W&F 2023/1

Herrschaftskritische Methoden umsetzen – aber wie?

Workshop, Justus-Liebig-Universität Gießen, 12.-13. Dezember 2022

Herrschaftskritische Forschung setzt sich mit Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Kapitalismus auseinander und fragt, wie diese Verhältnisse soziale Ungleichheit, Differenz und Unterdrückung bedingen, reproduzieren und legitimieren. Dabei widmet sich herrschaftskritische Forschung auch der Frage, wie Wissenschaft selbst zu solchen Verhältnissen beiträgt. In jüngerer Zeit haben post- und dekoloniale Perspektiven, kritische Rassismusforschung, feministische und intersektionale Zugänge sowie herrschaftskritische Perspektiven verstärkt Aufmerksamkeit und Zulauf in der Wissenschaft und darüber hinaus erhalten. Diese Perspektiven vereint, dass sie sich mit existierenden Macht-, Gewalt-, und Herrschaftsverhältnissen kritisch auseinandersetzen und selbst einen Beitrag zu ihrer Überwindung leisten möchten.

Insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt und der damit einhergehenden Feststellung, dass auch wissenschaftliches Arbeiten an der Reproduktion von Herrschaft und Gewalt(-verhältnissen) beteiligt ist, wächst daher auch das Interesse an einer herrschaftskritischen Auseinandersetzung mit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit. Denn der Wechsel von der (herrschaftskritischen) Theorie in die Praxis ist weder einfach noch eindeutig. Vielmehr sind wir in unserem Anspruch, herrschaftskritisch zu forschen, mit zahlreichen Fragen, Dilemmata und Widersprüchen konfrontiert. Das Wissen um die Herrschaftsförmigkeit des wissenschaftlichen Diskurses und der Aufruf zur Reflektion der eigenen Positionierung darin, das Wissen um die Gefahr, »epistemischen Extraktivismus« zu reproduzieren, oder der Wunsch, Forschung mit und für gesellschaftliche Akteur*innen zu betreiben, implizieren selten klare Anhaltspunkte oder Vorschläge für die eigene Forschungspraxis. Mit anderen Worten: Theoretische Einsichten in die Notwendigkeit herrschaftskritischer Forschung übersetzen sich nicht automatisch in die Fähigkeit zur angewandten Herrschaftskritik.

Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für einen Workshop im Dezember 2022 an der JLU Gießen, der in Kooperation des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) und der Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik am Gießener Graduiertenzentrum Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS) durchgeführt wurde. Beide Gruppierungen eint das Interesse an einem tieferen Verständnis gesellschaftlicher und globaler Herrschaftsverhältnisse, um emanzipatorische Perspektiven aufzuzeigen und zu erarbeiten, die zur Überwindung dieser Verhältnisse beitragen.

In der Diskussion der Fragen und Herausforderungen »angewandter Herrschaftskritik«, die den Workshop-Teilnehmenden in ihrer eigenen Forschung entstehen, wurde schnell klar: Es kann keine generalisierte Anleitung oder ein Rezept dazu geben, wie der herrschaftskritische Anspruch in die Praxis umzusetzen wäre. Gleichzeitig haben sich verschiedene Aspekte herauskristallisiert, die für diesen Anspruch wichtig erscheinen und deren Reflektion die Teilnehmenden als hilfreich empfanden. Daraus ist die Idee entstanden, spezifische Elemente zu benennen und zu diskutieren, die für die wissenschaftliche Praxis mit herrschaftskritischem Anspruch wichtig erscheinen. Mit anderen Worten: Wenn es nicht das eine Rezept geben kann, mit dem sich herrschaftskritische Forschung »kochen« lässt, so kann man doch wenigstens die Vorratskammer mit geeigneten Zutaten füllen. Als einige der vielen wichtigen Zutaten für ein herrschaftskritisches Methoden-Gericht haben die Teilnehmenden u.a. folgende Themen ausgemacht: eine konsequente Forschungsethik, die ungleiche Machtverhältnisse mitdenkt und die Einwilligung von Forschungsteilnehmenden, deren Schutz vor möglichen Risiken und Gefahren sowie Informiertheit über Forschungsablauf und -outputs (»informed consent«) beinhaltet. Damit verbunden ist ferner Beziehungsarbeit, um die letztgenannten Aspekte zu vertiefen und Informations- und Machtungleichheiten innerhalb teilnehmender Gruppen oder Communities sowie zwischen diesen und den Forschenden sichtbar zu machen, um einen konstruktiven Umgang damit zu ermöglichen. Weitere wichtige Grundlagen sind die bereits etablierte kritische Reflektion der oft privilegierten Positionalität der Forschenden, die aber auch intersektionale Differenzen aufweisen kann, welche wiederum wichtige Gemeinsamkeiten und Solidarität mit Forschungsteilnehmenden begründen können.

Aus der Beobachtung heraus, dass es wenige praxisorientierte Anleitungen gibt, wie ein herrschaftskritischer Anspruch in der Forschung umgesetzt werden kann, entstand die Idee, selbst eine entsprechende Handreichung zu schreiben. Die Texte sollen praxisnah, aber reflektiert Widersprüche und Probleme der wissenschaftlichen Forschung benennen und eine Grundlage für die weitere Diskussion bilden. Über diese forschungspraktische Perspektive hinaus wurde im Workshop auch die Notwendigkeit eines herrschaftskritischen Zugangs in anderen Bereichen der Wissenschaft thematisiert, etwa durch die Erweiterung von Inhalten in Lehre und Methodenausbildung, durch neue (Peer-)Support-Mechanismen und langfristig gesehen auch durch strukturelle Änderungen im Publikations- und im Hochschulwesen.

Da eine herrschaftskritische wissenschaftliche Praxis nicht zuletzt ein kollektiver Prozess ist, laden die Sektion Transnationale und Intersektionale Herrschaftskritik und der Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung herzlich zur Diskussion und Mitarbeit ein. Wer Interesse hat, sich an der Erstellung der Handreichungen zu beteiligen, oder zum Folge-Workshop im Dezember 2023 eingeladen werden möchte, kann sich gerne bei Juliana Krohn (juliana.krohn@uibk.ac.at) melden.

Marie Reusch, Philipp Lottholz, Juliana Krohn

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/1 Jenseits der Eskalation, Seite 62–63