W&F 1984/2

Hippokrates und Holocaust

Von der Verantwortung der Wissenschaft in finsterer Zeit

von Walter Jens

Der naturwissenschaftlichen Aufklärung den Charakter eines Entwurfs zur Beförderung von Emanzipation wiederzugeben, der bis heute nicht realisiert, ja, ins Gegenteil verkehrt worden ist: darauf käme es an - und, in der Tat, an Visionen, das ursprüngliche „Projekt“, die Menschheit auf die Ebene einer zweiten, von Zwängen und Fremdbestimmungen befreiten Natur zu heben und derart, auf Autonomie aber nicht Autarkie der Subjekte abzielend, zur Wiederversöhnung von Wissenschaft und Moral beizutragen (...) an solchen Visionen mangelt es nicht.

Albert Einsteins Entwurf einer neuen, Herrschaft transzendierenden Denkweise und Albert Schweitzers Bestimmung der Ethik als „Ehrfurcht vor dem Leben“, allen voran, „Erneuerung der Kultur“, heißt es in Schweitzers Schrift Kultur und Kritik, „ist nur dadurch möglich, daß die Ethik wieder Sache der denkenden Menschen wird, und daß die Einzelnen sich in der Gesellschaft als ethische Persönlichkeiten zu behaupten suchen. In dem Maße, als wir dies durchführen, wird die Gesellschaft aus einer rein natürlichen Größe (...) eine ethische (...) Im Besitz des absoluten Maßstabs des Ethischen lassen wir uns nicht mehr Prinzipien der Zweckmäßigkeit, ja der vulgärsten Opportunität als Ethik mundgerecht machen (...) Alle unter uns auftretenden Gegensätze, Gesinnungen und Ideale messen wir in grandioser Pedanterie mit dem durch die absolute Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben geeichten Maße. Gelten lassen wir nur, was sich mit der Humanität verträgt.“ Ist das, gilt es zu fragen, wirklich nur eine pathetische Deklaration, diese Verlautbarung aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, geschrieben im afrikanischen Urwald: den kriegsführenden „Kulturnationen“ vor die Füße geschleudert? Nur Kampfansage, formuliert in einem hochidealistischen Stil an die Adresse der Herrschenden, der „verblödeten Autoritäten“, wie Schweitzer schrieb, der „politischen Machthaber“, die „die Menschenrechte bei Banketten verherrlichen und in ihrem Handeln mit Füßen treten“?

Nein, es ist mehr - viel mehr: die zornige Bußrede eines Mannes, eines Naturwissenschaftlers, Arztes und Theologen, dessen barocke Predigt, „Kehrt um, ehe es zu spät ist“, nicht nur den Regierenden, sondern auch - und gerade! - der eigenen Zunft gilt, die ihr Wissen in den Dienst der Macht gestellt habe: in den Dienst des Kriegs!

So betrachtet gehört Albert Schweitzer - neben Einstein und Georg Friedrich Nicolai - zu jener Handvoll Aufrechter, die, lange bevor es eine Kernspaltung gab, die Frage durchdachten, kraft welcher Gesinnung und welcher für unabdingbar erklärten ethischen Prämissen der Sündenfall der Wissenschaft - Protagoras´ Triumph über den Dichter der Antigone! - rückgängig zu machen sei ... eine Frage, die sich heute, in einem Augenblick auf den Begriff gebracht sieht, da die Dialektik von Allmacht und Ohnmacht, allen sichtbar, ihre äußerste und endgültige Konsequenz gefunden hat: „Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen würde“, so Günther Anders in der „Antiquiertheit des Menschen“, „dieses Zeitalter ist das letzte: Denn seine differentia specifica, die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung kann niemals enden - es sei denn durch das Ende selbst.“

In dieser Situation, da der totale Triumph wissenschaftlichen Entdeckens zugleich das Ende aller Forschung bedeuten könnte, in dieser Situation ist zweierlei unabdingbar: zum ersten, aufs Gestern bezogen, ein nüchternes Resumee. Das Bedenken, Sammeln und Aufzählen aller Erfindungen, die dazu beitrugen, die „letzte Epidemie“ - den drohenden Holocaust also - näherzurücken. Da wären Fritz Haber, der „Vater des Gaskrieges“, wie man ihn genannt hat, und Edward Teller zu einem großen imaginären Disput einzuladen, da hätte Einstein noch einmal, seinen Brief an den Präsidenten betreffend, Rechenschaft abzulegen; da käme Oppenheimer zu Wort, Brecht mischte sich ein und akzentuierte das Gespräch durch die Bemerkung, die Wissenschaftler möchten bedenken, daß es, im Zeitalter der Atomkriege, nur noch Niederlagen, aber keine Siege mehr gäbe, ja, daß gerade die vermeintlichen Siege die gnadenlosesten Niederlagen seien: „Als die ersten Blättermeldungen (vom Abwurf der Bombe auf Hiroshima) Los Angeles erreichten“, heißt es in Brechts Journal, „wußte man, das dies das Ende des gefürchteten Krieges, die Rückkehr der Söhne und Brüder bedeutete. Aber die große Stadt erhob sich zu einer erstaunlichen Trauer. Der Stückeschreiber hörte Autobusschaffner und Verkäuferinnen in den Obstmärkten nur Schrecken äußern. Es war der Sieg, aber es war die Schmach einer Niederlage.“

Aufarbeitung der Geschichte ihrer Disziplin, mitsamt deren Dialektik: Das wäre, im Zeichen der drohenden Katastrophe, die erste Aufgabe der Naturwissenschaftler, wobei es wohlgemerkt um Trauerarbeit, nicht aber um Schuldzuweisungen ginge. Und dann das zweite: Der historischen Analyse hätte, zum Heute gewendet, die wissenschaftstheoretische Besinnung auf die Verantwortung der Physiker, Biologen, Mediziner in einem Augenblick zu folgen, da sie ihre Unschuld - sprich: zeitenthobene Neutralität - ein für allemal verloren haben. Abermals wäre ein Disput zu inszenieren - ein Streitgespräch zwischen Edward Teller, beispielsweise, und James Franck.

Teller: „Der Wissenschaftler ist für die Gesetze der Natur nicht verantwortlich. Seine Aufgabe ist es lediglich, herauszufinden, in welcher Weise diese Gesetze funktionieren. Die Aufgabe des Wissenschaftlers besteht darin, Wege zu suchen, diese Gesetze dem menschlichen Willen untertan zu machen. Es ist hingegen nicht die Aufgabe des Wissenschaftlers zu entscheiden, ob Bomben gebaut, ob sie angewandt oder wie sie angewandt werden.“ Gegenrede James Franck und seines Teams: „In der Vergangenheit konnten die Wissenschaftler jede unmittelbare Verantwortung für den Gebrauch, den die Menschheit von ihren uneigennützigen Entdeckungen machte, ablehnen. Jetzt aber sind wir gezwungen, einen aktiven Standpunkt einzunehmen, weil die Erfolge, die wir auf dem Gebiet der Kernenergie errungen haben, mit unendlich viel größeren Gefahren verbunden sind als bei allen Erfindungen der Vergangenheit.“ Hier Edward Teller, dort James Franck: Die Entscheidung, wer von beiden Recht und Moralität auf seiner Seite hat, scheint einfach zu sein - ist es aber in Wahrheit offenbar nicht: Wie anders wäre es sonst zu erklären, daß die Mehrzahl der Wissenschaftler auch heute zwar noch wie Franck redet aber wie Teller handelt? Wo, fragen wir, liegen die Gründe der Schizophrenie, die Naturforscher veranlaßt, den Mächtigen die Verwertung ihrer Forschung zu überlassen, obwohl sie doch zum ersten wissen, daß die Entscheidungsbefugten man denke an die Verhöhnung der Physiker durch General Groves beim Bombenabwurf auf Nagasaki - nicht daran denken, die Skrupel der Forscher auch nur in Erwägung zu ziehen, obwohl sie, zum zweiten, anders als ihre Vorgänger sehr wohl eine Ahnung haben, „zu welchen Greueln gegen die Menschheit“, mit Brecht zu reden, „die Meisterung der Natur führen mag“, obwohl sie zum dritten durch die Geschichte belehrt sein müßten daß gerade die barbarischsten Mächte sich mit Vorliebe der scheinbar unpolitischen Wissenschaftler bedienen, um ihre Ziele in die Tat umzusetzen, und obwohl sie, viertens und letztens, zumindest heute erkennen müßten, in welchem Ausmaß sich anno 1984 auch die vermeintliche freie Grundlagenforschung von Forderungen der Rüstungs-Lobbies und Militär-Bürokraten akzentuiert sieht.

Obwohl, obwohl, obwohl! Und warum das alles? Warum diese unermüdliche Schuldanhäufung der Wissenschaft trotz der Kenntnis, des Problembewußtseins und der hohen Moral Tausender von Wissenschaftlern? Warum, ungeachtet aller Einsicht in die Ambivalenz noch der humansten: weil scheinbar (aber eben nur scheinbar!) nicht korrumpierbaren Forschung, der Verzicht auf allgemeine Verweigerung kriegsfördernder Betätigung? Warum, weltweit, die Scheu, dort Widerstand zu leisten, wo mit der Vernichtung des anderen längst schon der eigene Untergang droht? Warum das geheime Komplizentum mit einer offen auf Eliminierung des Gegners abzielenden Macht von Seiten der Wissenschaftler, die, wiewohl aufgeklärt seit langem, dabei sind, in letzter Konsequenz nicht nur den Mord, sondern auch den Suizid zu befördern?

Die Antwort muß lauten: Diese Schizophrenie grassiert, weil zwar einzelne Wissenschaftler, nicht aber die Wissenschaft über einen verbindlichen Moral-Kodex im Sinne des hippokratischen Eides für die Ärzte verfügt, sich also nicht in der Lage sieht, die spätestens durch den potentiellen Holocaust unabdingbar gewordene Kongruenz von Ethik und Wissenschaft mit den ihr eigenen Mitteln: szientifisch also zu analysieren ... und eben dies ist die conditio sine qua non umfassender Verweigerung: der Resistance einer Wissenschaft, die ihr Ziel, die Mühsal der menschlichen Existenz zu erleichtern, durch Botmäßigkeit gegenüber der Militärindustrie ins Gegenteil verkehrt sieht und deshalb danach trachten sollte, Verantwortungsethik - im Sinne eines Bedenkens der Folgen - und Gesinnungsethik vereinend, endlich jene Postulate zu erfüllen, die der Philosoph und Theologe Kurt Weisshaupt in einem Essay „Von der Verantwortungslosigkeit des Wissenschaftlers“ bereits vor zehn Jahren aufgestellt hat: „In den Wissenschaften muß von der individuellen und subjektiven zur intersubjektiven und wissenschaftlichen Rechtfertigungsstrategie vorangeschritten werden. Eine jede Wissenschaft selbst hat Wissenschaftsethik auszubilden als jenen Forschungskomplex, welcher Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeit auf allen Ebenen innerhalb der Wissenschaft und gegenüber der realen Lebenswelt konkretisiert.“

Herausbildung einer wissenschaftlichen Ethik als verbindlicher und konsensfähiger Gesellschaftsmoral, vorgelegt von Forschern, deren Integrität, so Albert Einstein, „für ihre Generation und für den Verlauf der Geschichte vielleicht von noch größerer Bedeutung ist als rein intellektuelle Leistungen“ (...) Die Herausbildung einer wissenschaftlichen Ethik im Sinne des hippokratischen Eides ist unabdingbar, wo es in später, aber noch nicht letzter Stunde, darum geht, die Arbeitsteilung in Beruf und Privatheit, in die wertfreie, von keinem et respice finem geprägte Welt der Tätigkeiten und den Raum schöner Enthobenheit, wo das Gewissen getrost seine rigiden Forderungen anmelden darf, endlich zu überwinden und damit einem Zustand ein Ende zu machen, von dem einer, der sich auf Schizophrenien verstand, Karl Jaspers, gesagt hat: „Wo dies eine“, die Berufsarbeit, „sich vollzieht“, so der Traktat „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“, „schweigt das andere", das Gewissen. „Wo die eine sich vollzieht, schweigt das andere. Für die Befehlsausführung im Beruf weiß sich der Ausführende nicht verantwortlich. An das Endziel wird nicht gedacht, denn es ist nicht die eigene Sache. Wenn dies Ganze ein Verbrechen ist, so hat nicht er es befohlen.“

Überwindung der Diskrepanz von Wissenschaft und Ethik im Rahmen nüchterner Selbstreflexionen auf die Konsequenzen des eigenen Tuns, die kleinen Vergröberungen um die großen Perversionen: Das bedeutet, dazu beizutragen, die Verpflichtung, der Erhellung des verum zu dienen, durch das Selbst-Gebot zu ergänzen, das da besagt: Es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, sondern ein Verstoß gegen ihre Aufgabe, das Humanitäts-Potential zu vergrößern, wenn das verum zum Fetisch wird, weil sein Korrelat, das bonum, den Blicken entschwindet.

Verum et bonum, das eine nicht ohne das andere, hat im Sinne der Einsteinschen Forderung, es gelte um des Überlebens der Menschheit willens, eine neue Art des Denkens zu entwickeln (...) verum et bonum hat die Maxime einer Wissenschaft zu lauten, die sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung bewußt ist und um die sophokleische Identität von menschlicher Größe und menschlicher Hybris weiß (verum sine bono).

Ein hippokratischer Eid - „Ich sage Nein zu allem, was den Krieg befördern hilft und mich und meinesgleichen und die Welt, in der ich lebe, sterben lassen wird.“ - gut und schön. Entwurf einer verbindlichen Wissenschaftsethik, die jeden, der gegen ihre Verbote verstößt, zum outcast macht, der in den Reihen der Wissenschaft, gut Brechtisch, nicht geduldet werden kann und sich folglich so behandelt sieht, wie einst Fritz Haber von Rutherford behandelt worden ist (mit Verachtung und ohne Handschlag: Max Born, auch er zum Fähnlein der wenigen Hellsichtigen gehörend, berichtet darüber) - nichts dagegen zu sagen. Nur darf es nicht beim schon so oft, und von vielen, geträumten Gedankenspiel bleiben: Wie also sähen sie aus, die Prämissen einer verbindlichen Wissenschaftsethik - einer Moral, die, wiewohl konfrontiert mit der möglichen Apokalypse, dennoch nüchtern zu sein hat, nicht nur ad hoc entworfen, sondern auch historisch ableitbar: plausibel und eher behutsam als eifernd - im Tonfall des Franck-Reports etwa?

Da müßte einsichtig werden, daß es, auf der einen Seite, ein Verleugnen oder gar Vergessen des gewonnenen Kenntnisstandes nicht gibt - „Was einmal gedacht wurde“, heißt es in Dürrenmatts „Physikern“, „kann nicht mehr zurückgenommen werden“ -, daß aber, auf der anderen Seite, „alles machen können“ eins und „alles machen dürfen“ ein anderes ist, ja, daß sich Wissenschaft erst durch freiwilligen Verzicht aufs Mach- aber nicht Verantwortbare als menschlich erweist - und als meisterlich in der Beschränkung, mit der großen Kunst vergleichbar und klassisch dazu.

„In Zeiten, da es gut um die Künste steht“ - Paul Valery: „Von der überragenden Würde der Künste, die das Feuer wirkt“- „kann man sehen, wie sie sich Schwierigkeiten schaffen, die nur Geschöpfe ihrer Einbildung sind; wie sie sich ganz und gar willkürliche Gesetzlichkeiten und Regeln erfinden, Freiheiten beschneiden, die fürchten zu müssen sie begriffen haben, und sich den Gebrauch der Fähigkeit untersagen, mit sicherem Griff und im Augenblick alles machen zu können, was in ihrem Wollen liegt.“

Warum sollte, mutatis mutandis, die Wissenschaft, statt sich im Ziellos-Zerstörerischen zu verlieren, das Kunst-Gesetz der freiwilligen Selbst-Erschwerung (ein Gebot, das auf begrenztem Feld Höchstes zu leisten verlangt) nicht, kraft eigener Überzeugung, zu dem ihrigen machen, da es die Stunde mit ihren Gefahren nun einmal verlangt?

Wieviel könnten, im Zeichen der überall sichtbaren Symbiose von Kunst und Wissenschaft, den belles lettres und der Medizin, der Musik und der Mathematik, selbst die exakten Disziplinen den Künsten entleihen: das Wissen nicht zuletzt, daß es mittlerweile längst ein Gemeinplatz - der Einbeziehung des reflektierenden Subjekts in die Erkenntnisprozesse bedürfe, um Wissenschaft als eine humane und nicht als eine von Robotern zu bewältigende Disziplin ausweisen.

Walter Jens, 1923 geboren, ist Professor für Allgemeine Rhetorik an der Tübinger Universität. Er zählt zu den Mitgliedern der „Gruppe 47“, er war lange Präsident des PEN-Zentrums in der Bundesrepublik. Jens war von 1972 bis 1976 Mitglied des Vorstandes des Bundes demokratischer Wissenschaftler.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1984/2 1984-2, Seite