W&F 2012/2

Innere Bilder, die krank machen

von Margarete Hecker

Der amerikanische Sergeant Robert Bales ist nach mehreren Jahren Kriegseinsatz im Irak und Afghanistan zum Massenmörder an Zivilisten geworden. Er soll ursprünglich freiwillig in die Armee eingetreten und ein guter Soldat und Kamerad gewesen sein. Wenn man solche Nachrichten hört, fragt man sich unwillkürlich, was treibt Männer, die jahrelangen Kriegseinsatz in fremden Ländern und Kulturen leisten müssen, zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen?

Kann es sein, dass sie diesen Krieg nicht mehr als gerecht und sinnvoll empfinden? Kann es sein, dass der erfolglose Versuch, in einer fremden Kultur unter verfeindeten Gruppen Frieden zu stiften, die Psyche der Soldaten zermürbt? Ist ihnen vielleicht der Glaube an die Sinnhaftigkeit ihres militärischen Einsatzes verloren gegangen? Die Traumaforscherin Judith Herman schreibt in ihrem Buch »Narben der Gewalt« (2000), dem Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg zugrunde liegen: „Traumatische Ereignisse vernichten die Vorstellung des Opfers von Geborgenheit, das Bewusstsein seines eigenen Wertes und die Überzeugung, dass der Schöpfung eine sinnvolle Ordnung zugrunde liegt.“ Werden Soldaten somit selbst zu Opfern? Wenn Menschen längere Zeit in Todesangst leben müssen, wenn sie Gewalthandlungen, plötzlichen Tod, Verstümmelungen und Zerstörung um sich herum erleben, liegt es nahe, dass sie den Glauben an eine gerechte, sinnvolle Ordnung des Lebens verlieren. Kann es sein, dass der Sergeant Robert Bales, der sich nach mehreren Jahren aktivem Kampfeinsatz in ein ruhigeres Land versetzen lassen wollte, was abgelehnt wurde, selber ein Zeichen gesetzt hat, und anstatt die Zivilbevölkerung vor Terror zu schützen, nachts sechzehn Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, erschossen hat, also zum Mörder wurde?

Inzwischen ist das Kriegstrauma von heimgekehrten Soldaten, die posttraumatische Belastungsstörung, eine anerkannte medizinische Diagnose; ein hoher Prozentsatz auch der deutschen Soldaten, die aus dem Kriegseinsatz zurückkehren, leidet darunter. Viele von ihnen sind suizidal. Die Therapien sind langwierig und gelingen nicht immer zufriedenstellend.

Unsere deutsche Erfahrung aus dem Zweiten Weltkrieg steht der älteren Generation immer noch sehr deutlich vor Augen. Auch die überlebenden Männer waren in jungen Jahren Gewalt, plötzlichem Tod, Verstümmelung und Zerstörung ausgesetzt. Es war oft niemand da, um diese Eindrücke zu besprechen, das erfahrene Leid und die traumatischen Verluste erträglicher zu machen. Oft kommen erst jetzt, 67 Jahre nach Kriegsende, diese inneren Bilder ins Bewusstsein. Es sind Bilder, die krank machen können, nicht nur körperlich, auch seelisch und geistig. Sie können auch noch krank machen, nachdem sie viele Jahre bei den Überlebenden eingekapselt waren. Das gilt für Holocaustopfer gleichermaßen wie für deutsche Überlebende der Bombennächte oder der Flüchtlingskarawanen auf den eisigen Straßen in Richtung Westen im Winter 1944/45.

Manche Erfahrungen sind damals nie ausgesprochen oder mit anderen Menschen geteilt worden. Sie leben aber in den Kindern, Enkeln und Urenkeln weiter. Es scheint, dass erst jetzt die Zeit reif ist, die Fülle der verdrängten traumatischen Erfahrungen von Opfer- bzw. Täterschaft aus der Verdrängung zurückzuholen. Sabine Bode hat mir ihren Büchern »Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« (2004) und » Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation« (2009) einen sehr eindrucksvollen und lebendigen Beitrag zu dieser Thematik geleistet. Die von ihr beschriebenen Fallgeschichten zeigen sehr deutlich, wie zerstörerisch die Kriegserlebnisse auch nach zwei oder drei Generationen weiterwirken und nicht zur Ruhe finden lassen. Junge Menschen haben das Gefühl, buchstäblich keinen sicheren Boden unter den Füßen zu haben, obwohl sie im relativen Wohlstand aufgewachsen sind, eine gute Ausbildung genossen haben, Eigentumswohnung oder Häuser von ihren Großeltern erben. Dennoch erleben sie keine Lebensfreude, keine Sinnerfüllung.

Man kann nur hoffen, dass Robert Bales ein gerechter Prozess erwartet, dass seine Belastungsstörung als solche erkannt und beim Namen genannt wird und dass er nicht seinen Kindern die unerträgliche Belastung als seelisches Trauma weitergibt. Emmy Werner, eine amerikanische Professorin für Entwicklungspsychologie, die in ihrer Jugend die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland miterlebt hat und später in ihren Forschungen den Begriff »Resilienz« (Gedeihen trotz widriger Umstände) geprägt hat, sagt am Schluss ihrer neuesten Untersuchung zur Situation von Kriegskindern aus aller Welt: „war is not good for children“.

Margarete Hecker war ca. 30 Jahre Professorin an der Evangelischen Hochschule Darmstadt mit dem Aufgabengebiet Weiterbildung von Sozialarbeitern in systemischer Familienberatung. Ein besonderes Anliegen sind ihr weiterhin die Aufarbeitung der Familien- und Sozialgeschichte der Nachkriegszeit, die Situation der Kinder und Enkel der Kriegsgeneration sowie Migrantenschicksale. Website unter nieder-modau.de.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2012/2 Hohe See, Seite 5