W&F 2006/4

Helfer in Uniform?

Militäreinsätze in der humanitären Hilfe

von Peter Runge

Im Juli 2006 ordnete Verteidigungsminister Franz-Josef Jung an, dass sich die deutschen Soldaten in Afghanistan nur noch in gepanzerten Fahrzeugen bewegen dürfen. Hintergrund dieses Befehls ist die dramatische Verschlechterung der dortigen Sicherheitslage. Noch nie seit der Einsetzung der »International Security Assistance Force« (ISAF) durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Ende 2001 sind so viele Menschen in Afghanistan Terrorangriffen zum Opfer gefallen: Mehr als 1.700 Menschen, darunter auch 60 ausländische Soldaten, wurden seit Beginn des Jahres 2006 getötet.1 Auch die Bundeswehrsoldaten in Kabul und in Nordafghanistan sind zunehmend zur Zielscheibe von Sprengstoff- und Raketenanschlägen geworden. Im Juli 2006 meldete die Bundeswehr, dass im laufenden Jahr bereits mehr Attentate auf die deutschen ISAF-Truppen verübt worden seien als im ganzen Jahr 2005. Interne Lageberichte sprechen von einer „neuen Qualität der Gefährdung“2 für die Bundeswehr im Norden Afghanistans, der bisher als friedlich galt. Auch die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen sind in den Sog der zunehmenden Gewalt geraten. Offensichtlich werden sie von den Taliban und anderen terroristischen Gruppierungen als Teil der westlichen Interventionsstrategie wahrgenommen. Im Jahr 2005 wurden 31 Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen ermordet; 2004 waren es 24, darunter fünf Helfer von Médecins sans Frontières (MSF). Die Organisation beschloss darauf hin, alle Hilfsmaßnahmen in Afghanistan einzustellen, und verwies auf eine zunehmende Instrumentalisierung der humanitären Hilfe durch die von den USA geführte Koalition in Afghanistan. Amerikanische Streitkräfte hatten im Südosten des Landes Flugblätter verteilt, in denen die Bevölkerung zur Kooperation im Antiterrorkampf aufgefordert wurde. Im Gegenzug wurden weitere Nahrungsmittelpakete in Aussicht gestellt, im Falle der Nichtkooperation die Einstellung der Hilfslieferungen angedroht. Kaum ein Beispiel könnte die Instrumentalisierung der humanitären Hilfe besser illustrieren als dieser Versuch, humanitäre Hilfe in militärisch-strategische Überlegungen einzubetten.

Die jüngsten Angriffe auf die Mitarbeiter/innen von humanitären Hilfsorganisationen in Afghanistan zeigen, dass die Grenzen zwischen militärischen und humanitären Akteuren zunehmend verwischt werden. Die deutschen Hilfsorganisationen haben sich klar gegen eine Vermischung von humanitärer Hilfe und militärischen Zielsetzungen in Afghanistan ausgesprochen.3 Welche Gründe haben die humanitären Hilfsorganisationen dafür? Wie sind die bisherigen Erfahrungen deutscher Nichtregierungsorganisationen (NRO) in der Zusammenarbeit mit der Bundeswehr?

Grundlagen der humanitären Hilfe

Humanitäre Hilfe richtet sich an die Opfer von Krisen und Katastrophen und hat zum Ziel, Leben zu retten und menschliches Leid zu mildern. Sie wird unabhängig von der ethnischen, religiösen und politischen Zugehörigkeit der Opfer geleistet. Humanitäre Hilfe wird seit jeher von zivilen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen geleistet, die nach ihrem Selbstverständnis und Rechtsstatus eigenständig und politisch unabhängig handeln und allein den humanitären Prinzipien und dem humanitären Völkerrecht verpflichtet sind. Die normativen Grundlagen in der humanitären Hilfe beruhen in erster Linie auf den Genfer Konventionen von 1949, den Zusatzprotokollen von 1977, dem Völkergewohnheitsrecht sowie auf den Grundsätzen, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im Rahmen ihrer bald 150jährigen Geschichte erarbeitet haben. Der »Verhaltenskodex für die Internationale Bewegung vom Roten Kreuz und Roten Halbmond und nichtstaatliche Hilfswerke in der Katastrophenhilfe«, der von mehr als 300 Hilfsorganisationen unterzeichnet wurde, definiert zehn Grundprinzipien für das Verhalten von Hilfsorganisationen und ihres Personals als Qualitäts- und Leistungsstandards in der humanitären Hilfe. Im Zentrum dieser humanitären Prinzipien stehen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Hilfe.

Zivil-militärische Zusammenarbeit

Verschiedene sicherheitspolitische Dokumente, von den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« aus dem Jahr 2003, über die Europäische Sicherheitsstrategie (Solana-Doktrin) bis hin zum Entwurf für das Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und der Zukunft der Bundeswehr, zeigen, dass der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee („Armee im Einsatz“) in vollem Gange ist und zukünftig die Reaktion auf internationale Konflikte, asymmetrische Bedrohungen, Terrorismus und Massenvernichtungswaffen im Mittelpunkt deutscher Sicherheitsfragen stehen. Die Ausdehnung des Mandats der Bundeswehr kulminierte in der Aussage des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, dass die Sicherheit der Bundesrepublik auch am Hindukusch verteidigt werde.4

In der Öffentlichkeit wird die Umstrukturierung der Bundeswehr auch mit neuen Anforderungen im Bereich der Krisenbewältigung und der humanitären Hilfe legitimiert. Dementsprechend ist auch der Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit ausgebaut worden. So hat die Bundeswehr ein eigenes »Civil-Military Cooperation« (CIMIC)-Konzept entwickelt, das die Zusammenarbeit militärischer Dienststellen mit zivilen Behörden, Institutionen und Einrichtungen beschreibt und in dessen Aufgabenspektrum nach militärischem Verständnis auch die humanitäre Hilfe fällt. Hauptzweck von CIMIC ist die »force protection«: die Unterstützung der Truppe durch vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber der lokalen Bevölkerung. Zu diesen einsatzbegleitenden Maßnahmen der Streitkräfte können auch unmittelbare Hilfeleistungen an die Bevölkerung, zum Beispiel die Reparatur von Schulen oder Krankenhäusern oder das Verteilen von Schulheften oder Nahrungsmitteln, gehören. Aus Sicht der Streitkräfte sind solche »hearts and minds«-Aktivitäten ein probates Mittel, um die eigene Sicherheit zu erhöhen. Nach seinem letzten Besuch in Nordafghanistan im Juli 2006 sagte Verteidigungsminister Jung, dass man der Bevölkerung in Afghanistan „verdeutlichen müsse, dass die deutschen Soldaten Gutes täten, dann ließen auch die Terroranschläge nach.“5

Für die deutsche Diskussion über zivil-militärische Zusammenarbeit sind die 2004 eingerichteten »Provincial Reconstruction Teams« (PRTs) in Afghanistan besonders relevant. Nach dem Konzept der Bundesregierung sollen nach dem Motto „Keine Entwicklung ohne Sicherheit“ rund 500 Bundeswehrsoldaten in den nordafghanischen Städten Kunduz und Faizabad den Wiederaufbau, den Demokratisierungsprozess und die Autorität der Zentralregierung in Kabul sichern helfen. Auch die zivilen Akteure sollten ursprünglich in die Bemühungen um den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau eingebunden werden. Bei den deutschen Hilfsorganisationen ist dieses Konzept auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zwar wird von der Bundesregierung der „erfolgreich praktizierte zivil-militärische Ansatz der regionalen Wiederaufbauteams“6 hervorgehoben, aber in der Praxis der Zusammenarbeit hat sich eine sichtbare – auch räumliche – Trennung der entwicklungs- und sicherheitspolitischen Komponenten durchgesetzt. Eine Auswertung der Erfahrungen aus der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Rahmen der deutschen PRTs steht jedoch noch aus.

Verschiedene Akteure haben bereits Versuche unternommen, die Möglichkeiten und Grenzen zivil-militärischer Zusammenarbeit – auf der Grundlage der humanitären Prinzipien – in Form von Richtlinien zu beschreiben. Die wichtigsten sind die vom »Office for the Coordination of Humanitarian Affairs« (OCHA) der Vereinten Nationen (VN) veröffentlichten »Oslo Guidelines«, die die zivil-militärische Zusammenarbeit in Naturkatastrophen und politischen Konflikten beschreibt. Die »Oslo Guidelines« unterstreichen, dass militärische Aktivitäten grundsätzlich nicht mit VN-Aktivitäten in der humanitären Hilfe vermischt werden sollen. Darüber hinaus soll sich das Militär – falls es im Bereich der humanitären Hilfe eingesetzt wird – so schnell wie möglich wieder aus diesem Bereich zurückziehen. Das Problem der »Oslo Guidelines« ist die mangelnde Umsetzung: Da die Richtlinien nicht-bindend sind und sich die Streitkräfte in der Regel auf ihren politischen Auftrag berufen, ist ihre Wirkung begrenzt.

Instrumentalisierung der humanitären Hilfe

Humanitäre Hilfe ist Hilfe für die Opfer von Krisen und Katastrophen, kein Hilfsmittel für Regierungen zur Legitimation ihrer Außenpolitik. Der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck begründete im Jahr 2003 die Ausweitung des Bundeswehrmandats in Afghanistan auf Kunduz auch damit, dass Hilfsorganisationen geschützt werden müssten. Aus Sicht der Hilfsorganisationen ist ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie die Verankerung in der lokalen Bevölkerung der beste Schutz. Doch der Ruf aus der Politik nach militärischem Schutz wird lauter, seitdem die humanitären Helfer zunehmend zur Zielscheibe von Anschlägen werden. Hilfsorganisationen haben die Erfahrung gemacht, dass verstärkte militärische Präsenz nicht unbedingt mehr Sicherheit bringt. Aus Sicht von Hilfsorganisationen unterliegen Streitkräfte immer einem politischen Auftrag, verfolgen militärische Ziele und werden daher von den Konfliktparteien auch nicht als unparteiisch wahrgenommen. Wo Soldaten aus politisch-militärischen Gründen als Helfer auftreten, werden auch schnell den zivilen Helfern politisch-militärische Interessen unterstellt.

Die Anschläge auf die Vereinten Nationen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere Hilfsorganisationen in Afghanistan haben dazu geführt, dass die Helfer inzwischen ihre Zugehörigkeit zu einer Hilfsorganisation aus Sicherheitsgründen verbergen. Sie haben ihre Aufkleber von den Fahrzeugen entfernt und tragen nicht mehr die T-Shirts mit dem Logo ihrer Organisation. Je mehr die Helfer sich unter den Schutz von Streitkräften begeben und damit „im Windschatten militärischer Interventionen“7 agieren, desto eher werden sie von den Feinden dieser Intervention bedroht. In ihrem Einsatz für die Opfer von Krisen und Katastrophen müssen die Hilfsorganisationen die Unabhängigkeit der humanitären Hilfe immer wieder behaupten und gegen eine politische Instrumentalisierung verteidigen.

Fazit

Hilfsorganisationen und Streitkräfte haben unterschiedliche Mandate. Die Erfahrungen der deutschen Hilfsorganisationen in Afghanistan, aber auch in anderen Ländern wie Somalia, Bosnien oder Kosovo, haben gezeigt, dass die Verknüpfung von militärischen Zielen und humanitärer Hilfe, insbesondere in bewaffneten Konflikten, sehr problematisch ist.8 Streitkräfte sind für die Sicherheit zuständig, zivile Akteure für Programme der humanitären Hilfe, des Wiederaufbaus und der Entwicklungszusammenarbeit. Hilfsorganisationen und Streitkräfte sollten sich komplementär auf die Aufgaben konzentrieren, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Zusammengefasst lassen sich die Erfahrungen der Hilfsorganisationen folgendermaßen auf den Punkt bringen: Das Militär kann bei Naturkatastrophen zwar subsidiär humanitäre Hilfeleistungen erbringen oder logistische Unterstützung leisten, wenn aufgrund des Umfangs oder der besonderen Umstände der Katastrophe zivile Hilfsorganisationen nicht allein oder schnell genug Hilfsmaßnahmen auf den Weg bringen können, wie bei der Tsunami-Katastrophe Ende 2004. Streitkräfte sollten aber auf keinen Fall in politischen Krisenregionen im Bereich der humanitären Hilfe tätig werden, in denen ein militärischer Auftrag den Prinzipien humanitären Handelns explizit entgegensteht.

Um die Debatte über Militäreinsätze in der humanitären Hilfe zu versachlichen, ist es aus Sicht der Hilfsorganisationen dringend erforderlich, die CIMIC-Aktivitäten der Bundeswehr unabhängig zu evaluieren. Eine Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes könnte der Auftakt sein.

Anmerkungen

1) Bewährungsprobe für die NATO, Frankfurter Rundschau, 1.8.2006.

2) Deutsche als Zielscheibe, Der Spiegel, 3.7.2006.

3) VENRO: Bewaffnete humanitäre Hilfe ist falsche Politik, Pressemitteilung vom 30.09.2004, vgl. www.venro.org

4) Vgl. Pressemitteilung des Bundesministeriums der Verteidigung vom 5.12.2002.

5) Die Leute müssen verstehen, dass wir Gutes tun, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.7.2006.

6) Deutscher Bundestag, Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan, 2005.

7) Vgl. Misereor, Brot für die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst: Entwicklungspolitik im Windschatten militärischer Interventionen? Aachen, Bonn, Stuttgart, 2003.

8) VENRO hat 2003 ein Positionspapier erarbeitet, das ausführlich die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften analysiert. Vgl. VENRO: Streitkräfte als humanitäre Helfer? Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften in der humanitären Hilfe, Bonn 2003, vgl. http://www.venro.org

Peter Runge ist Referent für Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe beim Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/4 Zivil-militärische Zusammenarbeit, Seite