W&F 1999/2

Helfen statt bomben

Lehren aus der Geschichte

von Heiko Kauffmann

Sechs Wochen nach Beginn des Krieges um den Kosovo ist das vorgegebene Ziel der NATO und der EU-Staaten, durch Bombardements, durch einen Luftkrieg eine »humanitäre Katastrophe« zu verhindern, in weite Ferne gerückt.

Die Welt wird Zeugin einer systematischen Vertreibungsaktion ungeheuren Ausmaßes und täglicher Bombardements, die längst nicht mehr nur auf militärische Ziele beschränkt bleiben und die täglich mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung und auch unter den Flüchtlingen fordern.

Nach über 6 Wochen Krieg zeigt sich das Desaster des NATO-Militäreinsatzes: Wenn die Eskalationsspirale nicht endlich unterbrochen wird, wird sie dazu führen, dass in kürzester Zeit der ganze Kosovo frei von AlbanerInnen sein wird, während Serbien und die SerbInnen ohne Ende „erbarmungslos“ – wie Clinton bei seinen Besuch in Deutschland sagte – weiter bombardiert werden.

Jeder Krieg ist ein Versagen der Politik; aber noch jede Kriegspartei hat ihr Handeln gerechtfertigt mit der »gerechten Sache«, mit der »humanitären Mission«, mit dem »gerechten Krieg« gegen einen dämonisierten Gegner.

Wenn die NATO-Staaten diesen Krieg begonnen haben um die Verbrechen des Milosevic-Regimes – Massaker, systematische Vertreibung und Menschenrechtsverletzungen – zu stoppen, dann haben sie dieses Ziel ganz offensichtlich aus den Augen verloren: Die Menschen, die ge- und beschützt werden sollten, sind vertrieben; die von den Bombenangriffen verschont werden sollten, haben von Tag zu Tag mehr Opfer zu beklagen.

Selbst die Vertreter der Kriegführung, die sagen, sie hätten – um Gewalt gegen Menschen abzuwenden – ihrem Gewissen folgen müssen, haben das strikte Gebot, die eingesetzten Mittel permanent mit ihren vorgeblich menschenrechtlichen Zielen abzugleichen, beim Krieg der NATO im Kosovo und in Restjugoslawien aus den Augen verloren.

Nicht mehr vom „Schutz der Zivilbevölkerung und der Flüchtlinge“ ist die Rede, sondern von der „Verteidigung unserer Werte und Interessen“. Aber was sind das für Interessen der reichen zivilisierten Länder des Westens, die das Völkerrecht aushebeln und Verfassungsgebote missachten, die die tragenden Säulen der europäischen Friedensordnung, den KSZE-Prozess und den europäischen Einigungsprozess zertrümmern? Wohin führt eine Strategie, die die UN beiseite schiebt und als schwach und untauglich desavouiert, die die OSZE und ihre „europäischen Ansätze zur Streitbeilegung im Kosovo an die Wand geschmissen hat“ (so Willy Wimmer, CDU, Vizepräsident der Parlamentarier-Versammlung der OSZE) und unter der das mühsam erbaute Rechtsdach der Vereinten Nationen einzustürzen droht?

Vor 2.000 Jahren, als noch das Faustrecht herrschte und der jeweils Stärkere anderen Staaten seinen bewaffneten Frieden diktierte, lernte man von Vertretern der römischen Hegemonialmacht den Satz: „Si vis pacem, para bellum“ – „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!“

Am 8. Mai 1999, in der Erinnerung an das Ende des 2. Weltkrieges, am Tag der Befreiung – nach den Erfahrungen unendlicher Schrecken und unbeschreiblichen Leids durch Rassenwahn, Terror, Nationalismus und Krieg – kann und darf dieser Satz nur noch lauten: „Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten.“

Die Lehren des 2. Weltkrieges, der nationalsozialistischen Herrschaft und die Lehren von Auschwitz haben 1945 zur Gründung der Vereinten Nationen geführt, um ein für allemal ein ziviles Instrument zu schaffen, damit sich die Greuel und Verbrechen von Auschwitz und des Weltkrieges niemals wiederholen.

Die UN (Ihre Präambel beginnt mit den Worten „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, festentschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat…“) und die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen waren und sind – genau wie alle anderen großen Menschenrechtskonventionen der Nachkriegszeit – eine Antwort auf das Grauen und die Barbarei dieses Jahrhunderts; sie sind der Versuch, einen Rückfall unmöglich zu machen, das Ungeheuerliche bewusst zu halten und Instrumente und Bedingungen zu schaffen, Europa und allen Staaten der Welt einen verbindlichen Rechtsrahmen und gegenseitig akzeptierte Regeln zur Lösung von Konflikten, zur Erhaltung des Friedens und zur Wahrung der Menschenrechte zu geben.

1951 wurde die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet, 1966 die beiden großen Menschenrechtspakte. In Deutschland stand das unveräußerliche Grundrecht auf Asyl am unmittelbarsten für die Verpflichtung der Nachkriegspolitik, aus den nationalsozialistischen Verbrechen Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Es war der Wille der Verfassungseltern, aus eigenen Erfahrungen neue Maßstäbe internationaler Humanität zu entwickeln. Durch eine großzügige Asylgewährung sollte ein umfassender Schutz für Flüchtlinge und verfolgte Minderheiten begründet werden.

Vor dem Hintergrund dieses Vermächtnisses erleben wir heute ein beschämendes und erbärmliches Schauspiel bei der humanitären Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Kosovo, ein elendes Geschachere und Feilschen um Zahlen, Kontingente, Lastenverteilung und Einreisemodalitäten.

Wem keine Waffe zu viel und keine Bombe zu teuer ist, um »Humanität« und »Menschenrechte« durchzusetzen – diese sind die am stärksten strapazierten Begriffe der vergangenen Wochen – der muss angesichts der Dimension der Vertreibung, der hoffnungslos überfüllten Flüchtlingslager und der Überforderung der angrenzenden Länder Albanien und Mazedonien alles tun, unverzüglich und unbürokratisch so viele Menschen wie nur irgend möglich bei uns in Sicherheit zu bringen.

Aber die Zweifel an der humanitären Aufnahmebereitschaft der Politik wie auch an dem vorgeblich »humanitären« NATO-Einsatz verstärken sich, wenn man die Kette von Unterlassungen, Versäumnissen und nichtbeachteten Warnungen bei dieser durchaus vorhersehbaren Katastrophe mit einbezieht.

Die Eskalation des Konfliktes im Kosovo und die prekäre Lage der Flüchtlinge sind auch das Ergebnis einer unendlichen Folge von Fehleinschätzungen der deutschen und europäischen Politik.

Wegschauen, verdrängen und »abschieben« war jahrelang das Motto deutscher Kosovo-Politik, deren oberste Maxime in der Verhinderung der Aufnahme von Flüchtlingen bestand.

Jahrelang bekamen Flüchtlinge aus dem Kosovo von der Politik, vom Bundesamt, von den deutschen Behörden und Gerichten zu hören, dass ihr Flüchtlingsschicksal nicht ausreiche, dass der Verfolgungsdruck nicht groß genug sei um in Deutschland Asyl und Abschiebungsschutz zu erhalten.

Noch im März 1999 hielten sich Bundesamt und Gerichte in ihren ablehnenden Bescheiden an die entsprechenden Vorgaben des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes.

Bundesaußenminister Joseph Fischer und Staatsminister Ludger Volmer haben den Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Bundesrepublik Jugoslawien in diesen Tagen offiziell aus dem Verkehr gezogen – mit der Begründung, das Papier habe keinesfalls der empirischen Wahrheit im Kosovo entsprochen, sondern sei aus innenpolitischen Gründen verfasst worden. Ganz offensichtlich trifft also die Einschätzung von PRO ASYL zu, die jahrelang abgestritten wurde: dass die Lageberichte von diplomatischer Rücksichtnahme gegenüber den Regierungen der Herkunftsländer bestimmt sind, dass sie die Menschenrechtssituation eher verharmlosen und beschönigen und dass sie daher nicht als seriöse Erkenntnisquelle im Rahmen eines Asylverfahrens gewertet werden dürfen.

Wenn diese Einsicht dämmert – nach wie vielen tödlichen Fehleinschätzungen der Abweisung, der Zurückweisung und Abschiebung von Kosovo-Albanerinnen und Albanern, von Deserteuren der serbischen Armee, von Angehörigen der Roma und anderer ethnischer Minderheiten aus der Bundesrepublik Jugoslawien in den vergangenen Jahren?! – dann, Herr Bundesaußenminister Fischer, ziehen Sie sofort die Lageberichte zur Türkei, zu Algerien, zu Afghanistan und vielen anderen Ländern zurück. Denn: Keine deutsche Regierung, kein Innenminister, keine Behörde darf durch Abschiebungen an menschenrechtswidrigen Maßnahmen anderer Staaten mitwirken. Nicht nur der Staat, der foltert, sondern auch der Staat, der Flüchtlinge Folterern überantwortet, verletzt die Menschenrechte!

Nach 6 Wochen Krieg ist eines deutlich geworden: Krieg und Bomben sind nicht das richtige Mittel um den Menschen im Kosovo zu helfen. Über Krieg und Bombardements führt kein Weg zum Frieden und zu den Menschenrechten. Auch ein Krieg, der im Namen der »Humanität« oder zur »Verteidigung unserer Werte« geführt wird, zerstört und wirkt vorweg zerstörerisch auf das, was als Politik nachfolgt.

Die Politik darf das spontane und solidarische Engagement der Menschen für die Flüchtlinge und die Opfer des Krieges nicht länger ausbremsen. Die weitere großzügige Aufnahme der Flüchtlinge aus dem Kosovo, der politisch und ethnisch Verfolgten, der Familienangehörigen, die Aufnahme der Kriegsdienstverweigerer und der Deserteure aus der jugoslawischen Armee, die Aufnahme der Angehörigen der Volksgruppe der Roma ebenso wie der anderen ethnischen Minderheiten aus der Bundesrepublik Jugoslawien ist ein Gebot der Menschlichkeit und eine Verpflichtung der Politik. Für ein Ende der Gewalt im Kosovo und ein Ende der Bombardements!

Heiko Kauffmann ist Bundessprecher von Pro Asyl. Der Beitrag basiert auf seiner Rede am 08.05.1999 auf der Abschlusskundgebung der Berliner Friedensdemonstration.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/2 Wieder im Krieg, Seite