W&F 1993/2

Im Gleitflug in die Utopie

Überlegungen zum 10. Jahresgründungstag der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«

von Herbert Begemann

Vor genau 10 Jahren, am 2. und 3. Juli 1983 versammelten sich in Mainz 3.300 Naturwissenschaftler des In- und Auslandes, Professoren und Studenten, zu ihrem ersten Kongreß »Verantwortung für den Frieden«. Diese Initiative war nicht die erste berufsbezogene Gruppierung im Rahmen der umfassenden »Friedensbewegung«, aber mit ihr trat eine neue Qualität in Erscheinung: Waren bisher vorwiegend Sorgen und Ängste, Gefühle und Stimmungen die Beweggründe dieser Zusammenschlüsse, so trat jetzt die intelligente Kompetenz wissenschaftlicher Erkenntnis in den Vordergrund.

Ihr wichtigstes Vorhaben war die Vermittlung reproduzierbaren Wissens. Die Friedensbewegung sollte auch argumentativ unschlagbar sein. Viele der damals in Mainz anwesenden Professoren konnten auf ihre eigenen, oft jahrzehntelangen Vorarbeiten zurückgreifen, andere hatten die einschlägige wissenschaftliche Literatur akribisch ausgewertet; alle waren gewöhnt, in kritischer Distanz die vielschichtigen Probleme unserer Welt vorurteilsfrei zu analysieren und zu beschreiben. Zu Recht sollte damals und später der »Professionalität« dieser Vereinigung ein hoher Rang zukommen.

Eigentlicher Auslöser für die Gründung der neuen Initiative war bekanntlich (ähnlich den übrigen damals allerorten aufschießenden Friedensinitiativen) der sogenannte NATO-Doppelbeschluß mit seiner paradoxen Forderung: „Zuerst aufrüsten, dann abrüsten“! Im Verlauf dieses Unterfangens sollten auf dem Gebiet der BRD Mittelstrecken- und strategische Atomwaffen stationiert werden, so daß im Falle eines sowjetischen »Erstschlags« die BRD erstes und wichtigstes Ziel der angreifenden Atomraketen werden mußte. Unter diesen Umständen war der Widerstand »von unten« geboten. Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Interessen und Berufe schlossen sich zusammen, um dem militärischen Vorhaben »gewaltfreien Widerstand« entgegenzusetzen. Daß es damals dem »Krefelder Appell« in kurzer Zeit gelang, mehr als 4 Millionen Unterschriften gegen die Realisierung dieser politisch/militärischen Paradoxie zu sammeln, illustriert die Dringlichkeit der damaligen Forderungen.

Die Verhinderung der Stationierung von Mittelstreckenraketen in der BRD war auch das zentrale Anliegen der Naturwissenschaftler-Initiative. Doch verlangte dieses Vorhaben, wenn es effizient werden sollte, die eingehende Beschäftigung mit dem gesamten Fragenkomplex der atomaren Bewaffnung, der Herstellung von Atomraketen, ihrer Testung und Lagerung, ihrer Kontrolle mittels elektronischer Sicherheitsvorkehrungen, aber auch strategischer Fragen von »Erst- und Zweitschlagfähigkeit«. Hinzu kamen Überlegungen zu den wirtschaftlichen Folgen, die durch die gewaltigen Kosten der atomaren Rüstung zu erwarten seien, die ihrerseits nicht ohne den Blick auf die weitere technische und ökonomische Dominanz der Industriestaaten und der daraus resultierenden Verarmung der »Dritten Welt« zu beurteilen waren. Zu diesen schon sehr vielseitigen Wissenskomplexen kam in den folgenden Jahren die Auseinandersetzung mit den biologischen und chemischen Waffen und der damals sehr aktuellen, von den USA vorwärtsgetriebenen Aufrüstung des Weltraums. Die Ergebnisse des ersten Mainzer Kongresses fanden ihren Niederschlag im »Mainzer Appell«, der damals von 23 Universitätsprofessoren unterschiedlicher Fachrichtungen unterschrieben wurde. Die Vorträge des ersten und der späteren Kongresse wurden in extenso in Buchform publiziert1.

Eine heutige Retrospektive, 10 Jahre nach dem »Mainzer Appell«, stellt uns vor ein facettenreiches, aber deprimierendes historisches Gemälde. Die überraschende Auflösung der Sowjetunion und ihrer Satelitenstaaten brachte auch das Ende des Ost-West-Konflikts. Damit war ein jahrzehntealtes vordringliches Ziel europäischer und amerikanischer Machtpolitiker in Erfüllung gegangen. Aber auch die im Grundgesetz der BRD verankerte Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland wurde schneller als erwartet realisiert. Auf diese Weise erlebte das neue »große« Deutschland subjektiv seinen verspäteten Sieg im zweiten Weltkrieg und genießt jetzt als einer der reichsten europäischen Staaten großes internationales Ansehen.

Doch können wir uns bisher noch nicht uneingeschränkt der neuen politischen Stellung unseres Staates erfreuen. Der frühere, sich längst durch Europa ziehende »Eiserne Vorhang« ist durch ein anderes unsichtbares, aber ebenso dichtes Hindernis ersetzt, die wirtschaftliche Ungleichheit, die Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens zwischen reich und arm. Der Zerfall der Ordnungsmacht Sowjetunion hat viele der seit langem für überlebt gehaltenen ethnischen Gegensätze in erschreckender Weise aktiviert; neue Staatengebilde sind entstanden, die ihre Grenzen durch kriegerische Maßnahmen jeweils zu ihren Gunsten regulieren möchten. Die im Osten fast allgemein herrschende Armut hat zu Not, Hunger, Korruption und Kriminalität geführt. Eine erschreckende Arbeitslosigkeit hat die westlichen Industriestaaten, aber auch die ehemals sozialistischen Länder ergriffen. Die Erde ist ärmer, labiler und unsicherer geworden!

Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation

Versucht man, diese neue politische Situation vor dem Raster der deutschen Friedensbewegung und deren Bestrebungen zu sehen, so ergibt sich ein schreckliches Zerrbild: die im Osten angesammelten Atomwaffen haben ein neues Gefahrenpotential aufgebaut; niemand weiß genau, wo sie aufbewahrt werden, wer sie wartet, bewacht und für sie überhaupt zuständig ist. Gerüchteweise erfährt man, daß sich jedermann für einen erstaunlich niedrigen Preis mit solchen Waffen eindecken kann, seien das nun Staaten zweifelhafter politischer Ambitionen oder Privatpersonen, die andere als nur SammlerInteressen haben. Der Terrorismus hat eine neue Dimension bekommen! Wohlhabende Staaten kaufen sich anstelle der fertigen Waffen lieber die jetzt arbeitslosen osteuropäischen Konstrukteure von A-, B- und C-Waffen, um in eigenen Fabriken ihr Waffenarsenal nach »Maß« ausgestalten zu können.

Auch die BRD hat vom Zerreißen des »Eisernen Vorhangs« und dem Abriß der Berliner Mauer wenig profitiert. Der von westlichem Optimismus und ahnungslosem Zutrauen des Osten getragene, der Vereinigung von BRD und DDR entgegengebrachte Optimismus verpuffte wirkungslos. In der Mitte Europas gelegen mußte uns das resultierende politische und wirtschaftliche Desaster des Ostens besonders hart treffen. Unsere neue, monetär gestützte Politik legitimierte zunächst unsere politische Vormacht, verzehrte aber auch schneller als erwartet unseren Wohlstand. Hinzu kommen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, die in unserem Staat Sicherheit und Arbeit suchen. Eine neue Völkerwanderung hat begonnen.

Um ihren Folgen zu begegnen, beschritten wir – wie schon oft zuvor – den Weg des geringsten Widerstands: Nach dem ersten Schritt zur Demontage unseres Grundgesetzes in den 50er Jahren, der Remilitarisierung unseres Staates, begingen wir jetzt den zweiten Sündenfall, den faktischen Abbau des Asylrechts. An die Stelle politischer Moral trat das Scheckbuch. Die durch die historischen Umstände zu den Armen Europas abgestiegenen Staaten, die Tschechen und Polen, wurden von uns zu »sicheren Drittländern« ernannt und dazu veranlaßt, gegen finanzielle Entlohnung einen nicht geringen Teil der bei uns um Asyl nachsuchenden Menschen bei sich aufzunehmen.

Erfolge und Niederlagen

Die Friedensbewegung – und das gilt natürlich nicht nur für die Naturwissenschaftler-Initiative – hat im letzten Jahrzehnt die von ihr deklarierten Ziele (Abschaffung von Atomwaffen und Militarismus, Abbau naturzerstörender Lebens- und Wirtschaftsfaktoren, Herstellung größerer sozialer Gerechtigkeit auf nationaler und internationaler Ebene) nicht erreicht. Trotzdem hat sie Wirkungen entfaltet, die nicht unterschätzt werden dürfen. Sie hat dazu beigetragen, das Bewußtsein vieler Menschen nicht nur in unserem Land grundsätzlich zu verändern. Vor allem wurde das Prinzip der Gewaltlosigkeit bei der Bewältigung persönlicher und zwischenstaatlicher Konflikte in den Köpfen weiter Teile der Bevölkerung etabliert. Noch deutlicher sind weltweit die Änderungen in der Einstellung zur natürlichen Umweit. Wenn kürzlich in den USA ein Vize-Präsident (Al Gore2) gewählt wurde, dessen erklärtes Ziel eine Verknüpfung von ökonomischen mit ökologischen Bedürfnissen ist, so sollten wir das als ein Zeichen für den Beginn eines allgemeinen Umdenkens auch in den USA verstehen.

Doch dürfen wir über das Erreichte nicht vergessen, daß die wichtigsten Ziele der Friedensbewegung, unter ihnen die Abkehr von Militär und Militarismus, noch in weiter Ferne liegen. Auch bei uns kann man sich ohne Schwierigkeiten mit Angehörigen aller Bevölkerungsschichten über ökologische Probleme verständigen, bei Fragen der Entmilitarisierung reagieren viele Menschen noch immer »allergisch«.

Die große Zahl kriegerischer Verwicklungen, die sich gegenwärtig auf der Erde abspielen, haben eine allgemeine Ratlosigkeit ausgelöst. Nur wenige Menschen sehen ein, daß beispielsweise der tragische Jugosiawienkonflikt geradezu ein Beweis für die Notwendigkeit einer allgemeinen Entmilitarisierung ist, daß auch »friedenerzeugende« Handlungen aggressiv sind und uns hinsichtlich der Einschätzung des Militärs vor die gleichen Probleme stellen wie jeder »militärische Friedensdienst« oder das Paradoxon des »Bürgers in Uniform«3.

Fehler

Unter der kritischen Perspektive unseres zumindest partiellen Mißerfolgs ergibt sich die grundsätzliche Frage: Was hat die Friedensbewegung im letzten Jahrzehnt falsch gemacht? Diese Frage muß auf unterschiedlichen Ebenen beantwortet werden.

1. In unserer konkreten politischen Situation war es naheliegend, das Problem der Entmilitarisierung auf den Abbau der Atomwaffen einzuengen, doch war dieses Vorgehen von vornherein zu kurz gegriffen, und zwar

  • weil die Regierung der BRD keinerlei Verfügungsgewalt über die Atomwaffen besaß, so daß die Forderungen ihrer Beseitigung ohne einen zuständigen Adressaten ins Leere gingen;
  • weil jedes Waffensystem, wenn es einmal entworfen und hergestellt wurde, im »Ernstfall« von fast allen Staaten reaktiviert werden kann. Das gilt letztlich auch für die Atomwaffen. Da hilft auch kein »Atomwaffensperrvertrag«;
  • weil auch die hochentwickelten »konventionellen« Waffen den A-, B- und C-Waffen an Grausamkeit und Zerstörungskraft kaum nachstehen.

Als Quintessenz ergibt sich, daß, wenn wir auch nur vor einzelnen Waffensystemen sicher sein wollen, müssen wir eine komplette Entmilitarisierung ohne jedes Wenn und Aber verlangen!

2. Wir haben den Ost-West-Konflikt falsch eingeschätzt, d.h. die historische Bedeutung der Sowjetunion unterschätzt. Erst nach dem Zerfall des sozialistischen Riesenreichs haben wir erkannt, daß seine Ordnungsmacht im Osten Europas und partiell auch in Asien schlechterdings durch nichts zu ersetzen ist. Im Gegenteil – es dämmert uns langsam, daß durch den Zerfall der Sowjetunion möglicherweise nichts weniger als der »Kollaps der Moderne«4 mit einem Niedergang auch unseres Wirtschaftssystems eingeleitet wurde. Daß wir die Sowjetunion und die Folgen ihres Untergangs falsch bewerteten, daß wir nicht energischer, als das geschehen ist, auf eine Verständigung des Westens mit dem Ostblock hingearbeitet haben, ist eine schuldhafte Unterlassung!

Perspektiven

Wie wird es künftig weitergehen? Hat die Naturwissenschaftler-Initiative, hat die Friedensbewegung überhaupt noch Aufgaben und Chancen? Diese Fragen müssen auch jetzt noch mit einem eindeutigen »Ja« beantwortet werden. Die vielfältigen Probleme unserer Erde sind im letzten Jahrzehnt gravierender und prekärer geworden. Als vordringlich bieten sich folgende Arbeitsbereiche an:

1. Die Friedensfrage

Die Abschaffung aller Atomwaffen, ihrer Weiterentwicklung und Testung bleibt eine wichtige Forderung der Zukunft. Dieses Ziel kann aber nur – wie oben dargelegt – durch eine totale Entmilitarisierung erreicht werden. Auch geht es nicht allein um die A-, B- und C-Waffen. Eine Zivilisation, die gewohnt ist, aus jeder technischen Innovation neue gefährliche Waffen zu entwickeln, wird wahrscheinlich viele Möglichkeiten sehen, einen Teil der täglich weltweit anfallenden etwa 1000 neuen Chemikalien5 in neue Waffensysteme umzumünzen. Wir sollten uns auch nicht durch Sirenenklänge der Hardthöhe betören lassen, die uns neuerdings eine exklusiv friedenschaffende Armee oder eine Bundeswehr mit ausschließlich ökologischen Aufgaben vorgaukelt. Durch Militär erzwungener Frieden kann immer nur ein zeitlich begrenzter Waffenstillstand sein. Außerdem zählt Militär zu den herausragenden antiökologischen Institutionen, und bei der Ausbildung von Soldaten ist das Prinzip Ökologie bisher noch unbekannt, so daß wir zum Schutz der Umwelt besser auf andere Organisationen zurückgreifen.

Andrerseits sind die Voraussetzungen für eine vollständige Entmilitarisierung in unserem Staat nicht so ungünstig wie man das zunächst vermutet: Die trotz der fühlbaren dienstlichen Mehrbelastung der »Zivis« ständig wachsende Zahl von Kriegsdienstverweigerern6 ist eine Art permanenter Volksentscheid gegen Rüstung und Militär. Trotzdem wird bis zu einer entgültigen Entmilitarisierung noch einige Zeit vergehen. Schneller durchsetzbar sollte dagegen ein absolutes Verbot von Waffenexporten (und Waffenproduktion) sein. Auch jüngste Erfahrungen zeigen uns, wieviel Not und Leid wir verhindern könnten, wenn die Industriestaaten nicht alle Welt mit Waffen versorgten.

2. Die Armut der »Entwicklungsländer«

Die Armut der »Entwicklungsländer« ist ohne Zweifel komplementär zum Reichtum der Industrieländer. Es ist eine vordringliche Aufgabe aller, »die Guten Willens sind«, nach Wegen zu suchen, die eine gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen unserer Erde und der industriellen Produktion mit ihren Gewinnen garantieren. Not, Hunger und Entbehrungen auf der einen (sehr großen) Seite der Menschheit zugunsten von Überfluß, Reichtum und Verschwendung auf der anderen (sehr kleinen) Seite sind nicht nur moralisch unerträglich, sondern hochgradig gefährlich und kriegstreibend.

3. Die Entwicklung einer »nachhaltigen Wirtschaft«

Eine besonders schwierige Aufgabe wird die Kreierung einer Wirtschaft sein, die ökologisch verträglich ist. Für die Angehörigen der Industrieländer dürfte das den Abschied von vielen liebgewonnenen Gewohnheiten und Vorstellungen bedeuten. Endlich wird man die Ideologie der »Wachstumsgesellschaft« als das entlarven, was sie schon immer war: ein den Konsum überflüssigerweise antreibender widersinniger Nonsens7. Da Arbeit infolge der zunehmenden Mechanisierung der Güterproduktion ständig weniger wird, werden wir Arbeit und Produktion entkoppeln, jedenfalls in ein neues Verhältnis zueinander bringen müssen. Vielleicht wird sogar für uns »Reiche« eine neue Form von Genügsamkeit zu entwickeln sein: Die Bewertung des Mitmenschen sollte nach seinem humanen und ökologischen Verhalten und nicht nach seinem Anteil am Güterkonsum erfolgen.

Eine neue menschliche Gesellschaft

Diese drei Problemkreise stehen miteinander in einem engen Zusammenhang. Zur ihrer Lösung sind nicht nur guter Wille und eine innere Bereitschaft notwendig, sondern auch ein vielseitiges Wissen, das von den Naturwissenschaften über geschichtliche, theologische und psychosoziale bis zu politischen Fachkenntnissen reicht. Tatsächlich ist das Ziel nichts geringeres als die Konzeption einer neuen menschlichen Gesellschaft, in der Vertrauen und Hilfsbereitschaft herrschen und Kooperation die jetzt dominierend Egozentrik verdrängt. Diese Gesellschaft wird demokratisch sein müssen, wenn wir darunter die Überwindung aller sozialer Asymmetrien auf nationaler und internationaler Ebene verstehen und die Unterdrückung von Menschen und ihre Ausbeutung nicht mehr zulassen wollen. Sie wird aber auch regional gegliedert sein müssen, um der ungleichen historischen und kulturellen menschlichen Entwicklung Rechnung tragen zu können.

In diesem gesellschaftlichen Ordnungsprozeß werden sämtliche in den letzten zwei Jahrzehnten gegründeten politischen Initiativen Ihren Platz haben, auch die Naturwissenschaftler-Initiative.

Die größten Schwierigkeiten ergeben sich aber nicht bei der Konzipierung neuer gesellschaftlicher Grundsätze, sondern bei deren Realisierung. Wir alle wissen, wie eine Gesellschaft aussehen muß, wenn sie das Attribut »menschlich« für sich in Anspruch nehmen will: Jedes einzelne Mitglied dieser neuen Gesellschaft sollte auf das Wohlergehen seines Nachbarn mehr achten als auf seinen eigenen Nutzen, so daß Hunger und Not in den »Entwicklungsländern« für uns – die Bewohner der Industrieländer – ebenso wichtig sind, wie unsere eigenen Bedürfnisse; jeder von uns sollte für sich selbst ein hohes Maß von Askese entwickeln, um den eigenen und den gesamten Energieverbrauch in den für unseren Lebensraum erträglichen Grenzen zu halten sowie den eigenen und den gemeinschaftlichen Konsum quantitativ und qualitativ so auszutarieren, daß die lebenswichtigen physikalischen und biologischen Gleichgewichte nicht gestört werden. Das alles wissen wir sehr gut, doch hapert es – wie wir uns täglich überzeugen können – daran, bekanntes Wissen in die Tat umzusetzen. Wir alle sind Egozentriker, und die Staaten sind ebenso egozentrisch. Was wir benötigen, sind nicht mehr Informationen, sondern mehr guter Wille und mehr Kraft, das Notwendige zu realisieren!

Anmerkungen

1) Zu den wichtigsten Buchveröffentilchungen der Naturwissenschaftler-Initialive gehören: H.P. Dürr, H.P. Haries, M. Kreck, P. Starlinger (Hrg.): Verantwortung für den Frieden. Rowohlt Hamburg 1983.
R. Labusch, E. Maus, W. Sand (Hrg.): Weltraum ohne Waffen. Bertelsmann, München 1984.
W. Dosch, P. Herrlich (Hrg.): Ächtung der Giftwaffen – Naturwissenschaftler warnen vor chemischen und biologischen Waffen. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1985. Zurück

2) Al Gore: Wege zum Gleichgewicht – Ein Marshallplan für die Erde. Fischer, Frankturt 1992. Zurück

3) Die Problematik von allgemeiner Wehrpflicht und Militärdienst wird besprochen u.a. in: H. Begemann: Krieg ist keine Krankheit, in H. Albertz (Hrg.): Warum ich Pazifist wurde. Kindler, München 1983. Und: H.Begemann: Kriegsdienstverweigerung als Beitrag zur Friedenssicherung. Blätter für deutsche und internationale Politik 31(1986), 869. Zurück

4) R. Kurz: Der Kollaps der Modernisierung – Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Eichborn, Frankfurt 1991. Zurück

5) Diese Zahl wurde von dem bekannten Kieler Chemiker O. Wassermann genannt in seinem Vortrag: Die Belastung der Umwelt mit technischen Schadstoffen anläßlich der 36. Jahrestagung der Süddeutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Bad Dürkheim 8.-10. Mai 1987. Zurück

6) Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer ist in der BRD in einem dauernden Anstieg begriffen. Laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 14.5.93 verweigerten bei uns im Jahr 1992 insgesamt 133.800 Männer den Wehrdienst, im ersten Quartal 1993 waren es 44.187, 5.700 mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Diese Zahlen sind für unsere Milltärexperten sehr besorgniserregend, so daß sie sich bereits Gedanken machen über Änderungen der Verweigerungspraxis. Zurück

7) Wirtschaftswachstum ist »exponentielles Wachstum«. Ein solches aber ist weder in biologischen noch in sozialen Systemen erträglich. Die Absurdität von »Wachstumsgesellschaften« wird uns bewußt, wenn wir uns vor Augen führen, daß bei einer jährlichen Wachtumsrate von nur 2,0% (diese ist nach Ansicht der meisten Wirtschaftsexperten zu niedrig, um den Fortbestand unseres Lebensstandards auf Dauer zu sichern) die Verdopplungszeit nur 35 Jahre beträgt; das heißt im Klartext, daß bereits bei dieser sehr niedrigen Wachstumsrate sich sämtliche Wirtschaftsdaten, vom Konsum unserer lebenswichtigen unersetzlichen Ressourcen über den Energieverbrauch bis zur anfallenden Müllmenge verdoppeln. Die klarsten Aussagen zu diesem Problem finden sich In den Büchern der MIT-Mitarbeiter Meadows: D. Meadows, D. Meadows, E. Zahn, P. Mllling: Die Grenzen des Wachstums – Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. DVA, Stuttgart 1972 und D.H. Meadows, D.L. Meadows, J. Randers: Die neuen Grenzen des Wachstums – Die Lage der Menschheit: Bedrohung und Zukunftschancen, DVA, Stuttgart 1992. Zurück

Prof. Dr. med. H. Begemann war Gründungsmitglied der IPPNW und der Naturwissenschaftler-Initiative.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/2 Das UN-System, Seite