W&F 2014/2

Hauptsache gut gemeint?

Die friedensethische Bilanz der EKD zum Afghanistan-Krieg

von Albert Fuchs

Mit Blick auf das bevorstehende Ende des internationalen militärischen Engagements in Afghanistan hat die EKD unlängst eine bilanzierende Stellungnahme vorgelegt. Gefragt wird insbesondere nach der Bewährung des (groß-) kirchlichen friedensethischen Leitbildes eines gerechten Friedens im (militärischen) Einsatz. Die Autorinnen und Autoren des EKD-Papiers halten die Leitidee des gerechten Friedens für grundsätzlich bewährt. Unser Autor problematisiert die Rahmensetzung und findet die Bewährungsfrage großteils nicht überzeugend bzw. unhaltbar beantwortet. Jedenfalls werde kein Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufgezeigt.

Unter dem Titel »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik« hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unlängst eine bilanzierende friedensethische Stellungnahme zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zur Diskussion gestellt (EKD 2013/14; zur weiteren Referenz nur Seitenzahlen). Wie der Vorsitzende des Rates der EKD, Nikolaus Schneider, im Vorwort zu dieser Stellungnahme erläutert, liegen ihr zwei Leitfragen zugrunde: „Bewährt sich das Leitbild des gerechten Friedens im Einsatz oder muss es von den Erfahrungen in Afghanistan her konkretisiert, präzisiert oder sogar korrigiert werden?“ Und: „Wird der deutsche Einsatz in Afghanistan dem Anspruch gerecht, eine Rechtsordnung zu schaffen und dadurch Frieden zu ermöglichen?“ (S.8) Für den friedensethischen Diskurs ist vor allem die erste Leitfrage von Interesse; sie wird im Wesentlichen in Kapitel 2 des Papiers erörtert. Betitelung und Vorwort beinhalten aber eine aufschlussreiche Rahmensetzung, die hier zunächst beleuchtet werden soll. Im Ausblick werde ich kurz die Frage aufgreifen, ob das EKD-Papier einen Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufzeigt.

Staatstragende Rahmensetzung

Als Haupttitel verwendet das EKD-Papier den expressiven Teil der siebten jesuanischen »Seligpreisung« aus der im Matthäus-Evangelium überlieferten so genannten Bergpredigt: „Selig die Friedfertigen!“ (Mt. 5,9) Das altgriechische »eirenepoioi« – wörtlich »Friedenstäter« – meint aber nicht (bloß) zum Nachgeben, Dulden und Verzeihen bereite Menschen und schon gar nicht Konfliktvermeider, sondern Menschen, die aktiv Gegensätze ausgleichen und Frieden stiften. Die Rede von Friedfertigkeit könnte purem Übersetzungskonventionalismus geschuldet sein. Sie scheint jedoch im gegebenen Kontext zumindest in gleichem Maße eine Vorliebe für eine Art Gesinnungspazifismus zu signalisieren.

In seinem Vorwort versichert der EKD-Vorsitzende, der Friede, den Gott nach christlicher Überzeugung schenke, bewege „Menschen dazu, Frieden zu stiften“ (S.7). Demnach geht es nicht um »pietistische«, sich auf Innerlichkeit zurückziehende und damit begnügende Gesinnung, sondern um Friedenshandeln einschließende. Inwiefern das noch als »gesinnungspazifistisch« deutbar ist, erschließt sich unmittelbar im Anschluss: Die christlichen Kirchen, so der Vorsitzende weiter, würden immer wieder neu um die Frage ringen: „Wieweit ist es im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus zu rechtfertigen, dem Frieden mit militärischer Gewalt den Weg zu bereiten?“ (ebd.) Die Frage ist aus der EKD-Perspektive also nicht, ob militärische Gewalt für Frieden (politisch-moralisch) gerechtfertigt werden kann, ja nicht einmal, ob das in christlich-religiöser Hinsicht – „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – möglich ist; das »Ob« im engeren emphatischen und damit auch im weiteren Sinn wird fraglos gestellt. Die Frage ist lediglich, „wieweit“ das so oder so möglich ist. Da aber die Anwendung von militärischer Gewalt vom Standpunkt der Ethik und Moral – und wohl erst recht „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – in sich hoch problematisch ist, läuft diese Rahmung augenscheinlich auf einen Gesinnungspazifismus des Typs »Hauptsache gut gemeint« hinaus, auf einen Gesinnungspazifismus also, der sich gerne als »Verantwortungspazifismus« versteht und anpreist.

Der beiläufige Anspruch, damit für »die« christlichen Kirchen zu sprechen, kann hier dahingestellt bleiben. Wichtiger ist die weitere Ausgestaltung der grundlegenden Rahmung unter Rückgriff auf die so genannte Friedensdenkschrift der EKD von 2007. Dort habe man, so der Vorsitzende, „das biblisch begründete friedensethische Leitbild des »gerechten Friedens« formuliert“. Ein solcher Friede aber bedürfe einer Rechtsordnung. „Um sie zu schaffen und zu bewahren“, betone „die Friedensdenkschrift die vorrangige Option der Gewaltfreiheit“; als »ultima ratio« aber halte sie „ein militärisches Eingreifen zur Erhaltung oder Aufrichtung einer Rechtsordnung für möglich“ (S.7f.). Mit der Einführung der Konzepte »Rechtsordnung« und »militärisches Eingreifen« und mit der Mittel-Ziel-Staffelung dieser Importe im Hinblick auf das biblische Leitbild, sozusagen als Unterbau eines gerechten Friedens, erhöht sich die Angleichung der Rahmenkonstruktion an den staatlichen Ansatz. Durch ein drittes Moment wird sie damit nahezu deckungsgleich.

Dieses Moment deutet der Ratsvorsitzende an, wenn er davon berichtet, wie er bei Gelegenheit einer Pastoralreise zum deutschen Einsatzkontingent nach Afghanistan „mit großem Respekt […] wahrgenommen“ habe, „dass die Soldatinnen und Soldaten sich der Zwiespältigkeit ihres Einsatzes bewusst waren“; einhellig hätten sie zum Ausdruck gebracht: „Militärischer Einsatz schafft keinen Frieden, sondern schafft Voraussetzungen dafür, dass Frieden sich entwickeln kann.“ (S.8) Implizit wird damit das Kongruenz- oder Kohärenzpostulat der Friedensdenkschrift angesprochen. Dem zufolge sollten „militärische Maßnahmen […] Bestandteil einer kohärenten Friedenspolitik unter dem Primat des Zivilen“ sein (EKD 2007, Ziff. 118). Das entspricht weitgehend dem politischen Konzept »vernetzte Sicherheit« (»comprehensive approach«; z.B. ZIF, o.J.) – wobei allerdings der „Primat des Zivilen“ im politischen Diskurs in der Regel nur verhalten gefordert wird.

Wie nun stellt sich bei dieser ausgesprochen staatstragenden Rahmensetzung die Bewährung des Leitbildes des gerechten Friedens im Einsatz (in Afghanistan) dar?

Friedensethisches Leitbild im Lichte des Afghanistan-Einsatzes

Bereits im Vorwort zu dem neuen Papier wird unterstellt, dass militärisches Eingreifen nicht nur als »rechtserhaltende Gewalt« rechtfertigungsfähig ist, sondern auch als Recht schaffende oder aufrichtende Gewalt. In der Stellungnahme wird dieser Gedanke näher ausgeführt: „Friedenskompatible Rechtsinstitutionen sind eine wesentliche Voraussetzung nachhaltigen Friedens. Um sie zu schaffen, kann es nötig sein, rechtsermöglichende Gewalt anzuwenden.“ Der „dabei vorausgesetzte Begriff des Rechts“ beziehe sich jedoch „nicht auf ein faktisch gegebenes Rechtssystem, sondern normativ auf die in den grundlegenden Menschenrechten und einer legitimen Völkerrechtsordnung konkretisierte Rechtsidee“ (S.12). Auch in der Friedensdenkschrift wird die Reichweite rechtfertigungsfähiger »rechtserhaltender Gewalt« unter Berufung auf die Menschenrechtesidee ähnlich extensiv ausgelegt (vgl. EKD 2007, Ziff. 88) – aber nicht so ausdrücklich und klar wie (vermutlich einsatzbezogen) an dieser Stelle. Und ebenso wie dort werden auch hier die bekannten Schwierigkeiten mit dem zugrundeliegenden Universalitäts- und vor allem mit dem Unteilbarkeitspostulat im Menschenrechtsdiskurs ausgeblendet (vgl. Hamm und Nuscheler 1995). Demnach ist schwer zu sagen, ob die friedensethische Konzeption der Denkschrift in diesem Punkt als einsatzbezogen bestätigt oder als in Frage gestellt anzusehen ist. Die eventuelle Ergänzung bzw. Korrektur wird jedenfalls nicht thematisiert, geschweige denn näher begründet.

Damit tritt ein Grundproblem der (Erörterung der) Bewährungsfrage zutage: Weder wird erläutert, wonach eigentlich gefragt wird, noch, woran Bewährung oder Nicht-Bewährung dingfest zu machen sein könnten. Der Ratsvorsitzende meint dessen ungeachtet, der Rat und die (federführende) Kammer (für Öffentliche Verantwortung) seien „der Überzeugung, dass das Leitbild des gerechten Friedens der Denkschrift und die sich aus ihm ergebenden Prinzipien und Kriterien schriftgemäße und sachgemäße Aussagen evangelischer Friedensethik sind“ (S.8f.). So heißt es denn abschließend auch in dem Papier selbst, das Leitbild des gerechten Friedens bewähre sich „mit Blick auf eine friedenspolitische Bewertung der Situation in Afghanistan“ (S.49). Wie aber sieht es beim Vergleich von normativen Vorstellungen und einschlägiger Einsatzrealität im Einzelnen aus?

Die Ausführungen zu Legitimität und Legalität der militärischen Intervention in Afghanistan in Kapitel 2 des Papiers wirken bereits bei flüchtiger Durchsicht ausgesprochen affirmativ. Das ändert sich nur wenig bei genauerem Hinsehen. So geht man eigentümlich salopp über die Frage hinweg, wie es mit der Erfüllung der allgemeinen, von der Denkschrift der Bellum-iustum-Lehre entlehnten Kriterien »rechtserhaltender Gewalt« (Erlaubnisgrund, Autorisierung, rechte Absicht … – EKD, 2007, Ziff. 102) steht. Mit der Bescheidung, „um […] aussagekräftig zu sein, bedürfen diese allgemeinen Kriterien einer ersten Konkretisierung im Blick auf unterschiedliche Situationstypen“ (S.12), wird statuiert: „Für die Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan […] sind die Prüfkriterien heranzuziehen, die in der »Friedensdenkschrift« […] für »internationale bewaffnete Friedensmissionen« formuliert worden sind (Ziffern 117-123).“ (S.15) Nun stellen aber die an dieser Stelle konkretisierend formulierten Kriterien erkennbar nur eine Schnittmenge des allgemeinen Kriteriensatzes dar. Was also ist aus den allgemeinen, nicht konkretisierend erfassten Prüfkriterien geworden?

Bei der Prominenz des Ultima-ratio-Aspekts bereits in der Rahmenkonzeption (s.o.) hätte sich die EKD-Kammer zumindest mit der Frage der Erfüllung dieses Kriteriums gründlich auseinandersetzen müssen. Doch Fehlanzeige! Immerhin wird nach Einordnung des Beginns der Afghanistan-Kriegs mit der US-Operation »Enduring Freedom« als Fall von (kollektiver) Selbstverteidigung das allgemeine Kriterium »Erlaubnisgrund« eingehender diskutiert (S.13). Bei dieser kaum weniger fundamentalen Frage folgt man kritiklos der Auffassung der USA und ihrer Verbündeten und deren Interpretation der relevanten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats (Res. 1368 vom 12.09.2001 und Res. 1373 vom 28.09.2001). Dass diese Auffassung völkerrechtlich sehr umstritten ist und zahlreiche renommierte Juristen den USA die Führung eines Angriffskrieges vorwerfen (z.B. Boyle 2001; Deiseroth 2009; Paech 2002), wird ignoriert. Dem Gremium scheint auch nicht der gut bezeugte Sachverhalt zur Kenntnis gekommen zu sein, dass der Angriffsplan der USA gegen Afghanistan bereits mehrere Wochen vor dem 11. September, Mitte Juli 2001, vorlag und demzufolge der Angriff Mitte Oktober stattfinden sollte (Arney 2001; vgl. Meacher 2003).

Ein besonderes Erklärungsformat, eine Art argumentatives Patt, führt die Kammer (erstmals) bei Erörterung der Legitimation der extremen zeitlichen Ausdehnung des Selbstverteidigungsanspruchs der USA vor: Ein Teil des Gremiums sieht unter Berufung auf die Friedensdenkschrift „den Legitimationstitel der Selbstverteidigung schon 2001 nach der Entmachtung des Talibanregimes und der Zerschlagung der Stellungen von Al Qaida in Afghanistan erschöpft“. Der andere Teil dagegen glaubt, es sei „über das in der Friedensdenkschrift ausdrücklich Gesagte hinaus“ anzuerkennen, „dass ein militärisches Engagement über längere Zeit hinaus erforderlich sein könne, um einen Rückfall in eine unmittelbare Bedrohungssituation zu verhindern“ (S.14f.).

Mit der zunehmenden Entwicklung »kriegsähnlicher Zustände«, die als solche in der hiesigen Öffentlichkeit erst ab dem September-Desaster am Kundusfluss 2009 breiter realisiert wurde, war die Kammer auch herausgefordert, sich eingehender mit einer in der Friedensdenkschrift eher vernachlässigten Frage auseinanderzusetzen. Man kann sie als Frage nach der Bedeutung des Verhältnisses von »ius in bello« und »ius ad bellum« für die moralische Qualität (des Handelns) der militärischen Akteure kennzeichnen. Die Brisanz dieser Frage resultiert aus der zunehmenden Verknüpfung der UN-mandatierten ISAF-Stabilisierungsmission mit dem US-erklärten »war on terror«, insbesondere aus dem verstärkten Rückgriff der US-Streitkräfte auf »verdeckte Operationen«, auf die gezielte Tötung Aufständischer und Terrorismusverdächtiger und auf Angriffe mit »Kampfdrohnen«.

Die Frage wird breit, aber analytisch eher oberflächlich und letztlich ergebnislos diskutiert: In der Kammer blieb (abermals) strittig, ob bei der ursprünglichen Interventionsentscheidung unvorhergesehene und ungewollte Gewaltmaßnahmen im Gefolge seinerzeit nicht erkennbarer Faktoren „ihre Legitimität aus der ursprünglichen Interventionsentscheidung erhalten“ oder ob „die Legitimität der Fortsetzung einer Intervention situativ immer wieder sorgfältig überprüft und unter Umständen revidiert werden muss“ (S.17). Einigen konnte man sich offensichtlich auf den wohlgemeinten Appell, „von vornherein“ müsse „die Grundentscheidung zur militärischen Intervention mit größter Sorgfalt Unvorhergesehenes einkalkulieren“ und es müssten „Ausstiegsszenarien mit bedacht werden“ (S.17f.).

Entsprechende argumentative Patts dokumentiert das EKD-Papier auch bei den untergeordneten Fragen zur Bedeutung der Bündnissolidarität gegenüber friedensethischen und rechtlichen Bindungen (S.18) sowie zur Bewertung der „Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Akteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“ (S.22).

Beim kurzen Blick auf das dritte zentrale Element der Rahmenkonzeption, zivil-militärische Zusammenarbeit „unter dem Primat des Zivilen“ (s.o.), überlässt man es nicht näher identifizierten „zivile[n] Akteure[n]“, darin eine „Instrumentalisierung ziviler, politischer und entwicklungspolitischer Maßnahmen für eine Kriegführung »niedriger Intensität«“ zu befürchten. Man konstatiert lediglich kontrafaktisch – für den Fall, dass dem so wäre: „Dies würde die in der Denkschrift für bewaffnete Friedenserzwingungsmissionen formulierten Grenzen überschreiten, […]“ (S.21). Abschließend zeigt man sich diesbezüglich überzeugt, dass insbesondere „das Verhältnis von militärischen und zivilen Anteilen […] einer genaueren Abstimmung bedurft hätte“ (S.49).

In Sachen Drohnenkrieg wird auf jede Positionierung verzichtet; stattdessen die so wohlfeil wie hilflos wirkende Forderung nach „breite[r] öffentliche[r] Diskussion mit dem Ziel einer völkerrechtlich verbindlichen Normierung“ (S.24). Und was die so genannten Kollateralschäden betrifft, die unbeteiligten Opfer von Kampfhandlungen, so scheint man voll und ganz damit zufrieden, dass „die Gewaltanwendung nach ISAF- Regularien nur zulässig“ sein soll, „wenn sie der Notwehr und Nothilfe dient und die Gefahr für Leib und Leben der Soldaten nicht anders abgewehrt werden kann“ (S.24f.).

So weit zur »Bewährung« des Leitbilds des gerechten Friedens im Afghanistan-Einsatz anhand ausgewählter Detail-Fragen.

Resümee und Ausblick

Die Bilanz muss nach dem vorausgehenden Durchgang anders ausfallen, als es der Ratsvorsitzende und auch die Kammer selbst zusammenfassend nahelegen (s.o). Deren positives Gesamturteil wird den Detail-Befunden nicht gerecht. Im Übrigen ist in der »Schlussbemerkung« ein fünftes und letztes argumentatives Patt dokumentiert, das mit dem vorausgeschickten positiven Gesamturteil schwer vereinbar erscheint: Ein Teil der Kammer „sieht durch die Situation in Afghanistan die Prinzipien und Kriterien der Friedensdenkschrift bestätigt und bewertet die friedensethische Legitimität des Einsatzes trotz gegebener völkerrechtlicher Mandatierung sehr kritisch“ (S.49). Ein anderer Teil „betont die Legitimität des Einsatzes unter dem Gesichtspunkt, dass die ursprüngliche Interventionsentscheidung durch nicht erkennbare Faktoren und Entwicklungen im laufenden Einsatz zu zuvor unvorhergesehenen und ungewollten Gewaltmaßnahmen gezwungen habe. […] Es sei geboten, nicht die Prinzipien, wohl aber die auf einzelne Handlungssituationen bezogenen Kriterien der Friedensdenkschrift weiterzuentwickeln.“ (S.50) Etwas zugespitzt also: Die einen kritisieren die Entwicklung im Lichte der normativen Vorgaben, die anderen möchten diese Vorgaben im Lichte der Entwicklung korrigiert bzw. »weiterentwickelt« sehen.

Die diskursiven Patts in dem EKD-Papier werden jedoch vom Ratsvorsitzenden bereits im Vorwort als „argumentative Gabelungen“ angekündigt und positiv als „differenzierter Konsens“ gewürdigt, in dem sich der „prozessuale Charakter evangelischer Ethik prägnant“ ausdrücke (S.9). Ähnlich sieht der Vorsitzende der Kammer, Hans-Jürgen Papier, an diesen Stellen „eine sozusagen klassische Alternative evangelischer Ethik“ wiedergegeben (Papier 2014). Diese Deutung einer augenscheinlichen Schwäche als Stärke wirkt befremdlich. Ein Durchhalten der ethischen Perspektive dürfte jedenfalls an den besagten »argumentativen Gabelungen« oder »Weichen« in besonderer Weise gefährdet sein durch individuelle, soziale und politische Voreingenommenheiten. Zu erfahren, welche Kammer-Mitglieder sich jeweils wie positionierten, hätte diesbezüglich sehr aufschlussreich und diskursförderlich sein können,

Doch auch wo kein interner Dissens hervortritt, scheint die Detail-Befundung zumindest nicht durchgehend ergebnisoffen aufgenommen und durchgeführt worden zu sein. Gegen eine ergebnisoffene Bewährungsprüfung spricht die Vernachlässigung substanzieller Komponenten der normativen Bezugskonzeption, insbesondere von so grundlegenden Prüfkriterien wie dem Ultima-ratio-Kriterium. Dagegen spricht auch die partiell selektive und voreingenommene Verarbeitung einsatzbezogener Sachinformation, insbesondere zum Selbstverteidigungsspruch der USA (und ihrer Verbündeten) – und wohl auch das umstandslos extensive Verständnis von »rechtserhaltender Gewalt«.

Interessanterweise war man sich einig bei der zweiten, eingangs nur kurz erwähnten Leitfrage der Stellungnahme, bei der Frage der Anspruchsangemessenheit des Afghanistan-Einsatzes. So heißt es im Vorwort: „[…] übereinstimmend urteilen Kammer und Rat mit großer Skepsis in der Frage, ob die in Afghanistan eingesetzten militärischen Mittel dem politischen Ziel des Einsatzes angemessen waren und sind“ (S.9). Und in der Schlussbemerkung heißt es: „Im Blick auf den Afghanistan-Einsatz stellt sich allerdings die ernste Frage, ob nicht die militärischen Mittel eine Eigendynamik entwickelt haben, die dazu führte, dass das Leitbild des »gerechten Friedens« aus dem Zentrum des Handelns herausgerückt ist.“ (S.49) Dieses Urteil „mit großer Skepsis“ ist am Zielgehalt gerechten Friedens gemäß der Friedensdenkschrift orientiert: Schutz vor Gewalt, Förderung der Freiheit, Abbau von Not und Anerkennung kultureller Verschiedenheit (EKD 2007, Ziff. 80-84), statt an der Frage der Rechtfertigungsfähigkeit der militärischen Mittel. Die unübersehbare Übereinstimmungs-Diskrepanz – ganz abgesehen von den Informationsvermeidungs- und Rationalisierungstendenzen bei den Gewaltrechtfertigungsfragen – dürfte ein deutlicher Indikator dafür sein, dass mit der friedensethischen Leitidee des »gerechten Friedens«, anders als vielfach verkündet, der Gegensatz von Bellizismus und Pazifismus keineswegs überwunden ist und dass das bellizistische Urteilsinstrumentarium selbst in den Händen von Leuten versagt, die die fragliche Rahmenkonzeption teilen.

Weder die im Lichte der Leitidee desillusionierenden Ergebnisse des Afghanistan-Einsatzes noch die massiven Probleme der Gewaltrechtfertigungsdebatte sind für die Kammer erkennbar Anlass, die Rahmenkonzeption in Frage zu stellen; der quasi-religiöse Glaube an »gute Gewalt« ist wohl nicht falsifizierbar. Im Gegenteil bestätigt z.B. der Kammervorsitzende genau diese Rahmenkonzeption, wenn er zusammenfassend „vom Leitbild des »gerechten Friedens« her […]. aus dem Afghanistan-Einsatz einige grundsätzliche Anforderungen an humanitäre Interventionen“ glaubt ableiten zu können (Papier 2014). Doch damit weist die (groß-) kirchliche Friedensethik keinen Ausweg aus der Militärgewaltfalle, sondern verstrickt sich letztlich nur tiefer in die Logik der Gewalt – wie »gut gemeint« und als »ultima ratio« eingeschränkt das auch daherkommen mag (vgl. Enns 2013).

Literatur

George Arney (2001): US planned attack on Taleban. BBC, 18.09.2001.

Francis Boyle (2001): Dieser Krieg ist illegal. Interview mit Spiegel Online, 31.10.2001.

Dieter Deiseroth (2009): Deutschlands »Kampfeinsatz« – Jenseits des Rechts. Frankfurter Rundschau, 26.11.2009.

Fernando Enns (2013): Responsibility to Protect – Das ethische Dilemma der Gewaltanwendung. Friedens-Forum, 26(5), S.30-31.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2013/14): „Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD. Hannover: Kirchenamt der EKD.

Brigitte Hammund und Franz Nuscheler (1995): Zur Universalität der Menschenrechte. Institut für Entwicklung und Frieden, INEF-Report 11/95.

Michael Meacher (2003): This war on terrorism is bogus. The 9/11 attacks gave the US an ideal pretext to use force to secure its global domination. The Guardian, 06.09.2003.

Norman Paech (2001): Afghanistan-Krieg, Bundeswehreinsatz und Völkerrecht. Ein Gutachten zum Antrag der Bundesregierung. 12.11.2001.

Hans-Jürgen Papier (2014): Statement auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Textes »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik«.

Zentrum für Internationale Friedenseinsätze/ZIF (o.J.): Vernetzte Sicherheit/Comprehensive Approach.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie i.R., Mitglied des Beirats von W&F und u.a. bei Pax Christi engagiert.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/2 Gewalt(tät)ige Entwicklung, Seite 49–52