W&F 2023/3

Innergesellschaftliche Konflikte

Versuch einer systematischen Skizze

von Lotta Mayer

Konflikte in einer Gesellschaft zu thematisieren, kann oberflächlich schnell geschehen – doch was bedeutet es, sich dieser Frage systematisch zu widmen? Welches Wissen der Friedens- und Konfliktforschung kann helfen, den Blick »nach innen« zu wenden und dabei nicht rein selektiv und eklektisch zu arbeiten? Der Beitrag versucht eine Ordnung entlang verschiedener Typologien, um ein systematisches Fragen nach innergesellschaftlichen Konflikten zu erleichtern.

Deutschland und Konflikt. Konflikte in Deutschland. Der Einfluss von Konflikten in Deutschland auf Konflikte in anderen Ländern und vice versa. Ganz zu schweigen von: Die Wahrnehmung(en) von Konflikten anderswo in Deutschland. Die Wahrnehmung von Konflikten in Deutschland in der Öffentlichkeit anderer Länder. Und all das: Gegenwärtig. Historisch (wie weit zurück?). Zukünftig. Direkt. Indirekt. Für verschiedene Typen, Verlaufsformen, Phasen, Aspekte von Konflikten. Und was überhaupt heißt hier »Deutschland« – »Der Staat«? Oder »die Gesellschaft«? Und wer wiederum ist das, wenn man die Fiktionen eines unitarischen Staates und einer homogenen Gesellschaft aufgibt?

Schon dieser kurze Abriss, mehr semantische Spielerei als Analyse, zeigt, wie komplex das Thema ist, das »Wissenschaft und Frieden« sich in der vorliegenden Ausgabe vorgenommen hat. Dies gilt selbst dann, wenn der Schwerpunkt klar auf innergesellschaftlichen Konflikten in Deutschland liegt und die übrigen Bezüge nur kursorisch hergestellt werden. Dies impliziert, dass die Beiträge notwendigerweise nur ausgewählte Konflikte und Aspekte herausgreifen können – eine systematische Erfassung ergäbe ein dickes Handbuch, keinen Zeitschriftenband. Der vorliegende Beitrag will daher versuchen, den umfassenden und systematischen Zusammenhang zu skizzieren, in den sich die Beiträge der Ausgabe einordnen lassen. Typologisierende Ansätze mögen zwar etwas sperrig und bei knapper Darstellung auch nicht übermäßig angenehm zu lesen sein, aber sie ermöglichen es, begrifflich präzise zu fassen, worüber man überhaupt redet, bevor man in die tiefergehende Analyse einsteigt.

Dies bedeutet, die breite Frage nach den möglichen Verbindungen zwischen »Deutschland« und »Konflikt« ins Zentrum zu stellen, auch wenn sie nur in ganz groben Zügen beantwortet werden kann. Dazu eignen sich weniger Konflikttheorien, da diese entweder auf bestimmte Formen von Konflikten oder bestimmte Aspekte einer Analyse fokussieren, als vielmehr Typologien. Dabei bedarf es der Kombination von Konflikttypologien einerseits und Typologien unterschiedlicher Rollen von Akteur:innen in Konflikten andererseits. Dies ermöglicht es, die großen Linien möglicher Verbindungen dennoch mit einer gewissen Differenziertheit zu ziehen und dabei wenigstens Anschlussmöglichkeiten für einige der zahlreichen Fragen aufzuzeigen, die unbehandelt bleiben müssen.

Was heißt hier Konflikte?

Konflikte können grob verstanden werden als von den Trägergruppen als unvereinbar interpretierte Bedeutungskonstruktionen in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand, die im Handeln und in der Interaktion miteinander ausgetragen werden (Mayer 2019, S. 141ff.). Hier lassen sich verschiedene Arten von »Typologien« unterscheiden. Die im Folgenden herangezogenen Typologien beschränken sich dabei allesamt erstens auf Konflikte, die als Meso- oder Makrokonflikte bezeichnet werden können, d.h. sich zwischen sozialen Gruppen bzw. sozialen und politischen Entitäten vollziehen. Zweitens soll es nur um Konflikte gehen, die als »politisch« in einem breiten Sinn bzw. als »soziale Konflikte« im Sinne von »gesellschaftlich« bezeichnet werden können, d.h. bei denen es um Fragen nach der allgemeinverbindlichen Regelung des Zusammenlebens geht. Dies umfasst Fragen nach der Gestaltung des politischen Institutionensystems, Fragen nach durch formelle oder informelle Normen geregelten Gruppenverhältnissen (etwa: Geschlechterbeziehungen) oder auch Verteilungsfragen. Drittens soll der Begriff des Konflikts auf die direkte Auseinandersetzung zwischen Kollektiven beschränkt sein; indirekte Verhältnisse wie Konkurrenz bleiben außen vor.

Wer handelt und wo?

Eine zentrale Frage bei der Behandlung innerstaatlicher Konflikte1 ist, wer handelt und wo. Diese Unterscheidung verbindet die grundlegenden Akteursmerkmale der Konfliktparteien (Staat vs. nichtstaatliche:r Akteur:in) mit dem relationalen Aspekt des »wer gegen wen«, d.h. der Konstellation der Konfliktparteien, und bezieht dabei auch den Aspekt der Territorialität als konstitutiv für die Unterscheidung transnationaler Konflikte mit ein. Dabei ist sowohl einerseits die Verortung der Konfliktparteien selbst als auch der Ort ihres jeweiligen Handelns differenziert zu betrachten. Denn lässt es sich mit Sicherheit ausschließen, dass der Konfliktaustrag zweier Konfliktparteien auf einem dritten Territorium nicht doch letztendlich ein innergesellschaftlicher Konflikt ist? Ein Beispiel dafür könnten Auseinandersetzungen über kulturpolitische Veranstaltungen zwischen verschiedenen Gruppen einer Diaspora in dritten Staaten sein.

Eine weitere Differenzierung innerstaatlicher und transnationaler Konflikte ergibt sich daraus, ob in ihnen jeweils ein oder mehrere nichtstaatliche Akteur:innen dem Staat als gegnerische Konfliktparteien gegenüberstehen (klassische innerstaatliche Konflikte) oder aber mehrere nichtstaatliche Akteur:innen miteinander in Konflikt stehen (»nichtstaatliche Konflikte« – vgl. u.a. HIIK 2003, S. 8; Sundberg et al. 2012). Ebenso ist zu fragen, ob − idealtypisch gesprochen − die nichtstaatlichen Konfliktparteien gänzlich unabhängig agieren oder proxies eines Staates sind. Dies gilt nicht nur bei Konflikten, die auf den ersten Blick der klassischen Konstellation »Rebellengruppe gegen ›ihren‹ Staat« zu entsprechen scheinen, sondern auch da, wo eine nichtstaatliche Gruppe durch »Selbstverteidigungsmilizen« oder andere paramilitärische Gruppen bekämpft wird.

Quer dazu steht eine Unterscheidung, die ebenfalls den Blick auf die Konfliktparteien und deren Konstellation richtet (und üblicherweise nur für kriegerische Konflikte vorgenommen wird, aber problemlos allgemein auf Konflikte übertragbar ist): die zwischen dyadischen Konflikten, d.h. Konflikten, die der alltagsweltlichen Vorstellung zweier gegnerischer Parteien entsprechen, und multi-party conflicts (wegweisend Gochman und Maoz 1984). In dem Moment, in dem sich drei Konfliktparteien gegenüberstehen, sind andere Konstellationsstrukturen möglich als die klassisch-dyadische: Ganz so, wie für den konflikttheoretisch wegweisenden Soziologen Georg Simmel die Gesellschaft erst mit dem Dritten anfängt (vgl. Simmel 1992, S. 117ff.), wird es konfliktsoziologisch mit der Anwesenheit einer dritten Konfliktpartei (zu Dritten in anderen Rollen siehe unten , S. 9) erst richtig spannend.

Triadische Konstellationen sind dabei nur der Beginn der möglichen Komplexität. Je mehr Konfliktparteien involviert sind, desto komplexere Konstellationen und desto häufigere, dynamischere Positionswechsel von Konfliktparteien sind möglich, bis hin zum Hobbes’schen »all against all«.

Mit Blick auf die Charakteristika der Konfliktparteien selbst ist der Autorin kein Versuch einer systematischen Typologie bekannt; daher sei hier auf eine Reihe von (idealtypischen) Unterscheidungsmerkmalen verwiesen, die in der Konfliktforschung und/oder soziologischen Charakterisierungen sozialer Gruppen vorgenommen werden (vgl. Tabelle 1, S. 8). Dabei ist zu betonen, dass auch Akteur:innen, die als »staatlich«, »organisiert« oder »homogen« charakterisiert sind, allenfalls zu heuristischen Zwecken, aber nicht ihrem »Wesen« nach, als unitarisch begriffen werden dürfen. Auch »der Staat« als Akteur ist ein komplexes Gefüge aus Organisationen, die wiederum je intern nicht unitarisch sind − und in denen keineswegs nur formal gesetzte Regeln handlungsleitend sind. Kombiniert man diese Unterscheidungen und füllt sie inhaltlich, so erhält man so unterschiedliche Akteurstypen wie »politische Parteien«, »Sicherheitsbehörden«, »soziale Bewegungen«, »terroristische Gruppen« oder »Rebellenarmeen«.

Tabelle 1: Nicht abschließende Sammlung idealtypischer Charakteristika von Konfliktparteien

staatlich

vs.

nichtstaatlich

organisiert

vs.

unorganisiert

formal

vs.

informell

hierarchisch

vs.

nicht-hierarchisch

hinsichtlich des Verhältnisses ihrer Mitglieder bzw. organisationalen Subeinheiten zueinander

homogen

vs.

heterogen

hinsichtlich ihrer personellen Zusammensetzung

stabil

vs.

fluide

in ihrer inneren und/oder äußeren Form einerseits, hinsichtlich ihrer Mitglieder andererseits

scharf nach außen ­abgegrenzt

vs.

nach außen offen

»partikularistisch«

vs.

»universalistisch«

hinsichtlich ihrer Rekrutierung, vgl. Parsons’ »pattern variables« (Parsons 1951, insbes. S. 143)

Kleingruppe

vs.

Großgruppe

»Vergemeinschaftung«

vs.

»Vergesellschaftung«

im Sinne Max Webers
(d.h. grob gesagt: emotionale und wertbasierte Verbindungen zwischen den Gruppenmitgliedern vs. rein interessenbasierter Zusammenschluss)

klandestin

vs.

offen agierend

bewaffnet

vs.

nicht bewaffnet

Quelle: Eigene Darstellung der Autorin.

Themen, Gegenstände und »cleavages«

Quer zu all den bisher gemachten Unterscheidungen steht die Klassifikation danach, worum es eigentlich geht in Konflikten − worüber bzw. weshalb Konfliktparteien sich streiten. Auf der konkretesten bzw. oberflächlichsten Ebene richtet sich der Blick damit auf die Themen, um die die diskursive Auseinandersetzung der Konfliktparteien kreist bzw. die Gegenstände, auf die sich ihre Aneignungs- oder Kontrollversuche fokussieren. Hier bedarf es zum einen der klassifizierenden Abstraktion im Sinne von »Typologien der Konfliktgegenstände« und zum anderen des Blicks auf tieferliegende Konfliktlinien oder »cleavages«. Konfliktthemen und -gegenstände müssen letztlich als arbiträrer und entsprechend oft wechselnder Ausdruck dieser »cleavages« verstanden werden (zu letzterem Blumer 1988, S. 243). Einen Überblick über aus der Theorie bekannte Typologisierungen bietet Tabelle 2.

Tabelle 2: Konfliktgegenstände nach dem HIIK

1

»internationale Macht«, »nationale Macht« und »regionale Vorherrschaft«, d.h. Machtkonflikte in zwischenstaatlichen, »klassisch« innerstaatlichen und »nicht-staatlichen« Konflikten

2

Autonomie und Sezession, d.h. Konflikte um Selbstbestimmung (innerstaatlich)

3

System/Ideologie, d.h. Konflikte um Glaubensfragen oder die Ausrichtung des politischen Systems

4

Konflikte um (Sicherung von, Zugang zu) materielle Ressourcen

Dabei können Gegenstände auch in Verbindung miteinander auftreten − etwa ein Konflikt um nationale Macht, der verbunden ist mit der Auseinandersetzung um die Gestaltung des politischen Systems, oder ein Autonomiekonflikt mit Ressourcendimension.

Quelle: Systematisierung der HIIK-Methodologie für das Konfliktbarometer (HIIK 2023) durch die Autorin.

Diese Gegenstände lassen sich zumindest idealtypisch in die deutlich abstraktere Unterscheidung von Alfred O. Hirschman (1994) einordnen, der »teilbare« und »unteilbare« Konfliktgegenstände unterscheidet. Entlang dieser Differenz lassen sich, so Hirschman, (vereinfacht gesagt) »Interessenkonflikte« einerseits und sehr grundsätzliche Konflikte wie etwa Wertkonflikte unterscheiden. Sie unterscheiden sich in Eskalationsanfälligkeit und Lösbarkeit: Wertkonflikte neigen viel stärker zu einem konfrontativen, vielleicht auch gewaltsamen Austrag als Interessenkonflikte, da nur letztere kompromissförmig lösbar sind.

Derart bildet Hirschmans Unterscheidung schon einen Kern einer Theorie von Konflikt in modernen Gesellschaften. Die Verbindung zwischen einer Klassifikation von Konfliktgegenständen und einer Konflikt(ursachen)theorie wird am deutlichsten in der Unterscheidung sozialer »cleavages« oder Konfliktlinien, die die Wahlforscher Martin Seymour Lipset und Stein Rokkan (1967) entwickelten (siehe Tabelle 3). Wenn diese Trennlinien politisiert werden, werden sie zu genuinen Konfliktlinien (Kriesi et al. 1995). Die Eskalationsanfälligkeit dieser Konflikte hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Trennlinien »cross-cutting« oder kongruent sind, d.h. in welchem Maß sich hier verfestigte Lager ausbilden, die themen- und gesellschaftsbereichsunabhängig immer mehr trennt als vereint, oder ob die Trennlinien nur situativ relevant werden (vgl. Coser 1956, S. 78ff.).

Tabelle 3: Gesellschaftliche »Cleavages«

traditionell

Arbeit vs. Kapital (Marx)

Zentrum und Peripherie

Kirche und Staat

Stadt und Land

aktuell

»Materialisten vs. »Postmaterialisten«

»Somewheres« vs. »Anywheres«

Quelle: Zusammenstellung der Autorin nach Lipset und Rokkan (1967), Inglehard (1977) und Goodhard (2017)

Was wissen wir zu Konfliktaustrag und -verlauf?

Die wichtigste typologische Unterscheidung, die auf Prozessmerkmale abhebt und dabei hinreichend abstrakt zur Charakterisierung unterschiedlichster Konfliktformen ist, zielt auf die Frage der Gewaltsamkeit des Austrags (im Sinne einer engen, »physischen« Gewaltdefinition). Gewaltsame und nichtgewaltsame Handlungen bestehen zumeist nebeneinanderher bzw. in komplexer Verbindung miteinander. »Gewaltsamer Austrag« bedeutet nicht, dass nur gewaltsame Handlungen stattfinden (vielmehr wird gerade in Kriegen häufig zeitgleich gekämpft und verhandelt); und grundsätzlicher sind die nichtgewaltsamen Konflikte nicht zwingend konfrontativer Natur (etwa: Druck, Drohungen, Einschüchterung). Vielmehr können Konflikte sogar vollständig kooperativ im Sinne der gemeinsamen Suche nach einer Lösung oder wenigstens einem guten Umgang mit der Differenz ausgetragen werden (Mayer 2019, S. 195ff.).

Auf dieser Basis lassen sich dann zum einen unterschiedliche Intensitäten der Gewaltanwendung unterscheiden: Hier werden üblicherweise Kriege von in geringerem Maße gewaltsamen Konflikten unterschieden, wobei die präzisen Definitionen bzw. Operationalisierungen erheblich variieren.2 Teilweise werden dabei noch Unterscheidungen danach vorgenommen, ob in einem (dyadisch gedachten) Konflikt beide Seiten Gewalt anwenden oder nur eine (»one-sided violence«, Eck und Hultmann 2007). Die im Bereich der quantitativ orientierten Konfliktforschung wohl präziseste Unterscheidung bietet hier das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (Schwank et al. 2016), das zwischen nur sporadisch gewaltsamen und hochgewaltsamen Konflikten unterscheidet und letztere in begrenzte Kriege und Kriege differenziert.

Bringt man die oben skizzierten strukturellen mit diesen prozessorientierten Unterscheidungen zusammen, ermöglicht dies nicht nur eine multidimensionale und temporalisierte Charakterisierung konkreter Konflikte (und potentiell auch eine anspruchsvollere, inhaltlich gesättigte Typologie). Sie erlaubt auch, systematisch nach dem Zusammenhang zwischen strukturellen Merkmalen, wie den Eigenschaften und Konstellationen von Konfliktparteien, und prozessualen Merkmalen des Konflik­taustrags und -verlaufs zu fragen − und zwar über die bisher bekannten Erkenntnisse hinaus, die immer nur auf eine strukturelle Dimension bezogen sind (beispielsweise eine höhere Eskalationsneigung von Konflikten um unteilbare Gegenstände oder innerstaatlicher im Vergleich zu zwischenstaatlichen Konflikten, vgl. u.a. Schwank 2012, Hasenclever 2002).

Rollen im Konflikt

Um die Frage nach der Involviertheit »Deutschlands in Konflikte« differenziert beantworten zu können, ist es nun noch ebenso erforderlich, verschiedene idealtypische Rollen von Akteur:innen im Kontext von Konflikten zu unterscheiden. Konstitutiv für Konflikte sind dabei (nur) die Konfliktparteien. An Konflikten beteiligt können aber zahlreiche andere Akteur:innen als verschiedenste Dritte in unterschiedlichen Dritten-Rollen sein, insbesondere Unterstützer:innen und Sympathisant:innen, Mediator:innen bzw. Intervenierende und Beobachter:innen (vgl. Mayer 2019, S. 160ff.). Im Kern dieser Unterscheidung stehen analytisch betrachtet zwei Achsen der Differenz, die üblicherweise implizit bleiben: zum einen und zentral der Grad der Involviertheit, zum anderen mit präzisierender Funktion die Parteilichkeit oder Unparteilichkeit bzw. die Art des Interesses am Konfliktgegenstand. Die Frage nach den Rollen, die konkrete Akteur:innen in bestimmten Konflikten einnehmen, steht quer zu den struktur- und prozessbezogenen Charakteristika von Konflikten.

Wenn etwa das Überlagern von Konfliktgegenständen und cleavages mit Rollen von Akteur:innen systematisch betrachtet wird, wird ersichtlich, dass zwischen den verschiedenen Konflikten, in die der deutsche Staat oder deutsche Akteur:innen in unterschiedlichsten Rollen involviert sind, einerseits und eben diesen Rollen andererseits Zusammenhänge bestehen können. Hiernach wäre ebenfalls systematisch zu fragen: Resultieren etwa aus Konflikten, die »Deutschland« − sei es als Kolonialstaat, sei es als Profiteur ungleicher terms of trade, etc. – strukturell mitverursacht hat, Externalitäten für »Deutschland« (wie etwa: Fluchtbewegungen), die wiederum einerseits intervenierendes Handeln »Deutschlands« (etwa: humanitäre Hilfe) und andererseits Konflikte innerhalb Deutschlands (weil Teile der Gesellschaft und einige politische Parteien Geflohene als negative Externalität definieren) sowie bzw. daraus wiederum Konflikte mit anderen Staaten (etwa: um die Verteilung von Geflohenen in der EU)? Derart wird wiederum ersichtlich, weshalb die ganz enge Frage nach innerstaatlichen Konflikten in Deutschland eines breiten Fokus auf der Grundlage systematischer typologischer Unterscheidungen bedarf: Nur so kommen die genannten Zusammenhänge in den Blick, und nur so wird die Analyse eine umfassende statt einer unbewusst selektiven, die entsprechend riskiert, zu systematisch verzerrten Resultaten zu gelangen.

Innerdeutsche Konflikte

Die oben vorgenommenen Unterscheidungen erlauben es, einen einigermaßen systematischen Blick auf Konflikte in Deutschland zu werfen, der über eine rein assoziative Zusammenstellung hinausgeht, ohne gleich das (über-)ehrgeizige Ziel einer vollständigen Erfassung zu verfolgen. Die große Vielfalt der möglichen Konfliktparteien einerseits in Verbindung mit der oben getroffenen Einschränkung auf politische bzw. gesellschaftliche Konflikte andererseits legt es nahe, für diese Zusammenstellung gesellschaftliche cleavages ins Zentrum zu stellen. Schließlich sind sie per definitionem Differenzen, die geeignet sind, dass aus ihnen relativ persistente und für größere Bevölkerungsteile relevante Konflikte erwachsen.

Angesichts der offenen Frage, inwiefern die »alten« cleavages noch relevant sind und welche neuen gegebenenfalls zu beachten wären (vgl. Tabelle 3), empfiehlt es sich nach Ansicht der Autorin, statt von den in der Debatte üblicherweise verhandelten Linien in einem ersten Schritt von den in der soziologischen Sozialstruktur- bzw. Ungleichheitsforschung etablierten Unterscheidungsstrukturen sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Schichtung auszugehen. Dies sind Alter; Geschlecht (auch als non-binäre Kategorie); sexuelle Orientierung; Stadt vs. Land; Religion bzw. Konfession; Migrationshintergrund sowie die Unterscheidung in sozio-ökonomische Klassen oder Schichten in Abhängigkeit von Vermögen bzw. Kapital, Einkommen und Bildungsgrad oder der Unterscheidung verschiedener Milieus oder Lebensstile.3 An letztere lässt sich − nicht in enger Kopplung, aber doch im Sinne von Affinitäten − die Frage nach der politischen Orientierung anschließen, die wiederum in derselben Weise mit der Positionierung zu jeweils konkreten politisch und gesellschaftlich mehr oder weniger umstrittenen Themen einhergeht.

Davon ausgehend lässt sich dann zum einen in einer Art Bestandsaufnahme fragen, welche cleavages denn aktuell als Themen Gegenstand öffentlich ausgetragener innerdeutscher Konflikte sind, zwischen welchen Akteur:innen (Individuen, Gruppen, Organisationen) sie kontrovers verhandelt bzw. gar gewaltsam ausgetragen werden. Die derzeit gesellschaftlich, teils auch politisch wohl am erhitztesten diskutierten Themen betreffen insbesondere Migration (zum einen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und solchen ohne, was sich sowohl in so abstrakten Themen wie Debatten um das Staatsbürgerschaftsrecht als auch in konkreten Themen wie etwa dem der »Clankriminalität« manifestiert (siehe dazu den Beitrag von Dreher und Henschel), zum anderen hinsichtlich der »Steuerung« von künftiger Migration nach Deutschland), Geschlecht (sowohl hinsichtlich des »klassischen« Themas der Gleichberechtigung von Mann und Frau als auch hinsichtlich der Akzeptanz von non-binären, inter- oder transsexuellen Menschen), und nach der vollen Gleichberechtigung von nicht-heterosexuellen Menschen insbesondere bei reproduktiven Rechten (siehe dazu den Beitrag von Mientus). Bei diesen Themen sind die Kontrahent:inn en häufig relativ deckungsgleich, sodass hier die Frage gestellt werden kann, ob sich eine Achse der Polarisierung identifizieren lässt (vgl. den Beitrag von Richter und Salheiser).

Zum anderen lässt sich fragen, welche Themen dies eigentlich sein sollten, und wieso sie es eben gerade nicht sind. »Latente« Konflikte zeichnen sich schließlich gerade dadurch aus, dass sie öffentlich eben nicht prominent verhandelt werden. Konflikt- und vielleicht auch gesellschaftstheoretisch ist das umso spannender, je stärker aufgrund der strukturellen Gegebenheiten zu erwarten wäre, dass die fraglichen Themen tatsächlich offene Konflikte konstituieren. Insofern ist es beispielsweise bemerkenswert, dass die in Deutschland im OECD-Vergleich eher große Einkommens- und insbesondere Vermögensungleichheit zwar durchaus wissenschaftlich und auch in den Qualitätsmedien behandelt wird, aber nicht dazu führt, dass bislang die cleavage zwischen Vermögenden und Nicht-Vermögenden (v.a. kapitallosen Werkstätigen) zur Mobilisierungslinie und wichtigen Konfliktlinie würde – wohl nicht zuletzt aufgrund der öffentlichen Unterschätzung des tatsächlichen Ausmaßes an Ungleichheit (vgl. Busemeyer et al. 2023). Jenseits von Tarifkonflikten und der gelegentlich aufflammenden Debatte über Vermögens- und Erbschaftssteuern bleibt das Thema weitgehend latent, erst recht in seiner ganz grundsätzlichen Dimension der Frage nach dem Verhältnis von Staat, Markt und Gesellschaft. Zudem positionieren sich in diesen Auseinandersetzungen auffällig viele Menschen nicht entsprechend ihrer »objektiven» ökonomischen Interessen (vgl. u.a. Beckert 2017).

Bei diesen Konflikten stellt sich dann die Frage, welche Rolle (Konfliktpartei? Unterstützer? Mediator? Beobachter? Unwissender?) dabei »der Staat« oder vielmehr welche staatlichen Instanzen (im Gröbsten: Exekutive, Judikative und Legislative) spielen, und zwar gegebenenfalls in ihrer Veränderung im Zeitverlauf − und welche Dynamiken wiederum daraus erwachsen sowohl innerhalb des jeweiligen Konflikts als auch hinsichtlich von Auswirkungen auf andere bestehende Konflikte und soziale Akteur:innen sowie auf die Entstehung neuer Konflikte und Konfliktparteien. Das resultierende Gesamtbild dürfte nicht nur hochkomplex, sondern durchaus auch sehr widersprüchlich sein.

Anmerkungen

1) Der Terminus »innerstaatlich« meint dabei im Kern dasselbe wie der »innergesellschaftlich«, wobei jedoch ersterer den Vorzug der klaren Abgrenzung hat – was »eine Gesellschaft« sei und wo ihre Grenzen verlaufen, ist schließlich sowohl theoretisch als auch empirisch deutlich schwieriger zu beantworten als die Frage danach, was ein Staat ist und wo dessen Grenzen seien. Da derart die Abgrenzung von innerstaatlich und transnational erheblich erschwert ist, wird im Folgenden von »innerstaatlichen« Konflikten die Rede sein.

2) Idealtypisch stehen sich hier beispielsweise die 1.000 dem Kampf zuordenbaren Toten des »Correlates of War Project« (vgl. Reid Sarkees 2010) und komplexere Definitionen wie das des HIIK (Schwank et al. 2016, S. 6ff) gegenüber.

3) Hier wäre zu beachten, dass diese teils als Alternative zu Klassen- oder Schichtkonzepten konstruiert und teils systematisch mit ihnen in Verbindung gebracht werden.

Literatur

Beckert, J. (2017): Neid oder soziale Gerechtigkeit? Die gesellschaftliche Umkämpftheit der Erbschaftssteuer. Aus Politik und Zeitgeschichte 23-25, S. 23-29.

Blumer, H. (1988 [1958]): The Rationale of Labor-Management Relations. In: Lyman, S.; Vidich, A. J. (Hrsg.): Social Order and the Public Philosophy. An Analysis and Interpretation of the Work of Herbert Blumer. Fayetteville: University of Arkansas Press, S. 234-269.

Busemeyer, M. R., et al. (2023): Eingetrübte Aussichten: Das Konstanzer Ungleichheitsbarometer belegt die Wahrnehmung zunehmender Ungleichheit. Policy Paper Nr. 12, Konstanz, Exzellenzcluster »The Politics of Inequality«.

Coser, L. A. (1956): The Functions of Social Conflict. Glencoe: The Free Press.

Eck, K.; Hultman, L. (2007): Violence Against Civilians in War. Journal of Peace Research 44(2), 
S. 233-246.

Gochman, Ch.; Maoz, Z. (1984): Miltitarized Interstate Disputes 1816-1976. Procedures, Patterns and Insights. Journal of Conflict Resolution 28(4), S. 585-614.

Goodhart, D. (2017): The Road to Somewhere: The New Tribes Shaping British Politics. London: Penguin books.

Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (2003): Conflict Barometer 2003. URL: hiik.de/konfliktbarometer/bisherige-ausgaben.

Hasenclever, A. (2002): Sie bewegt sich doch. Neue Erkenntnisse und Trends in der quantitativen Kriegsursachenforschung. Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9(2), S. 331-364.

Hirschman, A. O. (1994): Social Conflicts as Pillars of Democratic Market Society. Political Theory 22(2), S. 203-218.

Kriesi, H. et al. (1995): New Social Movements in Western Europe. London: UCL Press Limited.

Mayer, Lotta (2019): Konfliktdynamiken – Kriegsdynamiken. Zur Konstitution und Eskalation innergesellschaftlicher Konflikte. Bielefeld: transcript.

Parsons, T. (1985): The Social System, New York: The Free Press.

Sarkees, M. R. (2010): The COW Typology of War: Defining and Categorizing Wars (Version 4 of the Data). URL: correlatesofwar.org.

Schwank, N. (2012): Konflikte, Krisen, Kriege. Die Entwicklungsdynamiken politischer Konflikte seit 1945. Baden-Baden: Nomos.

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Simmel, G. (1992 [1908]): Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe. In: Rammstedt, O. (Hrsg.): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Georg-Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 63-159.

Sundberg, R. et al. (2012): Introducing the UCDP Non-State Conflict Dataset. Journal of Peace Research 49(2), S. 351-362.

Lotta Mayer ist Nachwuchsgruppenleiterin am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg und wissenschaftliche Referentin im Arbeitsbereich Frieden der FEST Heidelberg. In ihrer 2019 bei transcript erschienen Dissertation »Konfliktdynamiken – Kriegsdynamiken« entwickelte sie eine interaktionistische Theorie der Konstitution und Eskalation innergesellschaftlicher Konflikte.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/3 Gesellschaft in Konflikt, Seite 6–10