W&F 2016/4

Imaginierte Ordnungen mit Konfliktpotential

von Malte Lühmann

Beim Blick auf die aktuelle Weltlage scheint vielerorts Chaos zu herrschen. Auf der einen Seite sind in zahlreichen Ländern (Bürger-) Kriege und bewaffnete Konflikte an der Tagesordnung. Als zurzeit seltener zitierte Beispiele seien nur Südsudan, Mali, Libyen, ­Afghanistan oder auch Mexiko genannt. Auf der anderen Seite nehmen wir eine verschärfte Konfrontation zwischen Großmächten, wie der NATO und Russland in der Ukraine, Osteuropa und in Syrien oder zwischen China und den USA im Südchinesischen Meer, wahr. Diese Konfrontationen gehen mit einer massiven Aufrüstungswelle einher, die nicht zuletzt in Deutschland und der EU steigende Militäretats und wachsende Zerstörungspotentiale bedeutet. All diese Konflikte werden in der interessierten Öffentlichkeit und auch in dieser Zeitschrift diskutiert. Dabei stehen in jedem Einzelfall zunächst konkrete Akteurs­konstellationen und Interessenlagen im Vordergrund. Zuweilen werden aber auch größere Zusammenhänge angedeutet, etwa wenn von den geopolitischen Interessen Frankreichs in Mali die Rede ist oder vom US-amerikanischen Vorherrschaftsanspruch im Nahen und Mittleren Osten. Und auch die politischen Protagonist*innen selbst betonen größere weltpolitische Dimensionen ihres Handels, etwa wenn Bundespräsident Gauck von der Verantwortung Deutschlands in der Welt spricht.

Was hier angedeutet wird, ist eine grundlegende Dimension vieler Konflikte, die auf unterschiedlichen Vorstellungen der beteiligten Parteien darüber beruht, wie die Welt als Ensemble von Gesellschaften oder Staaten eingerichtet ist und insbesondere, wie sie eingerichtet sein sollte. Mit anderen Worten spielen neben den oft genannten unmittelbaren Interessen – vom persönlichen Machterhalt bis zur Kontrolle bestimmter Rohstoffe – und anderen Faktoren oft auch unterschiedliche Weltordnungskonzepte, die dem Handeln beteiligter Akteure zugrunde liegen, eine Rolle für den Verlauf von Konflikten. Darüber hinaus haben neben den imaginierten auch die real existierenden Machtstrukturen der aktuellen Weltordnung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Konflikte und auf die Chancen für Frieden.

In der aktuellen Situation ist der Blick auf Konzepte der Weltordnung gerade im Zusammenspiel mit den real existierenden globalen Machtstrukturen interessant, denn diese sind immer weniger eindeutig von der vorübergehend einzigen Supermacht USA bestimmt. Der Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer zu gestaltenden Kräften der globalen Ökonomie und das wachsende Unvermögen der USA, Europas und ihrer Verbündeten, für »Stabilität« in der Peripherie zu sorgen, sind hierfür deutliche Zeichen. Im Rahmen dieser neuen Verhältnisse spielen auch konkurrierende Weltordnungskonzepte eine wichtige Rolle. Während die im Wandel begriffenen Strukturen der Weltordnung regelmäßig in W&F thematisiert werden, haben wir daher in diesem Heft schwerpunktmäßig Beiträge versammelt, die sich mit den teils widerstreitenden Weltordnungskonzepten und ihrer Rolle für die Frage von Krieg und Frieden befassen. Diese Perspektive mag zuweilen etwas abstrakt erscheinen. Sie kann aber gerade dadurch hilfreich sein, um zumindest gedanklich etwas Ordnung in das eingangs angesprochene weltpolitische Chaos zu bringen.

Auf der theoretischen Ebene gibt Hans-Jürgen Bieling einen Überblick zu aktuellen politischen und (politik-) wissenschaftlichen Debatten rund um das Thema Weltordnungen. Ingar Solty stellt ergänzend zu diesem Überblick die aktuelle Situation der Weltordnung und die Rolle der USA darin dar. Weitere konkrete Analysen vergangener und bestehender Weltordnungen liefern Jost Dülffer in seiner Diskussion des Charakters von Stellvertreter- oder Weltordnungskriegen im Rahmen des Ost-West-Konflikts und Jenny Simon, die sich mit der Rolle Chinas als gestaltender Macht in der Welt auseinandersetzt. Auf begrenzterem Terrain bewegt sich die Untersuchung der Münchner Sicherheitskonferenz und ihrer Funktion zur Weiterentwicklung herrschender Weltordnungskonzepte von Thomas Mohr. Alan Schink analysiert in seinem Text über die Bedeutung der »Neuen Weltordnung« für Verschwörungstheorien und Bewegungsideologien eine andere Sphäre, in der Weltordnungskonzepte direkt politisch wirksam sind. Von der Darstellung des Bestehenden lösen sich Christiane Fröhlich und Regina Heller, wenn sie Überlegungen dazu anstellen, wie die ramponierte Idee einer liberalen Friedensordnung gerettet werden könnte. Das Potential für eine friedliche Weltordnung im Austausch zwischen Kulturen verteidigt Peter Nitschke in seiner Relativierung der weit verbreiteten These von Samuel Huntington über den »Kampf der Kulturen«. Einen utopischen Ansatzpunkt in diese Richtung diskutiert schließlich Dirk Hannemann in seiner Auseinandersetzung mit der Idee eines Weltstaates.

Ihr Malte Lühmann

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/4 Weltordnungskonzepte, Seite 2