W&F 1995/2

„Hiroshima war ein tiefer Schock“

Interview mit Dr. Carl Friedrich von Weizsäcker*

von Dr. Carl Friedrich von Weizsäcker und Bernd W. Kubbig

Kubbig: Kein Physiker hat alle Facetten der Atomproblematik so beständig, umfassend und tief durchdacht wie Sie. Weltweit hat sich kein Physiker professionell der Sache des Friedens, bei der das Element der Rüstungsminderung eine zentrale Rolle spielt, jahrzehntelang so verschrieben wie Sie. Ist Ihr vielfältiges Engagement direkt und indirekt auch auf die Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945 zurückzuführen?

von Weizsäcker: Mein Engagement ist zurückzuführen auf die Erkenntnis, welche im März 1939 wohl wenigstens 100 Physiker auf der Erde hatten, daß Atombomben als Folge der Kettenreaktion bei der ohne jede technische Absicht von Otto Hahn entdeckten Kernspaltung vermutlich möglich wurden. Hiroshima war nun der Schock, daß das Problem schon definitiv vorliegt.

Kubbig: General Groves, der militärische Leiter des amerikanischen Atomwaffenprogramms, spendet Ihnen in seinen Erinnerungen („Now It Can Be Told“, New York 1962) viel Lob, und zwar in Zusammenhang mit den Gesprächen unter den wichtigsten deutschen Atomwissenschaftlern, die im britischen Farm Hall interniert waren. In den von den Alliierten abgehörten und aufgezeichneten Gesprächen, die inzwischen vollständig auch in einer deutschen Ausgabe erschienen sind, spricht General Groves (S. 336) beispielsweise von Ihren „prophetischen Bemerkungen“ über die internationalen Auswirkungen der Atombombe; und er zitiert dann Ihren Kollegen Bagge, der bemerkte: „I think it is absurd for Weizsäcker to say he did not want the thing (die Bombe, B.W.K.) to succeed. That may be so in his case, but not for all of us.“ Könnten Sie im Anschluß hieran Ihre Position, und vielleicht auch die Ihrer Kollegen, noch einmal kurz darlegen?

von Weizsäcker: Meine Position ergab sich zunächst aus drei Folgerungen, die ich schon im März 1939 gezogen hatte:

A. Wenn Atombomben möglich sind, wird es in der heutigen Menschheit jemanden geben, der sie herstellt.

B. Wenn Atombomben hergestellt sind, wird es jemanden geben, der sie einsetzt.

C. Beides folgt aus der jahrtausendealten politischen Institution des Krieges. Also hat die Menschheit jetzt nur noch die Wahl, entweder die Institution des Krieges zu überwinden oder sich selbst zugrundezurichten.

Kubbig: Sie haben in den letzten Jahren nach Erscheinen des Buches „Die Uranmaschine“ des US-Historikers Mark Walker wiederholt erklärt, daß Sie etwa bis 1940/41 durchaus nicht ausgeschlossen haben, eine deutsche Atombombe könne gebaut werden. Im Juli 1940 haben Sie das Heereswaffenamt in einem Bericht darüber informiert, daß mit Plutonium Atomsprengköpfe hergestellt werden könnten.

Hieran möchte ich zwei Fragen anschließen. Erstens: Wie stellen sich Ihre damaligen Positionen und Aktivitäten für Sie heute dar? Zweitens: Zeigen nicht ihre Farm Hall-Äußerungen, daß sich in Ihnen bereits ein beachtlicher Lernprozess in der Zeit zwischen 1940/41 und 1945 vollzogen hatte?

von Weizsäcker: September 1939, Beginn der Uranarbeiten in Deutschland unter der Organisation des Heereswaffenamtes. Ich fühlte mich verpflichtet gegenüber den Menschheitsproblemen, daran mitzuarbeiten. Warum? Später, ca. 1945, sagte ich mir: Ein solches Risiko darf ich nicht noch einmal in meinem Leben eingehen.

Reaktionen 1939: Ich bewog Heisenberg mitzuwirken. Seine Antwort: „Hitler hat einen Krieg angefangen, den er in einem Jahr verlieren wird. Bis dahin kann keine Atombombe fertig sein. Aber der »kriegswichtige« Auftrag rettet die Mitarbeiter vor dem Militärdienst oder anderen wirklich kriegstechnischen Arbeiten. Wir sollten erkennen, ob und wann die Bombe möglich ist und dann erkennen, wie wir weiter handeln müssen. Und nach dem verlorenen Krieg müssen wir für unsere Mitmenschen in Deutschland dasein.“

Ich bewog Hahn mitzuarbeiten, mit dem einzigen Argument der Rettung seiner Mitarbeiter. Sein Institut würde ohnehin nicht technisch an einer Bombe arbeiten. Aber sehr eilig sagte er: „Ich würde es tun. Aber wenn durch meine Entdeckung Hitler eine Atombombe bekommt, bringe ich mich um.“

Ich selbst empfand: Wenn ich mir die weiße Weste bewahren kann, indem ich nicht an diesem Problem arbeite, tue ich nichts, um zur Überwindung des Krieges beizutragen. Naiv dachte ich: Wenn ich einer bin, der weiß, wie man solche Waffen macht, muß meine Regierung mit mir vertraulich sprechen. Könnte ich nicht Hitler dann zu einer friedfertigeren Politik bewegen? Das war mein ganzer Irrtum. Mein Lernprozeß zwischen 1940 und 1945 war, daß ich etwa 1941/42, zu der Überzeugung kam, daß wir in Deutschland keine reale Bombe machen konnten. Ich glaube auch heute, daß das faktisch richtig war. Dies beruhigte mich, denn das Risiko, das ich soeben als Irrtum charakterisiert habe, erschreckte mich natürlich von Anfang an.

Kubbig: General Groves zitiert Sie in seinen Memoiren (S.334) aus den abgehörten Gesprächen von Farm Hall mit dem Satz :„I think it's dreadful of the Americans to have done it. I think it is madness on their part.“ Hierauf antworteten Ihre Kollegen Heisenberg und Hahn: „One can't say that. One can equally well say 'That's the quickest way of ending the war`.“ (Heisenberg) „That's what consoles me.“ (Hahn)

Drei Fragen habe ich an Sie, Herr von Weizsäcker: Haben Sie Ihre Position bis heute beibehalten? Haben Sie damals zwischen den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki unterschieden? Und: Wie war Ihre unmittelbare Reaktion auf die Atombombenabwürfe?

von Weizsäcker: Hiroshima, als Angriff auf eine bewohnte Stadt, war für mich ein tiefer Schock. Und die Bombe war früher da, als ich inzwischen gehofft hatte. Meine Erwartungen A und B waren erfüllt. Nun ist C die große Aufgabe.

Kubbig: In Ihren „Unabgeschlossenen Aufzeichnungen vom August 1945“, die Sie erstmals in Ihrem Sammelband „Der bedrohte Friede“ (München 1981, S. 17ff.) veröffentlichten, haben Sie geschrieben (S. 17 bzw. S. 20): „Heute tragen wir, und zwar jeder von uns, der geholfen hat, die Kenntnis des Atomkerns zu fördern, mit an der Schuld am Tode von 90.000 Männern, Frauen und Kindern, mit an Verwundung und der Heimatlosigkeit von Hunderttausenden. (…) Die Verantwortung für das, was im August 1945 in Japan geschehen ist, kann von der Gruppe, die die Bombe entwickelt hat, nicht genommen werden.“

Drei Fragen hierzu, Herr von Weizsäcker: 1. Gibt es so etwas wie eine »Kollektivverantwortung« oder gar »Kollektivschuld« aller an den damaligen Atomprogrammen beteiligten Physiker? 2. Sprechen Sie den US-Wissenschaftlern im Hinblick auf Hiroshima und Nagasaki eine besondere Verantwortung zu? 3. Hätte es das US-Atomwaffenprogramm ohne das deutsche Atomwaffenprogramm gegeben – und wenn ja, hätte das aus Ihrer Sicht notwendigerweise nach sich ziehen müssen, Hiroshima und Nagasaki zu bombardieren (wie Sie sicherlich wissen, ist in den USA eine neue Diskussion über die Zielpolitik der US-Regierungen ab 1943 entbrannt: einem gefundenen Dokument zufolge soll Japan – und nicht Deutschland – bereits 1943 als Ziel für amerikanische Bombenabwürfe bestimmt worden sein; das war zu einem Zeitpunkt, als die USA noch nicht sicher sein konnten, daß Deutschland kapituliert – die US-Entscheidungsträger ließen sich dabei von der Überlegung leiten, daß eine über Deutschland abgeworfene Atombombe Ihnen und Ihren Kollegen zuviel atomares Wissen zuspielen würde).

von Weizsäcker: 1.) Es gibt keine legale, keine von außen vorwerfbare Kollektivverantwortung. Aber wer von uns darf damit sein spontanes Mitschuld-Empfinden verdrängen? Dieses Empfinden ist eine Gewissenspflicht.

2.) Natürlich hatten die Physiker, die die Bombe faktisch hergestellt haben, den meisten Anlass zu solchen Gewissensregungen. Und sie wandten sich alsbald der Friedenssicherung als Hauptpflicht zu. Nur das war für sie der Trost, ja die dann mit der Atombombe verbundene Hoffnung.

3.) Das amerikanische Atomwaffenprogramm war eine Folge der Sorge vor einem deutschen Programm. Aber im Grunde wußten wir alle das, was ich gelegentlich so ausgedrückt habe: „Hitler vergeht, aber die Bombe besteht.“ Ich erwartete 1945 einen baldigen Krieg zwischen Amerika und Rußand. Vielleicht ist er wirklich nur durch die Existenz der Bombe einige Jahrzehnte lang vermieden worden. Aber das war niemals die endgültige Lösung. Die politische Moral muß sich so radikal verändern, wie es seit Jahrtausenden nur die Hochreligionen zu denken gewagt haben.

Kubbig: Wie sind Sie nach 1945 auf Ihre japanischen Kollegen und auf Überlebende von Hiroshima und Nagasaki zugegangen und wie jene auf Sie?

von Weizsäcker: Ich hatte leider keinen Kontakt mit Japanern in oder kurz nach dem Krieg.

Über Carl Friedrich von Weizsäcker
Carl Friedrich von Weizsäcker, geb. 1912, war Schüler und Kollege Werner Heisenbergs, bei dem er bereits 1933 promovierte. Neben Heisenberg gehörte von Weizsäcker zu den wichtigsten Physikern des Atomprogramms im Dritten Reich. Nach der Kapitulation internierten ihn die Alliierten mit den anderen führenden Atomwissenschaftlern auf dem britischen Landsitz »Farm Hall«. Dort erfuhr er von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki als Resultat der Forschungen, die er selbst auch betreiben wollte.
Nach dem Krieg wird von Weizsäcker als Physiker, Philosoph und – später – Friedensforscher zu einer der wichtigsten Leitfiguren der Bundesrepublik. 1957 organisiert er mit der „Erklärung der Göttinger Achtzehn“ den Protest führender Physiker – unter ihnen Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg – gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik. Von 1970 bis 1980 leitet er das eigens für ihn in Starnberg geschaffene Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt. Von Weizsäcker hat sich beständig mit der Nuklearfrage auseinandergesetzt, in den letzten Jahren auch selbstkritisch mit seiner eigenen Rolle als Atomphysiker im Dritten Reich.
Dieses schriftliche Interview mit Carl Friedrich von Weizsäcker führte Dr. Bernd W. Kubbig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite