W&F 2019/3

Hybride Kriegführung in urbanen Zentren

Relevanz für die zivile Verteidigung

von Dirk Freudenberg

Der Anteil der Weltbevölkerung steigt stetig und wird bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts auf zehn Milliarden Menschen anwachsen. 2050 werden etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben, u.a. in 43 Megastädten mit jeweils mehr als zehn Millionen Einwohner*innen. Auch die deutschen Großstädte legen seit Jahren zu. Dabei ist insbesondere der im Urbanen lebende Bevölkerungsanteil abhängig von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und so genannten Kritischen Infrastrukturen. Aus sicherheitspolitischer Sicht ergeben sich daraus für den Autor Herausforderungen für die Zivile Verteidigung, insbesondere unter den Bedingungen hybrider Bedrohungen bzw. Hybrider Kriegführung.

Das Verständnis darüber, was hybride Bedrohungen ausmacht und was sie von anderen Phänomenen abgrenzt, ist in der Literatur uneinheitlich. Hybride Kriegführung zeichnet sich nach der hier vertretenen Sichtweise dadurch aus, dass der Schwerpunkt der »Wirkmittel« wie der angegriffenen Ziele im zivilen Bereich liegt, das heißt, die eingesetzten Mittel entstammen nicht dem »klassischen« militärischen Waffenarsenal, und sie erzeugen ihre Wirkung vor allem im zivilen Raum. Für klassische konventionelle militärische Kräfte und Fähigkeiten könnte sich somit eine »Leere des Gefechtsfeldes« ergeben, da sie nicht mit einem äquivalenten Gegner konfrontiert sind, sondern dieser sein Militär allenfalls begleitend offen einsetzt, um hybride Aktionen zu verschleiern, zu unterstützen oder abzusichern.

Der Schwerpunkt von Verwundbarkeiten und der darauf abzielenden Effektoren1 liegt damit eindeutig im zivilen Bereich. Allerdings ist die Abhängigkeit der Bevölkerung und der Wirtschaft in Deutschland von zivilen Kritischen In­frastrukturen2 in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, sodass der Schutz Kritischer Infrastrukturen aus sicherheitspolitischer Sicht einen nationalen Sicherheitsfaktor darstellt. Hieraus erwächst die Forderung, Zivile Verteidigung3 nicht länger als eher lästiges Anhängsel einer vornehmlich militärischen Verteidigung, sondern als gleichwertigen Pfeiler einer Gesamtverteidigung anzusehen. Die Aufrechterhaltung des gesamtgesellschaftlichen Systems im Krisenfall verlangt danach, die Bedeutung der Zivilen Verteidigung anzuheben und ihre Fähigkeiten umfassend zu stärken.

Moderne Wirkmittel Hybrider Kriegführung

Zu den neuartigen Bedrohungen, welche die negative Kehrseite moderner Informationstechnologie darstellen, gehören Bedrohungen im und aus dem Cyberraum im Sinne krimineller oder kriegerischer Handlungen (Cyberwar). Es handelt sich hierbei um gezielte politisch oder ökonomisch motivierte Angriffe, bei denen die Informationstechnologie (IT) sowohl Ziel als auch Mittel zum Zweck sein kann. Beabsichtigt sind gewaltgleiche Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung oder auf die wirtschaftliche und/oder politische Handlungsfähigkeit eines Staats. Hier geht es um die Penetration, Lahmlegung oder sogar »Umdrehung« elektronisch gesteuerter Systeme eines Gegners, also seiner strategisch oder existenziell wichtigen Informatik, mit verheerenden Folgen für den Staatsapparat und seine Selbstbehauptung sowie für die Gesellschaft.

Von jedem beliebigen Punkt, egal ob auf dem Meer oder dem Land, in der Luft oder im Weltraum, sind Ziele im globalen virtuellen Cyberraum innerhalb von Sekunden erreichbar, bekämpfbar und ausschaltbar. Damit wird die räumliche Gewaltgrenze des Krieges weiter aufgelöst, der Krieg wird in diesem Szenario des Information Warfare ortlos, unsichtbar im räumlichen Nirgendwo, ohne zwischen der zivilen und der militärischen Sphäre zu unterscheiden. Ein Akteur kann seine konventionelle Unterlegenheit also durch asymmetrische Kriegführung kompensieren und auf elektronischem Wege Schäden an der Heimatfront des Gegners, insbesondere an dessen Kritischen Infrastrukturen, anrichten. Zudem ist die Anwesenheit des Störers oder Saboteurs am Anschlagsort nicht erforderlich – Angriffe können aus beliebiger Distanz über den Cyberraum erfolgen.

Dabei geht es vor allem darum, die Daten, die zum Betrieb eines militärischen oder zivilen Systems benötigt werden, zu manipulieren oder zu löschen; die materielle Zerstörung von Gütern oder Anlagen ist dazu nicht erforderlich. Im Extremfall können ganze Staaten lahmgelegt werden. Da keine physischen Schäden verursacht werden, können die kompromittierten Anlagen nach erfolgter Kapitulation relativ rasch wieder in Betrieb genommen werden. Dadurch bleiben die Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System und die Lage der Bevölkerung überschaubar.

In der Literatur wird ein solches Szenario als »digitaler Erstschlag« bezeichnet, eröffnet doch der Cyberwar die Option, mit einem »digitalen Enthauptungsschlag« eine rasche und totale Überlegenheit und einen »Sieg« zu erreichen. Das klassische militärische Prinzip des Erstschlags bekommt hierdurch – unbenommen der immer umfassenderen Aufklärung im konventionellen Bereich – eine neue Bedeutung.

Auswirkungen auf urbane Räume

Die Auswirkungen des Ausfalls Kritischer Infrastrukturen auf Großstädte und die Bevölkerung sind in einem solchen Fall, wie bereits punktuelle Störungen in Friedenszeiten zeigen, enorm. Ein digitaler Enthauptungsschlag ist absehbar nicht auf einzelne Stadtteile, Städte oder Regionen begrenzt, sondern führt zu großräumigen Ausfällen, welche unter Umständen das gesamte Staatsgebiet betreffen. Die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, d.h. die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen, werden in kürzester Zeit zusammenbrechen bzw. die Bevölkerung nicht mehr erreichen. Weicht die städtische Bevölkerung in der Folge in umliegende, unter Umständen weniger betroffene ländliche Gebiete aus, könnten die dort gegebenenfalls noch (rudimentär) funktionierenden Infrastrukturen und Ressourcen in kurzer Zeit überlastet werden und auch dort völlig zum Erliegen kommen.

Folgerungen

Gerade die hybriden Möglichkeiten im Cyberraum zeigen, dass die strikte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit weiter unter Druck gerät, sich allmählich auflöst und rein militärische Risiken der Vergangenheit angehören. Dementsprechend sind Lösungsansätze, Schutz- und Abwehrmaßnahmen in entsprechender Vielfalt zu entwickeln. Hiervon sind auch die Phasen der Bedrohungsanalyse und der Planung des Umgangs mit den Herausforderungen betroffen. Die Einschätzung der (militärischen) Bedrohungen primär dem Militär zu überlassen, wie es die »Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)« des Bundesinnenministeriums des Inneren von 2016 vorsieht, ist unter dem Gesichtspunkt der oben beschriebenen hybriden Bedrohungen inkonsequent. Vielmehr sind auch die Bereiche Territorialverteidigung, Heimatschutz und Zivilschutz einzubeziehen. Das könnte unter den Bedingungen hybrider Bedrohungen bedeuten, dass althergebrachte Krisenreaktionsmittel und -formen hinsichtlich ihrer Ausformungen und Zuständigkeiten nicht (mehr) passen oder nicht rechtzeitig und umfangreich genug zum Einsatz kommen können und damit zu spät Wirkung entfalten, um die Auswirkungen des hybriden Angriffs einzudämmen.

Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Fähigkeiten zur gesamtgesellschaftlichen Prävention bzw. die dazu erforderlichen nationalen Sicherheitsakteure einsatzorientiert aufzustellen und zu vernetzen. Das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Bundeswehr« von 2016 konstatiert, dass hybride Bedrohungen nach hybrider Analysefähigkeit sowie entsprechender Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit verlangen, was erhebliche Auswirkungen auf den Charakter und das Verständnis von Landes- und Bündnisverteidigung im 21. Jahrhundert hat. Bereits aus der abstrakten Gefährdungslage, das heißt der bloßen Denkbarkeit und damit Möglichkeit der Materialisierung einer Bedrohung, ergeben sich Anforderungen an eine effiziente zivil-militärische Gesamtverteidigung. Dies ergibt sich auch aus dem Umkehrschluss der ursprünglichen Begründung für die nachrangige Unterstützungsfunktion des Zivilschutzes, wonach der Zivilen Verteidigung in Krise und Krieg die entscheidende Unterstützungsrolle für die militärische Verteidigung zugewiesen wird, um vorrangig die Verteidigungsfähigkeit und Operationsfreiheit der Streitkräfte zu gewährleisten.

Diese Vorrangigkeit ist angesichts der hybriden Bedrohungen unter Umständen in dieser Einseitigkeit nicht mehr zu halten. Im Gegenteil: Der moderne Ansatz Hybrider Kriegführung gründet gerade auf der Überlegung, die grundlegenden Regeln des Krieges zu verändern, indem die Rolle der nicht-militärischen Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele wächst und die Wirkmacht der Waffengewalt übertrifft. Darüber hinaus erfordert die Ausrichtung hybrider Bedrohungen und Kriege auf nicht-militärische »Gravitationszentren« nicht notwendigerweise eine militärische Kriegs- bzw. Konfliktentscheidung. Die Forderung, den Stellenwert der Zivilen Verteidigung anzupassen, begründet sich daher u.a. darin, dass Angriffe mit hybriden Fähigkeiten möglicherweise die eigenen militärischen Fähigkeiten unterlaufen könnten und eine Abwehr und Reaktion gegebenenfalls (nur noch) mit zivilen Fähigkeiten und Wirkmitteln möglich ist. Diese Ansicht lässt sich auch verfassungsrechtlich begründen: Die Zivile Verteidigung ist gewissermaßen als notwendige Komponente der alleine zum äußeren Schutz wirksamen Gesamtverteidigung vom Verfassungsauftrag des Grundgesetzes mit erfasst, welcher eine wirksame bzw. effektive Verteidigung erfordert.

Wer den bisherigen Ausführungen zustimmt, muss zum Schluss kommen, dass Zivile Verteidigung, Zivilschutz und dementsprechend auch der umfassendere Bevölkerungsschutz im Rahmen einer Gesamtverteidigung neu zu bewerten und anzupassen und mit den Fähigkeiten und Mitteln der militärischen Verteidigung neu zu vernetzen sind.

Anmerkungen

1) Im militärischen Kontext ist ein Effektor eine Maßnahme, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Die Bandbreite von Effektoren reicht vom Flugblatt oder einer Falschmeldung bis zum Einsatz klassischer militärischer Waffen.

2) »Kritische Infrastrukturen« sind gemäß der Definition des Glossars des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“ (bbk.bund.de).

3) Zivile Verteidigung ist nicht zu verwechseln mit Sozialer Verteidigung. Das Bundesministerium des Inneren definiert Zivile Verteidigung so: „[Sie] dient der Vorbereitung auf die Abwehr schwerwiegendster Gefahren für den Staat und seine Bürgerinnen und Bürger. Streng genommen geht es dabei um die Abwehr kriegsbedingter Gefahren und schwerster innerer Notstände. Es muss Vorsorge dafür getroffen werden, die Handlungsfähigkeit von Staat und Verwaltung gerade bei schwersten Krisen zu gewährleisten. Nur so kann bereits ihr Entstehen möglichst verhindert oder zumindest ihre Folgen bewältigt werden.“ (bmi.bund.de)

Dr. Dirk Freudenberg ist Referent im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und Dozent an der BBK-Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz in Bonn.

Aus Platzgründen erscheint dieser Artikel ohne den umfangreichen Literaturapparat. Das Manuskript mit Literaturhinweisen kann gerne bei redaktion@wissenschaft-­und-frieden.de angefordert werden.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/3 Hybrider Krieg?, Seite 27–28