W&F 2023/1

Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Fachtagung der Universität Duisburg-Essen und International Students/Young Pugwash, Berlin, 31. Oktober – 2. November 2022

Nuklearwaffen spielen nach wie vor eine zentrale Rolle in der internationalen Politik. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und russische Nukleardrohungen in der Folge dessen haben die Risiken einer nuklearen Konfrontation wieder deutlich ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch schon zuvor befand sich die globale nukleare Ordnung in einem kritischen Zustand: Während regionale Proliferationskrisen im Nahen und Mittleren Osten sowie Ostasien andauern und Kernwaffenarsenale in einigen Staaten weiter anwachsen, zeigen sich etablierte Rüstungskontrollmechanismen zunehmend geschwächt oder werden unterlaufen. Zugleich hat sich der geopolitische Kontext verändert: War das erste nukleare Zeitalter noch durch die gegenseitige Abschreckungsbeziehung der beiden Supermächte und das zweite durch das Anwachsen der Anzahl von Kernwaffenstaaten geprägt, so zeichnet sich das sogenannte »dritte nukleare Zeitalter« durch eine neue Komplexität aus. Es verbindet alte mit neuen Herausforderungen, die sich aus der Vielzahl relevanter Akteure, multipolaren Rüstungswettläufen und neuen Technologien ergeben.

Die internationale Fachkonferenz »New Age, New Thinking: Challenges of a Third Nuclear Age« (hier kurz: 3NA-Konferenz), die vom 31. Oktober bis 2. November 2022 in Berlin stattfand, widmete sich eben diesen Herausforderungen des dritten Nuklearzeitalters für nukleare Risikominimierung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Organisiert wurde die Konferenz vom Netzwerk International Students/Young Pugwash (ISYP) und der Universität Duisburg-Essen, mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung, Pugwash Conferences on Science and World Affairs und der Deutschen Stiftung Friedensforschung sowie in Zusammenarbeit mit dem Bulletin of the Atomic Scientists und dem Third Nuclear Age Project der University of Leicester.

Die 3NA-Konferenz brachte knapp 40 internationale Wissenschaftler*innen aus 15 verschiedenen Ländern in Berlin zusammen, um Herausforderungen des dritten nuklearen Zeitalters und mögliche Handlungsansätze zu diskutieren. Ziel der Konferenz war nicht nur die Stärkung internationaler Forschungskapazitäten. Vor allem sollte fortgeschrittenen Studierenden und jungen Forschenden ein Raum gegeben werden, um sich untereinander, aber auch mit etablierten Wissenschaftler*innen zu vernetzen und gemeinsam neue Denkansätze zu entwickeln.

Ein zentraler Baustein des Gesamtkonzepts der 3NA-Konferenz war Diversität: Die Teilnehmenden brachten unterschiedliche nationale bzw. geographische Perspektiven sowie unterschiedliche disziplinäre Sichtweisen in die Diskussion ein. Eine Mischung aus sozial-, wirtschafts-, ingenieurs- und naturwissenschaftlichen Hintergründen trug zu einer Multidisziplinarität bei, die es erlaubte, die komplexen Hintergründe nuklearer Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung im dritten Nuklearzeitalter ganzheitlich aufzuarbeiten. Schließlich wirken technologische Faktoren immer in sozialen Strukturen und werden durch kognitive Faktoren, wie Wissens- oder Überzeugungsstrukturen oder gegenseitige Wahrnehmungsmuster geprägt. So wurde kritische Reflexion angeregt und deterministischen Analysen entgegengewirkt, etwa durch Einbezug kritischer Perspektiven, bspw. der feministischen Kritik an technostrategischer Sprache oder der bewussten Dekonstruktion von zugrundeliegenden Machtasymmetrien, die auf Nuklearpolitik einwirken.

Die Tagung begann mit einer Podiumsdiskussion, die sich mit dem Zustand des gegenwärtigen Nuklearregimes befasste. Die Sprecher*innen setzten jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, beschäftigten sich im Kern aber mit den Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für globale nukleare Ordnungsbildung. Besonderes Augenmerk galt dabei der Frage nach den normativen Grundlagen der nuklearen Ordnung und der Rolle von Vertrauen in antagonistischen Beziehungen. Zwar blieb offen, wann und wie angesichts des erheblichen Vertrauensverlustes durch Russlands Invasion bilaterale Rüstungskontrollgespräche zwischen Russland und den USA wieder aufgenommen und multilaterale Vertragsregime wie der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gestärkt werden können. Mehrere Teilnehmenden unterstrichen jedoch, dass Vertrauensbeziehungen auch unterhalb der Ebene zwischenstaatlicher Diplomatie gepflegt werden können – und ergo Wissenschaftler*innen, Studierende oder Techniker*innen eine aktive Rolle dabei einnehmen können.

Die beiden anschließenden Panels des ersten Konferenztages widmeten sich jeweils politischen und technologischen Herausforderungen der nuklearen Nichtverbreitung, darunter regionale (Un-)Sicherheitsperzeptionen, die unzureichende Institutionalisierung globaler Verantwortungsrahmen oder technologische Entwicklungen im Bereich der Reaktortechnologie. Aber auch neue Forschungsansätze und deren Potentiale wurden diskutiert, etwa die Sentimentanalyse oder neue Reaktorkonzepte und deren Bedeutung für Proliferationsresistenz. Im Kern lassen sich die Ergebnisse auf einen recht simplen Nenner bringen, der den Mehrwert einer multidisziplinären Perspektive unterstreicht: So wurde etwa festgehalten, dass neue Reaktortechnologien nicht automatisch das Proliferationsrisiko erhöhen, wenn regionaler Dialog und politischer Wille zur Zusammenarbeit vorhanden sind, um eine Regulierung von Kerntechnik und Spaltmaterial zu erwirken. Zum Abschluss des ersten Konferenztages resümierte die Podiumsdiskussion die Problematik nuklearer Nichtverbreitung im dritten Nuklearzeitalter. Letztlich gelte es, eine Balance zu finden zwischen der Sensibilisierung über Proliferationsrisiken und präventivem Handeln. Hervorgehoben wurden positive Effekte der sich diversifizierenden Akteurslandschaft im dritten Nuklearzeitalter, bspw. das Potenzial von »Open Source Intelligence« oder Handelsanalysen für ein tieferes Verständnis von Proliferationsmustern oder der stärkere Einbezug privater Akteure, wie Finanzinstitutionen, angesichts ihrer Rolle in Proliferationsnetzwerken. Als zentraler Baustein kristallisierte sich außerdem die Notwendigkeit heraus, das vorherrschende Narrativ anzufechten und die Kontrollierbarkeit von Nuklearwaffen und die Unvermeidbarkeit nuklearer Proliferation zu hinterfragen.

Am Abend rundete ein Empfang im Auswärtigen Amt in Kooperation mit dem Referat für nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation sowie dem »Jungen Nuklearen Netzwerk«, einem unabhängigen und überparteilichen Verein junger Forschender, den ersten Tag der 3NA-Konferenz ab. Der Empfang ermöglichte es den Teilnehmenden, sich weiter zu vernetzen und die diskutierten Erkenntnisse mit Einsichten aus der ordnungspolitischen Praxis zu ergänzen. Einmal mehr stand hierbei die Frage nach den zukünftigen Konturen der nuklearen Ordnung im Mittelpunkt. Kritisch diskutiert wurde, dass die Diskussion zu stark auf Großmächte konzentriert sei und andere Weltregionen aus dem Blick gerieten. Dabei könnten Erfahrungen aus anderen Regionen wertvolle Einsichten liefern, bspw. der Wandel antagonistischer Beziehungen hin zu Vertrauen im Fall von Brasilien und Argentinien.

Der zweite Konferenztag begann mit der Präsentation breiter angelegter Perspektiven. Teilnehmende erörterten die Bedeutung multiplexer Akteurskonstellationen oder von Quantentechnologien für das dritte Nuklearzeitalter, diskutierten über Herausforderungen für Abschreckungspolitik, die unterschiedliche »Domänen« umfasst, oder formulierten eine feministische Kritik an der technostrategischen Sprache an der Schnittstelle von Cyber- und Nuklearpolitik. Zwei weitere Panels befassten sich mit den technologischen, aber auch ethischen Herausforderungen, mit Blick auf die Entwicklung neuer Trägersysteme wie Hyperschallgleiter, für Rüstungsdynamiken, der Vereinbarkeit von strategischer Stabilität und humanitärem Völkerrecht sowie den Herausforderungen und Grenzen der Nutzung künstlicher Intelligenz für militärische Anwendungen. Den Abschluss der Konferenz bildete eine Podiumsdiskussion zu der Frage, wie und ob angesichts der während der beiden Tage diskutierten technologischen und politischen Herausforderungen, die Risiken nuklearer Eskalation minimiert und effektive Mechanismen nuklearer Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung etabliert werden können. Zwar herrschte bei einigen Teilnehmenden Skepsis mit Blick auf die Frage, inwiefern es in der gegenwärtigen Lage gelingen kann, den Zustand der Unordnung zu überwinden. Einig waren sich die Teilnehmenden aber darin, dass das Bemühen um nukleare Ordnungsbildung letztlich alternativlos ist und Wissenschaft wichtige Impulse liefern kann. Da die Erfolgsaussichten für eine Wiedereinsetzung bilateraler Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland derzeit gering sind, sollten die Bemühungen verstärkt werden, konkrete Abkommen zur Risikominimierung, bspw. mit China, auszuhandeln. Diese müssten neue Technologien unbedingt einschließen. Festgehalten wurde aber auch die wichtige Rolle nichtstaatlicher Akteure, etwa im Bereich der politischen Aufklärungsarbeit über Nuklearwaffen, inklusive der Sensibilisierung für Proliferations- und Eskalationsrisiken aufgrund von kognitiven Prägungen sowie politischen und technischen Interpretationen. Die Beiträge der Studierenden und jungen Forschenden lieferten dafür eine reichhaltige Palette konkreter Vorschläge.

Damit diese auch in den öffentlichen Diskurs einfließen, endete die Konferenz mit einer besonderen Gelegenheit für die Teilnehmenden: Die 3NA-Konferenz wurde durch eine Schreibwerkstatt mit John Mecklin, dem Chefredakteur des renommierten Bulletin of the Atomic Scientists, abgerundet. Er ermutigte die jungen Forschenden, ihre Konferenzbeiträge für eine mögliche Veröffentlichung im Bulletin zu überarbeiten. Tatsächlich ist geplant, mehrere der Vorträge mit dem Bulletin zu veröffentlichen, um neues Denken und Forschung auch dort weiterzutragen.

Die 3NA-Konferenz markierte den Auftakt neuer Denk- und Forschungsprozesse und förderte den internationalen, interdisziplinären und intergenerationellen Austausch. Der Komplexität des dritten Nuklearzeitalters wurde mit Diversität, Fachkompetenz, und Multidiziplinarität begegnet. Zu den Erkenntnissen gehören auch offene Diskussionspunkte und Forschungslücken, etwa zum Konzept von Sicherheit und Stabilität im dritten nuklearen Zeitalter, zur Rolle von Vertrauen oder zum Umgang mit autoritären Staaten.

Elisabeth Suh und Carmen Wunderlich

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/1 Jenseits der Eskalation, Seite 61–62