Integrationsansatz
für einen »Hinterhof«?
Der Stabilitätspakt für Südosteuropa
von Michael Kalman
Der Stabilitätspakt für Südosteuropa geht in das zweite Jahr. Grund genug, einen kritischen Blick auf ein Instrument zu werfen, welches als Katalysator für eine Integration der ärmsten europäischen Region in die Europäische Union (EU) dienen soll. Am 10. Juni 1999 hatte eine von der EU auf Initiative Deutschlands einberufene Außenministerkonferenz von 38 Staaten und 15 internationalen Organisationen den Pakt beschlossen. Die verbindlichen Zusagen der Finanzmittel für ein umfangreiches Hilfsprogramm sollten auf Geberkonferenzen eingeholt werden. Der Sinn einer solchen Initiative war evident, handelt es sich beim krisengeschüttelten Balkan doch um die ärmste Region des alten Kontinents. Und doch musste befremden, dass fast dieselben Akteure übergangslos zum großen zivilen Wiederaufbau bliesen, die gerade im Rahmen der NATO-Operation »Allied Force« mit einer riesigen Armada von Kampfflugzeugen ihre Bombenlast auf Brücken, Eisenbahnlinien, Fabriken und Kraftwerke gelegt und damit das wirtschaftliche Rückgrat Serbiens, des Herzlandes Südosteuropas, fast gebrochen hatten.
Auf dem pompösen Gipfel in der geschundenen Stadt Sarajewo am 30. Juli 1999 wurden nach drei Balkankriegen ambitionierte Ziele für das Armenhaus Europas formuliert: Danach sollten alle Menschen der Region – die wenigen Reichen und die meisten Bitterarmen – in den Genuss von Demokratie, Achtung der Menschenrechte, einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und einer verbesserten Sicherheit kommen (Punkt 2 der Abschlusserklärung). Die drei vorgesehenen Arbeitstische sollen die Themen »Demokratie und Menschenrechte«, »Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit« und »Sicherheit« behandeln. Aufmerksame LeserInnen des Abschlussdokuments entdecken, dass in den Arbeitstischen die »soziale Entwicklung« überhaupt nicht mehr vorkommt. Immerhin soll der Stabilitätspakt eine Zusammenarbeit der Staaten in der Region anregen, indem nur solche Projekte gefördert werden, die von mindestens zwei Balkanländern vorgeschlagen wurden. Dieser regionale Ansatz ist vom Prinzip her gewiss sinnvoll. Dem früheren Kanzleramtsminister Bodo Hombach (SPD) kommt als EU-Sonderkoordinator des Stabilitätspakts seit Mitte 1999 die schwierige Aufgabe zu, vorgeschlagene Projekte und Finanzmittel der Geber zusammenzubringen.
Im folgenden soll eine dreigliedrige Kritik am Stabilitätspakt versucht werden.
- Da sind zunächst die mehr technischen Fragen zu diskutieren. Kommt eine angemessene Summe durch die Geberinstitutionen und -länder zusammen? Werden sinnvolle Projekte vorgeschlagen? Kommt das Geld auch tatsächlich bei den Projekten und in den Empfängerregionen an? Zielen die Projekte auf eine nachhaltige, sich selbst tragende Entwicklung?
- Dann sind grundsätzlichere Fragen zur Konzeption und zu den Rahmenbedingungen des Stabilitätspaktes zu stellen. Ist das Konzept des Stabilitätspakts hinreichend, widerspruchsfrei und effektiv? Bieten die Rahmenbedingungen des Stabilitätspaktes ein fruchtbares Umfeld für optimale Wirkungen?
- Schließlich: Was kann der Stabilitätspakt für die Integration Südosteuropas in die europäischen Strukturen leisten? Welche Rolle spielt das enorme Wohlstandsgefälle zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und den Balkanländern?
Technische Aspekte
des Stabilitätspaktes
Die mehr technischen Aspekte des Stabilitätspaktes enthalten viele Fragezeichen: Zunächst bleiben die verbindlichen Finanzzusagen weit hinter den Erwartungen zurück. Lediglich die USA haben im Sommer 1999 700 Mio. US$ an acht Balkanländer (außer Serbien) für den Nachkriegsaufbau bereitgestellt. Aus der EU wurden zunächst nur Mittel für den kriegszerstörten Kosovo bereitgestellt. Immerhin gewährte Brüssel den Balkanstaaten einseitige Handelspräferenzen.1 Danach vergingen lange Monate bis die internationale Geberkonferenz am 1./2. April 2000 in Brüssel für den sogenannten »Schnellstart« insgesamt 1,8 Mrd. Euro erbrachte. Angesichts der teilweise verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Lage der Balkanländer ist dieses Gebervolumen kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Man erinnert sich mit Unbehagen an Bosnien, wo der Bedarf für den Wiederaufbau auf mehrere Dutzend Milliarden US-Dollar geschätzt wurde. Die Geberinstitutionen und -länder diskutierten lediglich über einen kleinen Teil hiervon. Von den wenigen Milliarden US-Dollar, die schließlich ins Land flossen, gingen erkleckliche Mittel in die IFOR und in den Apparat des Hohen Repräsentanten. Dies verweist auf einen desillusionierenden Aspekt: Die Geber sind nämlich – anders als das Wort suggeriert – keine karitativen Vereine, sondern reichen die Mittel mehr oder weniger im Namen des eigenen Vorteils weiter. Die Finanzinstitutionen verdienen an den Kreditlinien, während die Nehmerländer noch tiefer in die Schuldenfalle tappen.
Man denkt auch mit Skepsis an andere EU-Programme für Osteuropa wie z.B. PHARE. Die Gelder für die teuren Beratungsprojekte gingen hier nicht etwa an Firmen der Region, sondern an Unternehmen aus westlichen Ländern, die zudem zwar mit hochentwickelten Marktwirtschaften vertraut waren, nicht aber mit den komplexen Problemen von Transformationsländern.2 Hinsichtlich der vielbeschworenen Kooperation, so resümiert Tömmel für ausgewählte PHARE-Projekte, „ergeben sich enorm hohe Reibungsverluste aufgrund der unzulänglichen Zusammenarbeit zwischen unwilligen Partnern, während die vielzitierten Synergie-Effekte in keiner Weise erzielt werden können.“3 Das Beispiel Bosnien zeigt auch, dass die bewilligten Gelder teilweise überhaupt nicht ankommen. Sie versickern häufig in Strukturen der Korruption und organisierten Kriminalität. Solches ist auch für nicht wenige Projekte des Stabilitätspaktes zu befürchten, liegt der Anteil der unkontrollierten Schattenwirtschaft in der Balkanregion doch bei 50 % und mehr.
Wofür werden die Mittel des »Quick Starts« verwendet? Ein größerer Teil der Gelder soll innerhalb einer Laufzeit von zwölf Monaten in Infrastrukturprojekte fließen. Dazu gehören die Ausbesserung und der Neubau von Straßen, Brücken, Schienenwegen, Flughafeneinrichtungen und Donauhäfen. Hinzu kommen Reparatur und Modernisierung von Anlagen der Wasser- und Stromversorgung, von Abwassersystemen usw.4 Solche begrenzte Maßnahmen, wenn sie denn schnell umgesetzt werden, können angesichts der schlechten infrastrukturellen Situation der Region nicht falsch sein. Durch derartige Projekte allein werden die Länder Südosteuropas allerdings weder einen wirtschaftlichen Aufschwung schaffen, noch die Massenarmut in der Bevölkerung besiegen.
Schließlich muss die kritische Frage erlaubt sein, ob das punktuelle projektbezogene Herangehen überhaupt eine zusammenhängende, sich selbst tragende Entwicklung begünstigen kann. Hier ist Skepsis angebracht. Das Beispiel Bosnien zeigt, dass die »Projektitis« durch mangelhafte Projektsteuerung viele fast schildbürgerartige Streiche möglich werden ließ – z.B. funktionsunfähige millionenschwere Bauruinen. Immerhin hat die EU für den Stabilitätspakt eine erste Konsequenz aus den schlechten Erfahrungen früherer Programme gezogen: Außenkommissar Patten und Sonderkoordinator Hombach wollen sich nun alle drei Wochen treffen und das Projektcontrolling zur Chefsache machen.
Der Stabilitätspakt
ist in sich widersprüchlich
Der Stabilitätspakt ist in sich widersprüchlich. Auch nach dem Jugoslawienkrieg im Sommer 1999 wurde die Isolierungsstrategie des Westens gegenüber Serbien aufrecht erhalten und bis heute nicht korrigiert. In der Erklärung des Gipfels von Sarajewo wird dieser Kardinalfehler durch diplomatische Formeln verdeckt: „Wir bedauern, dass wir die Bundesrepublik Jugoslawien nicht als vollen und gleichberechtigten Teilnehmer des Stabilitätspakts zu unserem heutigen Treffen einladen konnten. Alle Teilnehmer müssen die Grundsätze und Ziele des Paktes achten. Wir rufen die Menschen in der Bundesrepublik Jugoslawien auf, den demokratischen Wandel zu begrüßen und sich aktiv für die regionale Versöhnung einzusetzen. Um dem Land dieses Ziel unter Achtung seiner Souveränität und territorialen Unversehrtheit näher zu bringen, werden wir Möglichkeiten erwägen, wie die Republik Montenegro zügig einen Nutzen aus dem Pakt ziehen kann.“
Serbien grenzt an fast alle »Nehmerländer« des Stabilitätspaktes an. Eine wirtschaftliche Erholung dieses Raumes ohne Einschluss dieses Kernlandes ist undenkbar. Die außenwirtschaftliche Isolierung Belgrads ist auch politisch unsinnig. Die Annahme der »internationalen Staatengemeinschaft«, dass die systematische Vorenthaltung wirtschaftlicher und sozialer Rechte gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Serbiens dazu führe, dass die pauperisierten Massen ihren »Tyrannen« in einer Art friedlicher Revolution stürzen, entstammt naiver politischer Romantik. Es verwundert, dass diese Annahme zur Grundlage operativer Außenpolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten gemacht wird, denn die Fakten sprechen seit vielen Jahren dagegen. Der „elektoralen Diktatur“5 Milosevics kommt nichts mehr gelegen als eine Abschnürung des Landes. Die antiwestlichen Parolen des jugoslawischen Präsidenten finden so einen noch fruchtbareren Boden. Die staatlich gelenkten Medien in Serbien scheinen die Evidenz auf ihrer Seite zu haben. Trifft es denn nicht zu: Zuerst bombardiert der Westen uns, dann hungert er uns aus! Eine Demokratisierung mit diesen Zwangsmassnahmen ist nicht zu erreichen. Dies betonen gerade auch die oppositionellen Kräfte in Serbien.
Die Anrainerstaaten, die eigentlich ein vitales Interesse an einer Wiederaufnahme der politischen und ökonomischen Kooperation mit ihrem Nachbarn haben, schlossen sich der westlichen Isolierungsstrategie an. Die Aussicht auf eine Heranführung an die (west-)europäischen Strukturen ist für diese Länder scheinbar wichtiger als die Normalisierung der Beziehungen mit Serbien. Dabei werden gerade grenzüberschreitende Projekte vom Stabilitätspakt besonders gefördert. Doch wenn Bulgarien mit Serbien solche Projekte gemeinsam entwickelte, so würde Brüssel die Unterstützung versagen. Dieser konzeptionelle Widerspruch macht den ohnehin spärlichen Mitteleinsatz des Stabilitätspakts ineffektiv.
Die Widersprüche setzen sich jedoch mit der Ungleichbehandlung von Serbien und seinem föderalen Partner Montenegro noch fort: Faktisch wird durch die Tatsache, dass Podgorica in den Genuss von Hilfen kommt, Belgrad aber nicht, die Sezession Montenegros aus dem jugoslawischen Staatsverband – mit möglicherweise blutigen Konsequenzen! Eine gewaltpräventive Wirkung hat ein solches Vorgehen im »Pulverfass« nicht – im Gegenteil!6
Der Stabilitätspakt ist zudem nicht hinreichend, weil er die dramatische Armutsentwicklung in der Balkanregion nicht zur Kenntnis nimmt, geschweige denn bearbeitet. Brüssel übernimmt letztendlich die Konditionalitäten des Internationalen Währungsfonds (IWF), wenn zukünftig weitere Gelder nur dann an die Balkanländer weitergereicht werden, wenn diese ihre »Reformzusagen« einhalten. Die inflationär gebrauchte Leerformel »Reform« lässt hier leider nichts Gutes ahnen. Denn es geht hierbei vor allem um die monetäre Reformstrategie des IWF gegenüber den meisten Balkanstaaten, welche Kreditzusagen mit harten Schnitten bei den öffentlichen Ausgaben und Lohnkürzungen ihres erwerbstätigen Bevölkerungsteils erkaufen müssen.7 Die Konditionalitäten des IWF und damit faktisch auch des Stabilitätspaktes befördern zwei schwerwiegende Fehlentwicklungen auf dem Balkan:
Zum einen wird die kränkelnde öffentliche Hand auch da weiter geschwächt, wo sie für eine funktionierende Marktwirtschaft unerlässliche öffentliche Güter bereitstellen muss wie öffentliche Sicherheit, Bildung und einen Mindestsozialschutz. Zum anderen: So wichtig die Inflationsbekämpfung und eine stabile Währung für eine prosperierende Wirtschaftsentwicklung sind, so verheerend wirkt sich die Vernachlässigung anderer Kernfaktoren einer Volkswirtschaft aus, z.B. die Pflege des »Humankapitals«. Genau dieses verfällt massenhaft in den Transformationsländern Südosteuropas. So wurden nach 1990 nicht nur die Qualifikationen durch den Strukturwandel und die wachsende Arbeitslosigkeit entwertet. Auch der rasante und politisch erzwungene Sozialabbau stürzte die Mehrzahl der Menschen in das Elend des täglichen Überlebens. In einer solchen Lebenslage kann man seine Qualifikationen weder erhalten noch weiterentwickeln. Bis zu 25 Millionen Menschen, die bereits an der Schwelle zur absoluten Armut leben müssen, werden zu AlmosenempfängerInnen herabgewürdigt. Da muss es zynisch anmuten, wenn der Sonderkoordinator Hombach weitere soziale Einschnitte in den Ländern der Balkanregion fordert.8 Im Gegensatz dazu haben die Arbeitsminister der Staaten Südosteuropa auf einer Konferenz am 21. Oktober 1999 unter Einschluss der Bundesrepublik Jugoslawien einen »Sozialplan« für die Region gefordert und deutliche Kritik daran geäußert, dass die soziale Dimension vom Stabilitätspakt nicht berücksichtigt wird. Die harte von außen verordnete Rosskur bei den öffentlichen Ausgaben hat schließlich den Niedergang der Balkanländer befördert. Die Volkswirtschaften der Balkanländer »trocknen« im wahrsten Sinne des Wortes aus. Der Staat kann seine unverzichtbare Rolle als Impulsgeber von multiplikativen Nachfrageeffekten und damit einer notwendigen Stärkung von Binnenmarktstrukturen nicht spielen.
Zum Abschluss dieses zweiten Punktes ist auf eine ungünstige Rahmen- bzw. Entstehungsbedingung der Balkaninitiative hinzuweisen. Der Stabilitätspakt gleicht einem eilig zusammengeflickten Stückwerk als Antwort auf die Verwüstungen des Kosovo-Konflikts und der NATO-Bombardements. Die Nato-Operation »Allied Force« im Frühjahr 1999 hat Serbien zusammen mit Montenegro nach Einschätzung von Balkanexperten auf den Stand des Jahres 1900 zurückgebombt. Die Auswirkungen dieser Zerstörungen werden noch viele Jahre schmerzlich spürbar sein. So sind auch rund ein Jahr nach der Beendigung der Luftschläge noch nicht alle Donaubrücken in Serbien geräumt. Die für die Anrainerstaaten so wichtige Verkehrsader konnte so noch nicht wieder geöffnet werden.9 Auf der anderen Seite soll im Rahmen des Stabilitätspaktes eine zweite Brücke am langen bulgarisch-rumänischen Donauabschnitt entstehen und die Städte Vidin und Calafat miteinander verbinden. Wenn man beides zusammen denkt – die Zerstörung von Dutzenden von Donaubrücken in Serbien und der Bau einer Brücke in den Nachbarländern – dann wird man zwangsläufig den Kopf schütteln müssen. Der Stabilitätspakt muss also aus einer sehr schlechten Ausgangsposition heraus die Folgen eines diametral entgegengesetzten Politikansatzes – der zerstörerischen Militärintervention – konterkarieren. Dies schmälert zusätzlich die Erfolgsaussichten dieser Initiative.
Was kann der Stabilitätspakt leisten?
„Wir bekräftigen unsere gemeinsame Verantwortung für den Aufbau eines letztlich ungeteilten, demokratischen und friedlichen Europas. Wir werden zusammenarbeiten, um die Integration Südosteuropas in einen Kontinent zu fördern, dessen Grenzen unverletztlich bleiben, jedoch nicht mehr eine Trennung bedeuten, sondern die Möglichkeit zu Kontakt und Zusammenarbeit eröffnen.“ Diese Willensbekundung der GipfelteilnehmerInnen des von Sarajewo zeigt, dass der Stabilitätspakt ein strategisches Instrument zur Heranführung der Balkanregion an die EU darstellt. Der Rationalität einer gesamteuropäischen Einigung ist in der Tat nicht zu widersprechen. Eine offene und argumentativ geführte Kontroverse über die Mittel zur Erreichung dieses ambitionierten Ziels muss aber möglich sein. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Auch der Prozess der Osterweiterung wie er sich aktuell vollzieht wird von Brüssel und den Regierungen der meisten EU-Mitgliedsstaaten wie ein alternativloser Sachzwang vorgeführt. Diese »Sachzwangideologie« verknüpft sich mit unzulänglichen Benchmarkings und Länder-Rankings, die mit hochaggregierten, teilweise methodisch fahrlässigen Zahlen und Indices darstellen sollen, welche der osteuropäischen Länder denn am besten ihre »Hausaufgaben gemacht« haben. Mit der Magie der Zahl wird Politik gemacht und alternative Ansätze werden als »subjektiv« oder »illusionär« bekämpft. Eine merkwürdige und für komplexe politische Verhältnisse geradezu fahrlässige Sportmetaphorik hat die sachliche Auseinandersetzung überlagert, wenn nicht ersetzt. Dies wird z.B. deutlich, wenn Bodo Hombach die Balkanländer mit einem »Quick-Start-Programm« zu einem »Marathonlauf« schickt. Umgekehrt verfallen die Regierungen der Balkanländer in Schönfärberei, wenn sie über eine schnelle Heranführung an die EU spekulieren und die Stabilität ihrer Länder loben. Der Kampf um ausländische Investoren und die Hoffnung auf einen Beitritt zur EU hat dazu geführt, dass die politische Auseinandersetzung zunehmend durch PR ersetzt wird. Die Stärkung rechtspopulistischer Strömungen in manchen EU-Mitgliedsstaaten ist auch auf diese Fehlentwicklungen zurückzuführen. Ihr kann nur durch die Zulassung eines offenen Diskurses begegnet werden, der z.B. die Konsequenzen des extremen Entwicklungsgefälles zwischen dem Gebiet der EU und der Balkanregion umfassend zu reflektieren hätte.
In der Tat ist das Wohlstandsgefälle zwischen zwei Nachbarregionen weltweit wohl nirgends größer als zwischen der Europäischen Union und den Ländern Südosteuropas. So erwirtschaftete das »engere« Südosteuropa (Bosnien-Herzegovina, Bundesrepublik Jugoslawien, Republik Makedonien, Albanien, Bulgarien und Rumänien) zusammen genommen im Jahre 1997 ein Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf der Bevölkerung in Höhe von 1.337 US-Dollar. Das entspricht gerade einmal 12 % des BSP pro Kopf des wirtschaftlich schwächsten EU-Mitgliedslandes Portugal. Die Menschen auf dem Balkan leben damit auf demselben Niveau wie die Bevölkerung in Ägypten, Algerien, Marokko, Senegal, Jordanien, Ecuador, Guatemala, Indonesien oder den Philippinen (WELTALMANACH 2000, 31). Betrachtet man das »weitere« Südosteuropa mit seinen 86,6 Mio. Menschen, zu dem hier zusätzlich Ungarn, Kroatien, Slowenien, Griechenland sowie die europäische Türkei gezählt werden, erreichte sein BSP im Jahre 1997 rund 313 Mrd. US-Dollar. Das entspricht mit 3.612 Dollar pro Kopf lediglich 13 % der Wirtschaftsleistung Österreichs oder der Bundesrepublik Deutschland und damit dem Niveau von Südafrika, Mexiko, Grenada, Panama, Libanon oder der Türkei.
Mit den ärmsten Ländern Europas, Albanien und Makedonien, wurden bereits sogenannte Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen als Auftakt zum Heranführungsprozess an die EU geschlossen. Welche Konsequenzen haben solche Integrationsschritte angesichts des krassen Entwicklungsgefälles? Die Wissenschaft trifft teilweise optimistische Aussagen hinsichtlich einer Verringerung dieser Unterschiede. Nach Vobruba tendieren „Wohlstandsgefälle auf hohem Niveau (…) langfristig zur Selbstabschaffung“, weil es die Möglichkeit der (Teil-) Inklusion ärmerer Länder in den Wohlstand reicher Länder gebe.10 Gleichwohl bestehen erhebliche Zweifel, ob die Gleichgewichtsannahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Neoklassik bei Vorliegen solch extremer Ungleichgewichte so zutreffen. Ein Blick auf die Verhältnisse innerhalb der EU ist dabei hilfreich. Als die damalige Europäische Gemeinschaft ihre Süderweiterung mit Griechenland, Portugal und Spanien vollzog, waren die wirtschaftlichen Disparitäten zwischen diesen Beitrittsländern und dem EG-Durchschnitt zwar beachtlich, jedoch bei weitem nicht so groß wie zwischen der heutigen Balkanregion und dem aktuellen EU-Durchschnitt. Immerhin hat sich das nationale Bruttosozialprodukt der südeuropäischen Staaten dem EU-Niveau angenähert. Dennoch gilt es zu beachten, „dass die Konvergenzprozesse zwischen den Mitgliedsstaaten stärker ausfallen als zwischen den Mitgliedsregionen.“11 Vergleicht man die schwächsten Regionen der EU mit ihren Stärksten, so fällt das Urteil ernüchternd aus. Hier ist Hübner zuzustimmen, dass die Divergenzen zwischen Zentrumsgebieten und peripheren Regionen sich eher erweitern. Periphere Regionen scheinen kaum Möglichkeiten zu haben, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.12 Dieses Urteil stimmt bedenklich angesichts der milliardenschweren Transfers der EU Strukturfonds in die armen Regionen!
Angesichts des noch viel größeren Wohlstandsgefälles zwischen EU und Balkanregion kann daher kaum die neoklassische Gleichgewichtsannahme die alleinige Grundlage der Erörterung sein. Vielmehr sollte auch die These diskutiert werden, ob Südosteuropa angesichts seiner Heranführung an die EU nicht seine Verhältnisse in die EU-Länder hineinprojiziert, nämlich schwache und zerbrechliche staatliche Strukturen, eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, die Polarisierung zwischen Arm und Reich, die Zerstörung sozialer Sicherungssysteme, einen bis 1989 überwunden geglaubten Manchesterkapitalismus und organisierte Gewalt. Die Argumentation, dass die derzeitige Heranführungsstrategie der EU gegenüber den osteuropäischen Ländern auch die EU selbst destabilisieren kann, findet in jüngerer Zeit endlich Eingang in den seriösen wissenschaftlichen Diskurs.13
Es wäre also über ein anderes Integrationsmodell für Südosteuropa nachzudenken. Dabei geht es um weitaus mehr als eine vordergründige Rhetorik des Teilens mit den armen osteuropäischen Brüdern und Schwestern, es geht auf der anderen Seite auch nicht um ein »Jammern auf hohem Niveau«, wenn KritikerInnen hierzulande auf den »Umbau des Sozialstaats« hinweisen. Es geht um die Bewahrung eines historisch gewachsenen, dabei durchaus heterogenen »Europäischen Sozialmodells«. Die Kritik an der Heranführungsstrategie heißt nicht, dass man sich für eine sozialstaatliche »Festung Europa« gegen die Balkanländer stark macht. Im Gegenteil: Es geht vielmehr um eine deutliche »Reform« der einseitig monetären Anpassungsstrategien von IWF und letztlich auch des Stabilitätspakts. Eine stärkere Binnenmarktorientierung in den Staaten Südosteuropas, eine Förderung der endogenen Konsumnachfrage und eine ausgabenfreudigere öffentliche Hand sind neben einer stabilen Währung wichtige Voraussetzungen für eine wirtschaftliche und damit auch eine soziale Erholung der Balkanregion. Diese Voraussetzung müssten von der EU und ihrem Instrument Stabilitätspakt weitaus stärker gefördert werden als bisher. Dabei kann es nicht ausbleiben, die sozialen Brennpunkte mit gezielten Armutsbekämpfungsprogrammen zu entschärfen. Mit dem Heranführen des Entwicklungsniveaus dieser Länder an den EU-Durchschnitt hat man weitaus mehr für die europäische Einigung getan als durch Assoziierungsabkommen mit Armenhäusern.
Anmerkungen
1) Vgl. Wirtschaftsblatt Südosteuropa Nr. 10/99, S. 1.
2) Ingeborg Tömmel, Die Strategie der EU zur Systemtransformation in den Staaten Mittel- und Osteuropas, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft Nr. III/1996, S. 145-161 (hier: S. 156).
3) Vgl. Tömmel, a.a.O., S. 157.
4) Vgl. Stability Pact for South-Eastern Europe, Regional Funding Conference, Quick Start Projects Infrastructure, o.O. o.J. (2000).
5) So der Belgrader Soziologe Slobodan Inic auf einer Podiumsdiskussion des Bayernforums der Friedrich-Ebert-Stiftung in München im November 1999.
6) Vgl. dazu Sabine Riedel/Michael Kalman, Soziale Frage und Gewaltprävention in Südosteuropa, in: Österreichische Osthefte Nr. 2/2000 (i.E.).
7) Vgl. Sabine Riedel, Monetaristische Reformstrategien und ihre sozialen Folgen für Südosteuropa: Die Entstehung einer Region europäischer Entwicklungsländer, in: Südosteuropa, Nr. 7-8/1998, S. 334-367.
8) So z.B. auf der »Dritten Wirtschaftskonferenz Süd-Ost-Europa« in Berlin am 1. Dezember 1999, vgl. Hombach: Kein Geld ohne Reformen, in: Nachrichten für Aussenhandel, 2.12.1999, S. 1.
9) Vgl. dazu Sabine Riedel/Michael Kalman, Die Destabilisierung Südosteuropas durch den Jugoslawienkrieg, in: Südosteuropa Nr. 5-6/1999, S. 258-315.
10) Vobruba, Georg, Die soziale Dynamik von Wohlstandsgefällen. Prolegomena zur Transnationalisierung der Soziologie, in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Heft 3/1995, S. 326ff.
11) Kurt Hübner, Integration und Ungleichheit in der Europäischen Union, in: Joachim Schuster, Klaus Peter Weiner, Hrsg., Maastricht neu verhandeln. Reformperspektiven in der Europäischen Union, Köln, S. 76-94 (hier: S. 83f.).
12) Hübner, a.a.O., S. 86f.
13) Vgl. Anneke Hudalla/August Pradetto, Desintegration durch Integration? Dilemmata der Osterweiterung der Europäischen Union und die Europapolitik der Regierung Schröder, Hamburg (Studien zur Internationalen Politik, Heft 2/1999).
Dr. Michael Kalman ist selbstständiger Politikberater in München und Lehrbeauftragter an der Universität Augsburg.