W&F 1995/4

Humanitäre Intervention

Zur ethischen Problematik eines neuen Typs militärischer Einmischung

von Hajo Schmidt

Die Weltgeschichte steckt voller Interventionen, und dieser Satz bleibt richtig auch dann, wenn wir uns auf militärische Interventionen beschränken. Wollte man sich – versuchsweise, es gibt hier kaum Einschlägiges – um eine Typologie historischer Interventionen bemühen, dann ließen sich mit Jürgen Osterhammel vier Formen unterscheiden: die besitzergreifende Intervention (zu Expansionszwecken), die Big-Stick-Intervention (zu Ordnungs- und Machtdemonstrationszwecken), die (meist eine Hegemonialmacht schwächen sollende) sezessionistische Intervention und die humanitäre Intervention.1)

Während an Belegen für die drei erstgenannten Interventionstypen (leider) kein Mangel besteht, müssen wir es wie Osterhammel und andere Bearbeiter dieser Problematik durchaus offen lassen, ob in den letzten Jahrzehnten (etwa: Indien in Ostpakistan, Tansania in Uganda, Vietnam in Kambotscha) echte, das heißt primär humanitär motivierte Interventionen stattgefunden haben, oder ob diese nur aus nachvollziehbaren Gründen als solche qualifiziert wurden. Ist der Sachverhalt heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, eindeutiger, wenn »humanitär« interveniert werden soll unter Führung der UNO und in Anerkennung allgemein verbindlicher völkerrechtlicher Normen? Schon die notorische Instrumentalisierung der UNO durch mächtige Staaten und Interessen wird uns an einer schnellen Zustimmung hindern. Doch sei dies, wie es wolle: Für eine normative Würdigung des Problems ist es letztlich unerheblich, ob wir es im Falle humanitärer Interventionen mit einer neuen politisch-militärischen Institution oder lediglich einem politisch-ethischen Anspruch zu tun haben. Denn auch dieser ist ein sozialer Fakt, der politische und gegebenenfalls rechtliche Konsequenzen hat und daher geschichtsmächtig werden kann.

Humanitäre Intervention – ihre Problematik und historische Verortung

Schon der Euphemismus des Begriffs »humanitäre Intervention« muß Vorbehalte wecken. Zum Schutz und zum Wohl fremder Menschen militärische Zwangsmittel auf fremden Territorien einzusetzen – sollte man in diesem Vorhaben nicht eher eine contradictio in adiecto, zumindest aber ein Hasardspiel erkennen, in dem die Gewaltätigkeit des Mittels jederzeit die Nobilität der Zwecke zu überwältigen droht? Aber nicht nur die materielle, auch die rechtliche Qualität des einzusetzenden Mittels provoziert Bedenken.Die Souveränität des modernen Staates bestätigt sich außenpolitisch und völkerrechtlich darin, daß in ihn nicht (militärisch) interveniert werden darf. Zunächst eine Frucht des Westfälischen Friedens, erfuhr der Zusammenhang von Staatssouveränität und Interventionsverbot nach dem Zweiten Weltkrieg globale Anerkennung und bestätigte im UNO-System gerade den vom Kolonialismus befreiten Ländern ihre völkerrechtliche Gleichstellung mit den Gründerstaaten. Verständlich, daß gerade diese Neugründungen – potentielle Interventionsobjekte der neunziger Jahre – sich gegen jede Aufweichung des Zusammenhangs von Staatssouveränität und Nichtintervention sperren; verständlich auch, daß selbst die oben als mögliche »humanitäre Interventen« qualifizierten Staaten kein Interesse an einer völkerrechtlichen Festschreibung ihres Tuns bzw. ihrer Motive zeigten. Notwendigerweise rüttelt die Legitimation eines bestimmten Interventionstyps an den Grundlagen des bestehenden Völkerrechts. Die ethische Fragwürdigkeit von Interventionen wird deutlich, anerkennt man die nicht rechtsqualitative, so doch strukturelle Ungleichheit der in einen Interventionsvorgang verwickelten Parteien. „Intervention ist in einem doppelten Sinne asymmetrisch: Zum einen setzt sie ein allgemeines … Machtgefälle voraus, ist also typischerweise eine Big-Brother-Verhaltensweise. Zum anderen hat sie in der Regel asymmetrische Folgen: Im Unterschied zu einem Krieg zwischen Staaten, der unter modernen Bedingungen von tendenziell totalem Krieg tiefgreifende Auswirkungen auf beide (oder alle) beteiligten Gesellschaften hat, trifft die Intervention in voller Schwere nur den Zielstaat, während sie dem intervenierenden Staat allenfalls Kosten verursacht 2). Wie selbstverständlich lokalisiert sich der Interventionsdiskurs in der Perspektive der (Über-) Macht und verleiht der anderen Seite zwingend den Charakter des Verfügbaren, eines Maßnahmeobjekts – was neue Ungerechtigkeiten geradezu herausfordert.

Fügen wir diesen Einwänden als letzten noch die ethisch bedeutsame Einsicht hinzu, daß die Anerkennung weder von Menschenrechten noch von moralischen Werten allgemein militärisch erzwungen werden könne; was in diesen Dingen nicht freiwillig übernommen werden könne, das werde zurecht als Octroi empfunden, als eine neue Drehung in einer Spirale der Gewalt.

Ohne Zweifel: Das sind gravierende Bedenken und Erinnerungen, Herausforderungen für jede seriöse Interventionsapologie. Gleichwohl wäre es zu kurz gegriffen, die Rede von humanitärer Intervention einfach als machtpolitisch motivierte Ideologie abzutun, anstatt die Dialektik der Geschichte wie gegenläufige Bewertungen zur Kenntnis zu nehmen.

Vieles spricht dafür, daß die Hoch-Zeit qua Globalisierung zugleich den beginnenden Abstieg des Prinzips der Staatssouveränität und seines Nicht-Interventionskorrollars markiert. „Normative claims for the role of human rights, the strategic logic of deterrence (which acknowledged that »defense« of territory and population were not possible), economic interdependence (including issues of the environment), and the process of »pooling« of sovereignty that marks European politics (home of the sovereign state) have all posed distinct challenges to the traditional concept of sovereignty.“ 3 Dramatischer noch stellt sich dieser Prozeß der Entmächtigung und der Überforderung des Einzelstaates hinsichtlich seiner Schutz- und Integrationsfunktionen dar im Falle der auseinanderbrechenden Staaten der ehedem Zweiten wie der mehrheitlich schwachen Staaten der Dritten Welt. Hier brechen allenthalben ethno-soziale Frontlinien auf, entwickeln sich Antiregime- oder sezessionistische Kriege, die rein quantitativ mittlerweile den klassischen zwischenstaatlichen Krieg – den zu verhindern doch die vornehmste Aufgabe der UN-Ordnung war – abgelöst haben.

In doppelter Hinsicht müssen diese Auseinandersetzungen internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auf Grund der häufigen territorialen Nichtkongruenz von ethnischer und staatlicher Zugehörigkeit der streitenden Gruppen haben diese akuten oder drohenden Bürgerkriege meist eine internationale (bedrohliche) Dimension,4 die ein ruhiges Abwarten der Nachbarstaaten ebensowenig wie der inter- und supranationalen Organisationen gestattet – dies umso weniger, als die extreme Gewalttätigkeit der Kämpfe, vom Irak über Bosnien bis Rwanda, in grellem Kontrast steht zu der gerade von der UNO promovierten „Internationalisierung der Menschenrechte“ 5.

„In diesen Konflikten wird eine Gewalt angewendet, die keine Regeln der Selbstbegrenzung mehr anzuerkennen scheint. Die Bestimmungen der Genfer Konventionen von 1949 und der Zusatzprotokolle von 1977 werden mit offenbar zunehmender Rücksichtslosigkeit verletzt. Der Schutz der »Zivilbevölkerung« ist nicht gewährleistet, sie wird z. T. gezielt in das Kriegsgeschehen einbezogen.“ 6 Hier deutet sich an, daß die ethisch motivierte Zurückweisung des Ansinnens, die Anerkennung von Menschenrechten militärisch zu erzwingen, nur die halbe Wahrheit ausspricht. Darf es in ethischem Betracht bei militärischen Eingriffen in derartige Konflikte doch nicht um die Gesinnung der Täter, sondern muß es um den allerdringlichsten, oft unaufschiebbaren Schutz der Opfer gehen.

Die weitere Entwicklung des Völkerrechts bleibt abzuwarten. Wenngleich zur Stunde kaum Rechtsgrundlagen für humanitäre Interventionen auszumachen sind und selbst massive Menschenrechtsverletzungen nur als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sanktionsfähig sind, könnten die UN-Resolution 688 vom 5. April 1991 und zumal die Somalia-Resolution vom 3. Dezember 1993 ein langsames Umdenken in Richtung einer völkerrechtlichen Legitimierung menschenrechtlich begründeter (»humanitärer«) Interventionen indizieren. Gut möglich, daß sich eine kritische Öffentlichkeit von der Politischen Ethik größere Klarheit erhofft, wie der Zwiespalt zwischen der überkommenen Weisheit des Interventionsverbots und der Unerträglichkeit verletzten Menschenrechts zu überwinden sei. Gewiß aber suchen viele in dieser verzweifelten Situation nach einem Beurteilungsmaßstab, der sich nicht am einzelstaatlichen Interessenkalkül, sondern an übergreifenden (humanen) Interessen orientiert und dessen Kriterien vereinbar sind mit ihren innersten moralischen Überzeugungen.

Humanitäre Intervention – ethische Würdigungen und Kontroversen

Beide Wünsche zu erfüllen, ist nicht leicht und verlangt, eine polyphone und durchaus kontroverse Diskussion zur Kenntnis zu nehmen, ehe sich eine begründete eigene Position ins Spiel bringen läßt. Die nachfolgende exemplarische Vorstellung und Überprüfung dreier vieldiskutierter Interventionsethiken7 präsentiert zentrale einschlägige Prinzipien, Widersprüche und Desiderate, deren Kommentierung und systematische Zusammenführung dem Leser weitere Klarheit und auch eine Idee von der Position des Verfassers vermitteln sollen. Letztere werde ich abschließend dann im Hinblick auf den Schwerpunkt dieses Heftes weiter zu profilieren versuchen.

Die aktualisierte bellum-iustum-Doktrin

Die älteste hier vorzustellende ethische Tradition, in der Vergangenheit allzu oft willfähriges Rechtfertigungsinstrument einzelstaatlicher Kriegsführung, gilt vielerorts als hoffnungslos diskreditiert. Sieht man genauer auf die Inhalte, dann wird ein distanzierteres Urteil der Doktrin vielleicht eher eine fundamentale Ambivalenz bescheinigen. Wenn es nicht nur einer »legitimierten Obrigkeit« (legitima potestas), sondern zugleich eines »gerechten Grundes« (iusta causa als einseitig-manifestes Unrecht des Gegners) wie einer »rechten Absicht« (recta intentio als Wiedergutmachung und Friedensschaffung) bedurfte, um legitim Krieg zu führen, dann mochte man sich schon zu Augustinus' Zeiten (345-430) fragen, ob hier das spätrömische Kriegswesen für Christen reputierlich gemacht oder als letztlich illegitim denunziert werden sollte.

Klar ist vielen Anhängern dieser Tradition, daß sich der überkommene Gerechtigkeitsanspruch einer bestimmten Sorte von Angriffskriegen (als Interventionsextremen) weder moralisch noch rechtlich weiter rechtfertigen läßt. Moralisch betrachtet, bedroht das Zerstörungspotential moderner Waffensysteme jede vernünftige Zweck-Mittel-Kalkulation von innen her; darüber hinaus beraubt uns das Fehlen einer allgemeinverbindlichen Vorstellung einer gerechten sozialen Ordnung der Möglichkeit, militärische Maßnahmen und Effekte „von der Gerechtigkeit ihrer Zwecke her … zu beurteilen“. Völkerrechtlich aber hat das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta das ius ad bellum souveräner Staaten aufgehoben und „ein überpositives Selbstverteidigungsrecht zwar eingeräumt, aber auf ein befristetes subsidiäres Notrecht unter der Prärogative des Sicherheitsrates zurückgedrängt (Art. 51 UN-Charta).“ 8

Auffallend ist das Anpassungsvermögen der bellum-iustum-Tradition an neue Situationen und normative Optionen. Wird der – m.E. nur noch für den notrechtlichen Selbstverteidigungsfall kriegerisch legitimierte – Einzelstaatsouverän (Regierung/Parlament) in der Funktion der legitima potestas ersetzt durch die Internationale Gemeinschaft selbst, so verändert dies den Gehalt und Zusammenhang aller anderen Legitimationskriterien. Die »gerechten Gründe« etwa ließen sich jetzt begrenzen auf das unverschuldete Attackiertwerden eines Einzelstaates sowie auf massive und andauernde Menschenrechtsverletzungen. Die »rechte Absicht« bestünde, dem Hauptzweck des UN-Systems gemäß, in der Wiederherstellung friedlicher Verkehrsverhältnisse und gesicherten Menschenrechts etc.

Besonderes Gewicht käme heute sicher dem (doppelten) Kriterium der »Verhältnismäßigkeit« zu – der durch den Krieg bzw. der Intervention bewirkte Schaden darf das Gute (soweit vorhersehbar) nicht übersteigen; jedes konkrete Gewaltmittel ist auf seine Ersetzbarkeit durch weniger gewaltträchtige Mittel und Aktionen hin zu überprüfen – sowie dem »ultima-ratio«-Kriterium: Militärische Gewalt ist erst dann legitim, wenn klar ist, daß gewaltfreie Mittel nicht gegriffen haben oder nicht rechtzeitig greifen können.

Kantianischer Anti-Interventionismus

Am Ausgang des 18. Jahrhunderts hat Kants Friedensethik den Gerechtigkeitsanspruch von Kriegen schlankweg bestritten. Als »Rechtsgang«9 tauge der Krieg nicht, weil über seinen Ausgang nicht ethische und Rechtsgründe, sondern die Qualität von Strategien, Waffen und Soldaten befinde. Grundsätzlich spreche gegen den Krieg – und darum kann auch der legitime Verteidigungskrieg nicht »gerecht« genannt werden – , daß er Leben und Freiheit Unschuldiger zerstört und gefährdet und den Selbstzweck Mensch zum Mittel werden läßt.

Konsequenterweise ist Kant Anti-Interventionist. Außer im Falle offenkundiger Anarchie gilt: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.“ (5. Präliminarartikel der Friedensschrift)10 Kants Anti-Interventionismus ist aber nicht nur moralphilosophisch, er ist zugleich rechtslogisch begründet: Nur ein intakter, weder von innen noch von außen in Frage gestellter Staat kann den vernunftgeforderten Rechtsfortschritt gewährleisten; kann mithin den institutionellen Rahmen eines die individuellen Rechte garantierenden, dabei entwicklungsfähigen Systems der Gerechtigkeit abgeben.

Indem Kants doch strikte menschenrechtlich orientierte Politische Ethik die Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität betont, demonstriert sie, ein wie hohes Gut das Interventionsverbot des Völkerrechts ist und auf unabsehbare Zeit bleiben muß. Und doch wurde zurecht daran erinnert, daß auch für Kant dieses Prinzip nicht ohne Ausnahmen bleibe. Sei eine Intervention im Falle eines »ungerechten Feindes« (hostis iniustus) – eines Herrschers etwa, der sich grundsätzlich über Verträge und Abmachungen hinwegsetze – als Akt der Selbstverteidigung einer auf Rechtsvereinbarungen beruhenden Staatengemeinschaft zumindest erlaubt, so sei sie im Falle eines »Feindes des Volkes« (hostis populi) zwingend geboten: „If an autocrat, a ruling race, ethnic group or party persecutes and exterminates parts of the people, causes a large-scale massacre amonst the citizens, then military intervention is not only morally permissible, but morally required…“ 11

Die hostis-populi-Einschränkung erst macht die kantische Ethik – Betonung des menschenrechtsdefizitären Interventionismus, Legitimation desselben in Extremfällen; Verbot des Demokratie- und Menschenrechtsexports – in sich stimmig12 und bezeugt deren kriteriale Aktualität. Zwei Probleme aber, Schwerpunkte auch der heutigen Diskussion, müssen zumindest notiert werden.

Kann man die Pflicht zur Intervention im angegebenen Falle auch dem Einzelstaat zusprechen, obwohl damit gerechnet werden muß, daß diesem daraus ein hochwillkommener Vorwand (»gerechter Grund«!) zur kriegerischen Verfolgung eigener Interessen erwachsen kann? Kann überhaupt die uneigennützige Feststellung, daß eine menschenrechtlich unerträgliche Situation vorliegt, von einer anderen als einer supranationalen Instanz erwartet werden? Und zum zweiten: Müßte eine einschränkungslose Pflicht zur Intervention im angegebenen Falle nicht jede zur Zeit denkbare völkerrechtliche Friedensordnung überfordern und damit vielleicht noch kriegerischere Zeiten heraufbeschwören?

Die kommunitaristische Interventionsethik und ihre Kritiker

Michael Walzers Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes politischer Gemeinschaften13 verleiht der ethischen Interventionsdebatte eine bisher noch nicht thematisierte Dimension. Gründete der kantianische Anti-Interventionismus in der erstrangigen Rechtsschutzfunktion jedes Staatsgebildes, so schätzt Walzer den Staat als Ergebnis und Terrain politischer Selbstbestimmung. „The state is presumptively … the arena within which self-determination is worked out and from which, therefore, foreign armies have to be excluded.“ 14 Das auch Kant nicht fremde kollektive Selbstbestimmungsrecht bleibt bei diesem ein aus individuellen Grundrechten abgeleitetes Recht, wohingegen für Walzer der gemeinschaftliche Selbstbestimmungsprozeß individuelles Menschenrecht erst ausformt und in Geltung setzt. Offensichtlich relativiert diese Fokussierung des Selbstbestimmungsrechts sowohl das Gewicht menschenrechtlicher Interventionsbegründungen wie die Berufung auf eine unantastbare Staatssouveränität.

In bestimmten Fällen, allesamt darstellbar als Verletzungen oder Verhinderungen politischer Selbstbestimmung, gibt es also Ausnahmen vom Interventionsverbot: „Es ist möglich, in andere Staaten einzumarschieren und einen rechtmäßigen Krieg zu beginnen, um separatistische Bewegungen, die ihren repräsentativen Charakter unter Beweis gestellt haben, zu unterstützen; um ein Gleichgewicht zu der vorangegangenen Intervention einer anderen Macht zu schaffen; und um Menschen zu retten, die von einem Blutbad bedroht sind.“ 15 Letzterer Fall, der unter sich Massaker, Genozide und Versklavungen begreift,16 legitimiert eine humanitäre Intervention im eigentlichen Sinne.

Die kommunitaristische Ethik politischer Selbstbestimmung erinnert an die zahllosen und blutigen Kämpfe, die auch in der westlichen Welt den Menschen- und Bürgerrechten erst Definition und Geltung verschaffen und deren Rolle und Bedeutung nicht einfach durch allfällige Interventionen substituiert werden können. Darüber hinaus belegt sie, daß nicht nur interkulturell, sondern in der westlichen Kultur selbst der gemeinhin behauptete vorpolitische bzw. vorsoziale Charakter der Menschenrechte umstritten, damit aber auch deren generelle Universalisierungsfähigkeit bestreitbar ist.

Schon um dem Eindruck entgegenzutreten, Interventionsethiken stünden militärischen Interventionen grundsätzlich ablehnend gegenüber, möchte ich darauf hinweisen, daß Walzers Hauptwerk eine massive Kritik hervorrief, die vornehmlich die Knappheit legitimierender Gründe für humanitäre Interventionen sowie Walzers vorgebliche Hypostasierung von Staat und Selbstbestimmungsrecht aufs Korn genommen hat. Beate Jahns Aufarbeitung dieser Debatte monierte zweierlei, auch für hiesige Diskussionen bedenkenswerte Hauptschwächen der Walzer-Kritik. Zum einen zeichnete diese nicht nur ein wie selbstverständlicher bias für das westlich-liberale Gesellschaftsmodell aus, sondern auch ein erstaunlich uneinheitliches Verständnis der als Interventionsreferenzen postulierten Menschenrechte. Tatsächlich wurden „weitreichende militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte legitimiert, diese Rechte aber weder jedem Individuum noch jeder politischen Gemeinschaft grundsätzlich zugestanden“.17

Zum anderen konstatierte Jahn eine auffallende Mißachtung der Grundlagen und Voraussetzungen der inkriminierten Menschenrechtsverletzungen, die doch nur zu häufig darin zu suchen sind, daß vielen Völkern die für westliche Staatsvölker übliche Selbstbestimmung in der Vergangenheit verwehrt wurde und auch zukünftig verwehrt bleiben soll. Anstatt auf die Karte militärischer Gewalt zu setzen, empfiehlt Jahn hier, eine dringend erforderliche Menschenrechtspolitik über die Aufgabe der Unterstützung menschenrechtsverachtender Regime und eine phantasievoll und kooperativ angelegte Politik der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts politischer Gemeinschaften zu betreiben.18

Zur Systematik interventionsethischer Reflexionen

Nicht weniger als das ultima-ratio-Prinzip der Doktrin des gerechten Krieges erinnert uns Jahns Empfehlung an die erste Aufgabe jeder Friedensethik, nach Alternativen zur militärischen Gewalt zu suchen.

Zumindest indirekt weist Jahn aber noch auf einen weiteren Aspekt humanitärer Interventionen, der ethisch bedrückend und zugleich politisch aktuell ist. Wie könnte ethisch gerechtfertigt werden, daß eine an der selbständigen Durchführung militärischer Interventionen grundsätzlich und mit Bedacht gehinderte UNO Staaten mit der Durchführung eben derselben betraut, deren aktive Verstrickung in die Situation unübersehbar ist? Wie könnten dieselben Staaten umstandslos zu vorgeblich uneigennützigen Agenten des Menschenrechts mutieren, die als hauptsächliche Mitverursacher der Verletzung desselben gelten müssen? Wie immer angewiesen eine schwache UNO auf die Ressourcen mächtiger Einzelstaaten sein mag – im Falle der Hauptverantwortlichen muß eine den Schuld- und Verantwortungsaspekt interventionistischen Handelns bedenkende Politische Ethik das Prinzip der Abstinenz, darüber hinaus aber für diese Staaten wie die Internationale Gemeinschaft überhaupt das Prinzip der Wiedergutmachtung stark machen!

Nutzen wir nun die vorgestellten interventionsethischen Ansätze für einige zentrale Vorschläge hinsichtlich der ethisch legitimierten Veranlassungen, Akteure und Instrumente von humanitären Interventionen.

Was zunächst die legitimen Interventionsgründe betrifft, so plädieren alle drei Ethiktypen für die Beschränkung derselben auf massive Menschenrechtsverletzungen. Tobias Debiels Differenzierung dieser Menschenrechtsverletzungen19 erscheint mir besonders überzeugend: Völkermord; massenhaftes Sterben von Menschen infolge von Krieg, Chaos und unterlassener Hilfeleistung bei Hungerkatastrophen; Massenvertreibungen aus rassistischen u.ä. Gründen. Walzers so hart attackierte Beschränkung der Rechtfertigungsgründe humanitärer Interventionen verdient also volle Unterstützung, weil in Zeiten unbestreitbarer Universalisierungs- und Geltungsprobleme hinsichtlich auch zentraler Menschenrechte ein Set von Kriterien nur hilfreich sein kann, den wir wenn nicht mit den Exekutoren, so doch den Opfern gravierender Menschenrechtsverletzungen mit Gewißheit teilen.

Beachtung verdient aber auch Walzers Insistieren auf dem überkommenen Prinzip der (Priorität der) Selbsthilfe, das die Legitimität externer gewalttätiger Eingriffe vom erklärten Verzicht der Betroffenen, sich selbst zu helfen, abhängig macht. Selbstverständlich dispensiert das Prinzip der Selbsthilfe nicht von externer Verantwortung, sondern bietet seinerseits eine ethische Rechtfertigung für alle (nicht militärische) Arten willkommener externer Hilfeleistung und ziviler Intervention.

Was nun den zur militärischen Zwangsausübung legitimierten Akteur angeht, so sollte keine Ethik den völkerrechtlichen Dispens eines unilateralen Interventionsrechts rückgängig machen. Die Auffassung, daß zuletzt nur die UNO oder eine von ihr legitimierte und ihr gegenüber verantwortliche regionale Friedens- bzw. Sicherheitsorganisation über die Notwendigkeit einer humanitären Intervention beschließen und diese durchführen kann, teile ich mit vielen, im übrigen auch kantianischen,20 Interventionsethikern. Allein eine Institution, die das Menschenrecht materiell bestimmt und festschreibt, über seine Verletzung in concreto befindet und für die geeigneten Gegenmaßnahmen sorgt, kann sich gegenüber dem Menschenrechtsverletzer mit dem klassischen Legitimationsprinzip »volenti non fit iniuria«21 schmücken. Hieraus folgt natürlich auch, daß alle militärischen Maßnahmen durch die Truppen und unter dem Kommando des legitimen Akteurs zu erfolgen haben.

Graue Theorie? Stolperstein jeder ethischen Interventionsapologie, solange die UNO auf die militärischen Kapazitäten zumindest von Staatenbündnissen angewiesen und damit auf die Respektierung staatlicher Eigeninteressen verwiesen ist? Nicht unbedingt: Die den einzelnen Leviathan wahrscheinlich allererst zum Handeln veranlassenden Eigeninteressen können solange als interventionsethisch unbedenklich gelten, als institutionell und konkret dafür Sorge getragen wird, daß im Konfliktfalle das »um der Humanität willen« Geforderte den Vorrang gegenüber allen anderen Zwecken behauptet.

Dürfte das Ziel einer humanitären Intervention bzw. die dem Interventionakteur abzuverlangende »rechte Gesinnung« in der Regel darin bestehen, die blutigen Konflikte zu beenden, die Verbrechen gegen das Menschenrecht zu stoppen und künftige zu verhindern, das Recht wieder zur Geltung zu bringen und die Friedenskräfte zu stärken,22 dann stellt sich die Frage, welche legitimen Mittel für diesen umfassenden Zweck zur Verfügung stehen. Erinnern wir uns an das Verhältnismäßigkeitskriterium der bellum-iustum-Tradition, das sich auch als Grundsatz der zu vermeidenden Selbstwidersprüchlichkeit der praktischen Vernunft explizieren ließe:

Zur Erreichung ihrer humanitären Zwecke dürfen Interventen nicht gleiches oder größeres Unrecht oder Leid verursachen als das, was den Interventionsgrund abgegeben hat. Der primäre Schutz von Leib und Leben und der psychischen Integrität der bedrohten Bevölkerung verlangt einen äußerst restriktiven Einsatz militärischer Gewaltmittel und -strategien. Das bedeutet genauer: Legitime Gewaltmittel müssen geeignet, d. h. erfolgversprechend im Hinblick auf das vorgegebene Interventionsziel sein, außerdem aber müssen sie auch erforderlich sein, d.h. sie dürfen nicht ohne Not den gewaltärmeren Mitteln vorgezogen werden.

Fazit und Ausblick

Auf Grund der unentwirrbaren Motivgemengelage auch multi- und suprastaatlicher Akteure, der unbefriedigenden institutionellen Gegebenheiten und der unkalkulierbaren Kollateralschäden halte ich die Politische Ethik für grundsätzlich überfordert, bestimmte, angemahnte oder durchgeführte Interventionen als legitim bzw. ethisch unerläßlich zu erweisen. Hier muß man immer mit mehr oder weniger guten ethischen Argumenten, mit mehr oder weniger Gerechtigkeit rechnen.

Grundsätzlich aber sollte eine Politische Ethik ihre Urteile nicht einfach von einer bestehenden Realität und Praxis abhängig machen, zu deren Werden sie kaum oder gar nicht hat beitragen dürfen. Entsprechend zielt auch die Logik dieses kleinen Beitrags genauer auf eine Politik der institutionellen und materiellen Umsetzung bestimmter rechtsethischer Kriterien und Postulate, deren sukzessive Realisierung die ethische Angemessenheit und Glaubwürdigkeit gewalttätiger Aktionen aus humanitären Gründen erhöhen würde. In bezug auf notwendige Weiterentwicklungen des UN-Systems möchte ich diesen Gedankengang abschließend weiter konkretisieren.

Mit inhaltlichen Nuancen sind sich fast alle Interventionsethiken darin einig, in massiven Menschenrechtsverletzungen humanitäre Interventionen legitimierende Gründe zu erkennen. Der bekannte Einwand, diese Rechtfertigungsfigur transportiere den kulturimperialistischen Überlegenheitsanspruch westlichen Menschenrechtsdenkens, dürfte in der Regel den Unterschied von Genesis und Geltung verkennen. Der geographisch und historisch zufällige Ursprung von Erkenntnissen und Normen widerspricht aber keineswegs einem auf dieselben bezogenen universellen Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch. Nur – wer befindet über diesen, oder anders: Woher nehmen wir den Geltungsgrund?

Dieser soll auch hier in die universelle oder als universell möglich unterstellte Akzeptanz der in Anspruch genommenen Normen gesetzt werden, den zuletzt nur reale demokratische Verfahren zum Ausdruck bringen können. Es reicht hier nicht der Verweis auf die (insgesamt durchaus beeindruckende) menschenrechtliche Beschlußlage der internationalen Gemeinschaft, die völkerrechtlich zwar entscheidend, rechtsethisch aber zu relativieren ist. Zu oft nämlich dürften staatlicher Opportunismus und Interessenkalkül menschenrechtliche Zugeständnisse erkauft haben. Aber wichtiger noch: Alle einschlägigen Beschlüsse werden hier von Staatsvertretern, von Repräsentanten also der Mächte verabschiedet, denen gegenüber doch allenthalben Menschenrechtsansprüche erhoben und verteidigt werden.

Ich plädiere also für den diskursethischen Vorschlag, das Geltungspotential menschenrechtlicher Normen durch institutionalisierte Diskurse und Beschlüsse zu erhöhen, deren Partizipanten nicht Vertreter von Staaten und Regierungen, sondern von Kulturen und Völkern sein sollten; die mithin geeignet und verpflichtet wären, nicht nur strategisch die eigenen Ziele und Auffassungen durchzusetzen, sondern auch die Perspektiven aller anderen Teilnehmer zu übernehmen. Dieses – zu den institutionellen Gegebenheiten komplementäre – Programm ethischer Legitimationserhöhung könnte die alte Idee einer (zweiten) General Assembly der Völker wiederbeleben, der die Versammlung der Regierungen rechenschaftspflichtig wäre. Jedenfalls muß es zu stärker demokratisierten internationalen Institutionen führen, die statt der politischen und militärischen Macht die Macht des Wortes, des Kompromisses und des geregelten Verfahrens begünstigen.23

Anmerkungen

1) Vgl. dessen Beitrag Imperiale Interventionen. Eingriffe an der »Peripherie« im Zeitalter europäisch-amerikanischer Weltherrschaft. In: Friedenspolitik und Interventionspraxis. Studienbrief der FernUniversität Hagen. Hg. v. H. Schmidt. I.E. Zurück

2) Ebda., (Ms.) S. 65. Zurück

3) J. Bryan Hehir: Intervention: From Theories to Cases. In: Ethics and International Affairs 9 (1995), S. 3. Zurück

4) Zurecht sprechen Lewer und Ramsbotham hier von „international-social conflicts“, s. Lewer, N./Ramsbotham, O: „Something must be done“. Towards an Ethical Framework for Humanitarian Intervention. Peace Research Report No. 33. Department of Peace Studies, University of Bradford 1993, S. 2 u. passim. Zurück

5) Brock, L./Elliesen, T.: Humanitäre Intervention. Zur Problematik militärischer Eingriffe in innerstaatliche Konflikte. In: Umbruch in der Weltgesellschaft. Auf dem Wege zu einer »Neuen Weltordnung«? Hg. v. W. Hein. Hamburg 1994, S. 390. Zurück

6) Ebda., S. 383. Zurück

7) Eine umfänglichere komparative Behandlung kurrenter Interventionsethiken bietet mein Beitrag „Menschenrechte und militärische Gewalt. Zur ethischen Problematik »humanitärer Intervention"“. In: F. Nuscheler/T. Debiel (Hg.): Humanitäre Intervention. Bonn 1995 (i.E.). Ehrgeiziger noch ist das Ethik-Projekt von Lewer und Ramsbotham, vgl. Anm. 4. Zurück

8) Reuter, Hans-Richard: Frieden mit aller Gewalt? Aspekte politischer Ethik. In: Friedensgutachten 1994. Hg. v. F. Solms, R. Mutz und G. Krell. Münster/Hamburg 1994, S. 82. Zurück

9) I. Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In ders.: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik. Hamburg 1973, S. 133. Zurück

10) Ebda., S. 121. Zurück

11) W. Kersting: Pax Kantiana. Towards a Political Philosophy of International Relations. In: prima philosophia 6 (1993), S. 164. Zurück

12) Insofern sie nämlich das kategorische Verbot der Wiederherstellung des Naturzustandes nicht nur gegen aufrührerische Bevölkerungen und begehrliche Nachbarstaaten, sondern auch gegen terroristische Regierungen kehrt. Zurück

13) Vgl. dessen Hauptwerk: Gibt es den gerechten Krieg? Stuttgart 1982, insbes. S. 136-166, und dessen Beitrag: The Moral Standing of States: A Response to Four Critics. In: International Ethics. A 'Philosophy and Public Affairs' Reader. Hg. v. Ch. Beitz et al. Princeton, New Jersey 1985, S. 217-237. Zurück

14) Walzer 1985, S. 218. Zurück

15) Walzer 1982, S. 165. Zurück

16) Vgl. ebda., S. 141, 157. Zurück

17) B. Jahn: Humanitäre Intervention und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Eine theoretische Diskussion und ihre historischen Hintergründe. In: Politische Viertelsjahresschrift 34 (1993) H. 4, S. 577. Zurück

18) Ebda., S. 581. Zurück

19) T. Debiel: Humanitäre Intervention. Moralische Pflicht oder Türöffner für neokoloniale Machtpolitik? In: ami 22 (1992) H 10, S. 12. Zurück

20) Vgl. u.a. O. Höffe: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne. Frankfurt/M. 1990, insbes. S. 270-277; W. Kersting: Kant und die politische Philosophie der Gegenwart. Einleitung zur Taschenbuchausgabe von ders.: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (1984). Frankfurt/M. 1994, S. 11-86. Zurück

21) Also: Was ich selbst als Recht beschlossen habe, kann ich nicht, wenn es sich gegen mich kehrt, als Unrecht denunzieren. Zurück

22) Vgl. Schmidt, Hans-Joachim: Nichtmilitärische und militärische Interventionsmöglichkeiten aus ethischer und politikwissenschaftlicher Sicht. In: Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Hg. v. d. Arbeitsgruppe »Sicherheitspolitik« der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Bonn 1994, S. 23. Zurück

23) Der Anklang an Konzepte »kosmopolitischer Demokratie« ist beabsichtigt; zu letzterem s. vor allem D. Archibugi: The Reform of the UN and Cosmopolitan Democracy: A Critical Review. In: Journal of Peace Research 30 (1993) No. 3, S. 301-315 (mit weiterführender Literatur). Zurück

Hajo Schmidt ist Professor für Philosophie und Leiter der Arbeitsstelle Friedens- und Konfliktforschung der FernUniversität Hagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/4 Menschenrechte und Militär, Seite