Hinterfragen, nicht verharmlosen
Im Februar 2020 überfällt ein rechtsradikaler Täter mehrere Cafés, Kioske und Bars und tötet mindestens neun Menschen aus rassistischen Motiven. Auch 2021 kommt es in mehreren Städten Deutschlands inmitten einer laufenden Debatte zu rassistischer und exzessiver Polizeigewalt zu tödlicher Gewalt gegen Menschen in Polizeigewahrsam. Die Zahl gemeldeter häuslicher Gewalt schießt im Verlauf der Lockdowns während der Covid-19-Pandemie abrupt in die Höhe.
All diese Fälle werfen Fragen nach den Täter*innen der Gewalt auf. Wer sind sie? Wen verstehen »wir« als Täter*innen und weshalb? Wie können wir Taten erkennen, verstehen und bearbeiten und wen gilt es zur Rechenschaft zu ziehen? Sind Täter*innen intentional handelnde Akteure oder Opfer der Umstände? Wie können diese Fragen dabei helfen, Taten auch gesellschaftlich besser aufzuarbeiten und ihnen dadurch in der Zukunft präventiv zu begegnen? Welche Ansätze stehen dabei zur Verfügung und welche gesellschaftliche (Selbst-)Reflexion ist hier nötig?
In den letzten Jahren hat die Forschung in einer Vielzahl an Fachdisziplinen das Verständnis von Täter*innen neu aufgerollt – das betrifft die Soziologie, Anthropologie, Rechtswissenschaften, Geschichte, Gewalt- und Protestforschung, und nicht zuletzt die Friedens- und Konfliktforschung. Manche Definitionen wurden umfassender und komplexer, wir wissen nun mehr über Motivationen, Kontexte, Bedingungen. Doch hat das dazu geführt, klarer zu sehen, um wen es dabei geht?
Zurecht kann gefragt werden: Ein Heft zu Täter*innen, geht das so isoliert? Es geht uns nicht um Verharmlosung oder gar den Versuch, Täter*innen hinter immer schwammiger werdenden Definitionen zu verstecken – es geht darum, zentrale Glaubensmuster zu hinterfragen und Klischees aufzulösen, die wir individuell und gesellschaftlich mit uns tragen. Der Fokus auf Täter*innen bedeutet keineswegs, dass wir Betroffenenperspektiven nicht mit einschließen wollen – auch die Frage nach den Täter*innen führt uns die Betroffenen wieder vor Augen. Es gilt immer wieder zu betonen: Es ist nicht immer so, wie es scheint. Dem wollen wir in diesem Heft nachspüren. Wir haben daher eine Reihe von Autor*innen gebeten, ihre Forschungserkenntnisse mit uns zu teilen und uns zu zeigen, wie komplex es ist, Täter*innen zu verstehen.
Die Antworten sind vielfältig, sie reichen von Täter*innen im Setting von Massengewalt (Amélie Faucheux) über organisierte Kriminalität bis hin zur Mikroebene der häuslichen Gewalt (Gisela Notz); sie reichen von der Ablehnung des Täter*innenbegriffs (Christian Gerlach) über die Bitte, Täter*innengruppen weniger sensationslüstern und eher nüchtern zu betrachten (Sylvia Karl) bis hin zu komplexen Modellen der Motivationsanalyse von Täter*innen auf der Individualebene (Timothy Williams und Morgana Lizzio et al.); sie reichen von eher definitorischen Beiträgen über Beiträge zu einzelnen Täter*innengruppen (Rechte Gewalttäter*innen, Narc@s, Kindersoldaten) hin zu Fragen der Aufarbeitung und Wiedergutmachung (Ruanda – Faucheux; Peru – Willems).
Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie keineswegs die handelnden Menschen als losgelöst von einem sie umgebenden gesellschaftlichen Ganzen betrachten. Die Zeiten der Suche nach den individuellen Pathologien von Täter*innen scheinen vorbei. In der Lektüre der hier versammelten Texte drängt sich zunehmend die Frage nach gesellschaftlicher Mitverantwortung auf.
Die eingangs geschilderten Fälle fordern von uns, dass wir verstehen wollen, wieso solche Taten, solche Gewalt passiert. Welche Systeme und Strukturen, Diskurse und Gruppenüberzeugungen, welche Motivationen und Chancen führen dazu, dass Menschen Gewalt verüben und zu Täter*innen werden? Welche Rolle haben »wir« darin? Inwiefern betreffen diese Fragen auch uns ganz persönlich? Weil es immer wieder Not tut, sich der Grundlagen dessen bewusst zu werden, worüber wir sprechen, wenn wir ein Ende von Gewalt fordern, nehmen wir hier Täter*innen in den Blick.
In eigener Sache: 2022 beginnt mit Veränderungen am Heft und digital. Nach einigen Jahren, in denen das Layout und unsere Homepage weitgehend unberührt geblieben sind, versuchen wir uns an einem „Aufschütteln der Federn“ – keine radikale Abkehr von dem, was Wissenschaft und Frieden ausmacht, aber eine vorsichtige Renovierung. So meinen wir. Auch in neuem Gewand bleibt W&F seinem Auftrag treu – engagiert und (selbst-)kritisch.
Aufgrund veränderter Lese- und Recherchegewohnheiten und einer enormen Zunahme des Lesens auf digitalen Endgeräten passen wir zudem auch unsere Homepage diesen Bedingungen an. Sie bekommen eine zeitgemäße Graphik, die mobile Anpassung der Inhalte und des Archivs, die Verlinkung der Dossiers mit den jeweiligen Heften und vieles mehr.
Mit W&F nehmen Sie sich auch in Zukunft weiter „Zeit für Frieden“ – inmitten der Beschleunigung unseres Alltags und dramatisch schneller Konflikteskalationen wird W&F die vierteljährliche Einladung zu Ruhe, Reflexion und Zeit für Frieden sein.
Wir wünschen Ihnen ein gutes Jahr 2022 – lassen Sie uns dafür streiten, dass es friedlich bleibt.
Ihre Franziska Benz und David Scheuing