pentagon, Derek Chollet, im US-Senatsausschuss Anfang Juli [2014]. Der Vorwurf von russischer Seite, dass die USA 100 Berater im Sicherheitsapparat der ukrainischen Regierung bereits einsetze, ist daher nicht aus der Luft gegriffen. Nach dem Absturz der MH17 erwägen die USA, Echtzeit-Zielkoordinaten für Angriffe des ukrainischen Militärs bereitzustellen, im US-Kongress fordern Politiker sogar Waffenlieferungen an das ukrainische Militär. Im Kölner Stadt-Anzeiger heißt es dazu: „Würden die Pläne umgesetzt, wäre das eine kraftvolle Botschaft an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die USA neben Sanktionen auch noch andere Mittel einsetzen, um die Unterstützung Moskaus für die Separatisten zu beenden.“

Während die möglichen Waffenlieferungen Russlands von den meisten deutschen Medien als Tatsache präsentiert werden und als Beweis für die von Moskau betriebene Eskalation des Konfliktes erscheinen, gilt die militärische Unterstützung des ukrainischen Militärs durch die USA als eine legitime Schutzmaßnahme und wird als stabilisierend kommentiert. Wir erinnern uns: Im UN-Bericht wird beiden, dem ukrainischen Militär wie den Separatisten, vorgeworfen, gegen die Zivilbevölkerung in der Ostukraine Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Sollte Moskau Waffen an die Separatisten liefern, dann ist das ein Verstoß gegen das Verbot, Waffen in Bürgerkriegsregionen zu liefern, in denen Zivilisten nicht ausreichend geschützt werden. Das Gleiche gilt jedoch auch für die USA. In einem der wenigen abwägenden Kommentare in deutschen Medien fordert der Moderator des ARD-Politmagazins »Monitor«, Georg Restle, in den Tagesthemen auch vom Westen, seinen Einfluss geltend zu machen, um den Konflikt zu deeskalieren. Die Schlussfolgerung wird jedoch auch von Restle nicht gezogen. Nimmt man den an Russland angelegten Maßstab, würde »Einfluss geltend machen« bedeuten: keinerlei Unterstützung für die ukrainische Regierung, weder politische, diplomatische, finanzielle noch militärische, solange die Regierungstruppen nicht die Waffen niederlegen. Eine Forderung, die in deutschen und US-Medien außerhalb des Debattenradius liegt.

„Versöhnliche Geste“ vs. „vergiftetes Geschenk“

Was ist mit der Lösung des Konfliktes in der Ukraine? Anfang Juli 2014 legte Poroschenko einen Friedensplan vor, der durchaus eine Chance zur Deeskalation hätte sein können, so Stephen Cohen in der Zeitschrift The Nation: „Bis auf die zwei Grundvoraussetzungen: Kämpfer im Südosten müssten zuerst ‚ihre Waffen niederlegen’, und er alleine würde entscheiden, mit wem er über den Frieden verhandelt. Die Voraussetzungen ähnelten mehr denen einer Kapitulation, und sie waren vermutlich der wahre Grund, dass Poroschenko am 1. Juli [2014] einseitig den Waffenstillstand aufkündigte und Kiews Angriffe auf die Städte im Osten intensivierte, zunächst auf die kleineren Städte Slawjansk und Kramatorsk, aus denen sich die Verteidiger am 5./6. Juli zurückzogen – um, wie sie sagten, noch mehr zivile Opfer zu vermeiden.“ Auf Spiegel Online zitierte man überschwänglich Poroschenko mit den pazifistischen Worten: „Ich will keinen Krieg, ich will keine Rache. Ich möchte Frieden“ – um dann fortzufahren: „Die Separatisten zeigten sich allerdings unbeeindruckt von der versöhnlichen Geste Poroschenkos.“ Janukowitschs Zugeständnisse an die Maidan-Sprecher im Januar 2014, mit denen er sich immer wieder an einen Tisch gesetzt und verhandelt hatte, gingen weit über Poroschenkos Zugeständnisse im »Friedensplan« hinaus. Sie wurden von den Qualitätszeitungen allerdings nicht als „versöhnliche Geste“ bezeichnet, sondern als „unmoralisches Angebot“, als „vergiftetes Geschenk“, das von der Gegenseite zu Recht abgelehnt wurde, auch wenn es weitreichende Zugeständnisse enthielt. „Die Gewalt beenden, ohne die eigene Integrität zu opfern“, das sei Klitschko & Co. gelungen, hieß es dazu in der Süddeutschen Zeitung.

Man könnte unzählige Beispiele herausgreifen und daran aufzeigen, wie gegen elementare journalistische Standards beim Ukraine-Konflikt verstoßen wurde. Über 40 Aktivisten sterben in einem brennenden Gewerkschaftshaus in Odessa, einige davon wurden im Gebäude erschossen. Augenzeugenberichte, etliche Videos und Indizien deuten auf Brandstiftung hin, auf ein Massaker an den Kiew-kritischen Demonstranten, die vor dem Gewerkschaftshaus kampierten, in das sie vor einem gewalttätigen Mob flohen, der einige aus dem Gebäude wieder zurückholte und auf offener Straße brutal zusammenschlug. Es gibt belastende Hinweise, dass rechtsradikale Gruppen und Milizen, möglicherweise aus dem Umfeld der in Kiew mitregierenden Swoboda-Partei, für das Massaker verantwortlich gewesen sind. Die taz wie viele andere Zeitungen und Rundfunksender beließ es bei einem „brennenden Gewerkschaftshaus“, ohne zu vermelden, wer für die „Tragödie“ verantwortlich gewesen sein könnte. Bei den Scharfschützen auf dem Maidan präsentierten die meinungsmachenden Medien hingegen ein staatlich organisiertes Massaker, obwohl, wie sich später zeigte, daran erhebliche Zweifel bestehen. Bei beiden Vorfällen fordert das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinte Nationen unabhängige Untersuchungen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

In den deutschen Medien wurde die Eskalation des Konfliktes durchaus auch mit Sorge betrachtet. Am 16. April 2014 meldete das Handelsblatt: „Ukraine-Eskalation alarmiert deutsche Wirtschaft“. DIW-Präsident Marcel Fratscher warnte vor konjunkturellen Rückschlägen für Europa bei Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Im ZDF-Interview verteidigte Siemens-Chef Joe Kaeser seinen Besuch bei Putin, sprach von „kurzfristigen Turbulenzen“ im Zusammenhang mit der Krim-Angliederung an Russland und warnte vor weiterer Eskalation. Der Siemens-Konzern hatte Ende 2011 Investitionen von rund einer Milliarde Euro in Russland zugesagt, wovon etwa 750 bis 800 Millionen Euro schon umgesetzt sind. Deutsches Kapital in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar finanziert insgesamt 6.200 Firmen in Russland. Dazu kommen die russischen Gas- und Öllieferungen nach Europa. Allein in Deutschland decken sie 35 Prozent des Bedarfs ab. Die drohenden »Marktturbulenzen« im Zuge einer weiteren Eskalation mit Russland haben den politischen und medialen Diskurs in Deutschland zur Ukraine-Krise, wenn auch nur an den Rändern, in seiner Schärfe sicherlich abgemildert. […]

David Goeßmann ist freier Journalist. Er arbeitet für etliche Rundfunksender und Printmedien. Von 2005 bis 2007 war er freier Auslandskorrespondent in Boston/USA, davor Parlamentsreporter und CvD der Deutschen Fernsehnachrichten Agentur. 2009 gründete er zusammen mit dem Dramatiker und Journalisten Fabian Scheidler das unabhängige TV-Nachrichtenmagazin »Kontext TV« (kontext-tv.de).
Übersetzung der englischsprachigen Zitate für W&F: Regina Hagen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/1 Afrika, Seite 46–50