W&F 2020/2

Interreligiöser Dialog

Friedens- und Konfliktkonzepte in Indonesien und Südkorea

von Gabriella Hornung

In der Friedens- und Konfliktforschung ist der interreligiöse Dialog als Untersuchungsgegenstand immer noch nur ein Randphänomen, obwohl dieser sich in Friedens- und Konfliktprozessen positiv auswirken kann. In vielen asiatischen Ländern besteht eine lange Tradition des interreligiösen Dialogs, aus der sich gelungene Beispiele für Methoden einer Verständigung aufzeigen lassen. Indonesien und Südkorea sollen im Folgenden als Anschauungsbeispiele vorgestellt werden.

Indonesien ist weltweit der Staat mit der größten muslimischen Bevölkerung. Nach dem letzten offiziellen Zensus aus dem Jahr 2010 (UN Statistics Division 2020) machten Muslime etwa 87 % der Bevölkerung aus; 3 % der Bevölkerung gehörten dem katholischen Glauben an; etwa 7 % rechneten sich einer protestantischen Gruppe zu, 0,7 % einer buddhistischen, etwa 1,7 % einer hinduistischen und weniger als ein Prozent dem Konfuzianismus. Diese sechs Glaubensrichtungen werden vom Staat als Religionen anerkannt; der Glaube an einen Gott ist gemäß der Staatsphilosophie »Pancasila« verpflichtend.

Im Heidelberger Konfliktbarometer 2019 werden für Indonesien insgesamt sieben Konflikte aufgelistet, ein Konflikt unter Bezug auf militante islamistische Gruppierungen explizit unter dem Aspekt »system/ideology« sowie zwei weitere, bei denen die Konfliktparteien entlang religiöser Identitätslinien auszumachen sind (HIIK 2020). Die Notwendigkeit für einen interreligiösen Austausch als Methode der Friedensarbeit liegt daher nahe. Aus Indonesien schaffen es meist nur die negativen Schlagzeilen über den Einfluss islamischer Fundamentalist*innen in die westlichen Medien. Erfolgreiche Bemühungen um Verständigung zahlreicher anderer Akteure werden außer Acht gelassen, obwohl die weltweit zunehmende religiöse Pluralisierung dazu drängt, sich »best practices« aus Ländern anzuschauen, die auf eine längere Geschichte des erfolgreichen Austausches über Religionen hinweg zurückblicken können.

Tatsächlich setzen sich in Indonesien neben Einzelpersonen etliche Organisationen für einen interreligiösen Dialog ein, um ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Religionsgruppen zu ermöglichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Institutionalisierung religiöser Gruppierungen in Indonesien sehr ausgeprägt ist. Mit einer Mitgliedszahl von etwa 40 Millionen Menschen ist etwa die Nahdlatul Ulama die größte muslimische Organisation, gefolgt von der Muhammadiyah mit etwa 30 Millionen Anhängern. Die Organisationen nehmen nicht nur wichtige Repräsentationsfunktionen für ihre Anhänger*innen wahr, sondern agieren auch als Ansprechpartner für einen interreligiösen Austausch. Beispielsweise wurde 2017 von der Nahdlatul Ulama in Absprache mit anderen Religionsvertreter*innen der Aufbau eines Datencenters gestartet, das der Auswertung von Social-media-Beiträgen zur Analyse fundamentalistischer Tendenzen im Internet dient. Auf dieser Basis wurden Handlungsempfehlungen erarbeitet bzw. Kooperationen mit Internetdienstleistern zur Bekämpfung fundamentalistischer Aussagen initiiert. Ein weiteres Beispiel: Die der Nahdlatul Ulama nahestehende und vom ehemaligen Staatspräsidenten Abdurrahman Wahid gegründete Wahid Foundation forscht u.a. zur Stärkung von (religiöser) Toleranz und zur Rolle von Frauen bei der Bekämpfung extremistischer Strömungen im Islam.

In Südkorea bietet sich ein etwas anderes Bild: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung definiert sich als keiner Religion zugehörig. Von den etwa 44 % der Bevölkerung, die im Jahr 2015 angaben, einer Religion anzugehören, bekannten sich 45 % zum Protestantismus, 35 % zum Buddhismus, 18 % zum Katholizismus und weitere 2 % zu einer anderen Religion (korea.net o.J.). Konflikte zwischen den religiösen Gruppierungen werden selten öffentlich diskutiert. In persönlichen Gesprächen mit Buddhist*innen oder Katholik*innen wird jedoch häufig das als aggressiv empfundene Missionierungsbestreben einiger protestantischer Gruppierungen kritisiert.

Auch in Südkorea gibt es etliche Organisationen, Vereine, religiöse Zusammenschlüsse und natürlich auch Einzelpersonen, die sich für ein friedvolles Miteinander einsetzen. Asien­weit engagiert sich u.a. der regionale Zusammenschluss »Asian Conference of Religions for Peace« (ACRP) für Frieden. In Seoul diskutieren Teilnehmer*innen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit der Gruppe »Aha! Beyond Boundaries« gemeinsam religiöse Texte. In einer anderen Initiative organisieren buddhistische und christliche Nonnen regelmäßig Exkursionen zu Pilgerstätten unterschiedlicher religiöser Gruppierungen (Quelle: persönliche Begegnungen in Seoul).

Perspektiven auf Frieden und Konflikt: Religion und Kultur

In der Friedens- und Konfliktforschung wird Religion bisher vor allem unter dem Aspekt der Kultur wahrgenommen, deren Einfluss unterschiedlich bewertet wird. Während zum Beispiel Johan Galtung, John Paul Lederach und Kevin Avruch der Prägung von Frieden und Konflikten durch Kultur einen hohen Stellenwert einräumen, spielt sie in den Theorien von John Burton eine untergeordnete Rolle (Ramsbotham et al. 2016). Anna Bernhard macht darauf aufmerksam, dass bei friedensbildenden Maßnahmen kulturelle Aspekte für den gesamten Verlauf, von der Handhabung eines Konflikts bis hin zur Festlegung und Priorisierung von Zielen, eine zentrale Rolle spielen (Bernhard 2013, S. 23 f.). Konkrete Auswirkungen von Kultur und insbesondere von religiöser Zugehörigkeit auf Friedens- und Konfliktvorstellungen anhand von Fallbeispielen wurden bisher jedoch kaum analysiert. Dabei zeigen Initiativen aus Indonesien und Südkorea, dass Aspekte wie Gemeinschaftszugehörigkeit und von religiösen Lehren geprägte Denkweisen durchaus einen wichtigen Einfluss auf diese Vorstellungen haben.

Hierbei sind nicht nur einzelne Textpassagen aus dem Koran oder aus buddhistischen Sutren relevant, sondern ganze Denkkonstrukte, in die Vorstellungen eingebettet sind. Ein Beispiel: Ramsbotham, Woodhouse und Miall (2016) übersetzen die erste der Vier Edlen Wahrheiten, die ein wesentliches Fundament des Buddhismus bilden, nämlich die des Leids als Grundkonstitution des menschlichen Lebens, als »Konflikt«. Die Vier Edlen Wahrheiten unter diesem Ansatz weiterdenkend formulieren sie, dass die Erkennung der Konfliktursache notwendig sei, um den Konflikt zu transformieren und Frieden zu ermöglichen. Die Ursache von Leid – nach Ramsbotham et al. also Konflikt – ist laut buddhistischer Lehre vor allem im »Durst«, oder nach anderer Übersetzung in der »Gier«, zu finden, d.h. zum Beispiel in der Gier nach dem Werden oder nach der Erfüllung von Bedürfnissen.

Doch was heißt dies konkret für die Friedensarbeit? Erstens wäre die Schlussfolgerung, dass für Buddhist*innen das Wort »Konflikt« eine andere Bedeutung hat als für Nichtbuddhist*innen, und zweitens, dass die Transformation eines Konflikts einem anderen Ziel folgt. Am Beispiel der von Johan Galtung entwickelten Idee der menschlichen Grundbedürfnisse, wie etwa dem nach Sicherheit und Freiheit, deren Berücksichtigung in der Friedensarbeit von zentraler Bedeutung sein müsse (Galtung 1980), sähe das so aus: Da menschliche Bedürfnisse als »Gier nach etwas« gedeutet werden können, würde sich die Frage stellen, was nach dem Ansatz von Ramsbotham et al. eigentlich in einer buddhistischen Friedensarbeit erreicht werden soll.

Eine ausführliche Darstellung der buddhistischen Erkenntnislehre würde hier zu weit greifen, trotzdem noch der Hinweis auf einen anderen Aspekt, der unter dem Gesichtspunkt buddhistischer Friedens- und Konfliktvorstellungen häufig diskutiert wird, nämlich die Vorstellung, dass Konflikte auf einer falschen Wahrnehmung der (anderen) Konfliktpartei beruhen. Das bedeutet für die auf buddhistischer Lehre beruhende Friedensarbeit, dass diese maßgeblich bei der Reflexion der eigenen Wahrnehmung des Konflikts anfängt. Dies kann zum Beispiel Auswirkungen auf einen Mediationsworkshop haben, indem Schwerpunkte auch nach religiösen Gesichtspunkten gesetzt werden, beispielsweise durch eine Differenzierung der unterschiedlich wahrgenommenen Realitäten nach buddhistischer Vorstellung.

Auch im Islam gibt es spezifische Vorstellungen von Konflikt und Frieden; der Koran fordert dazu auf, sich für den Frieden einzusetzen. Hamideh Mohagheghi (2010) verweist auf Sure 2,208 und auf die Bedeutung des Begriffs »Jihad« als Einsatz für eine gute Tat, also auch für den Frieden. Für die Friedensarbeit ist jedoch nicht nur wichtig, was sich in religiösen Texten findet, sondern wie Gemeinschaft erlebt und das Individuum von ihr getragen wird, auf welche Weise sich Denkweisen in der Sprache manifestieren und wie diese in Friedens- und Konfliktprozessen gebraucht wird. So spielt es für die Vorstellung von Frieden eine Rolle, ob eine Person sich stärker über eine Gemeinschaft definiert oder ob sie sich in erster Linie für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse einsetzt. In vielen asiatischen Regionen bedeutet das, dass in einem Friedensprozess nicht primär die eigene Situation zur Debatte steht, sondern vor allem die einer Gemeinschaft.

Religiöse Akteure, interreligiöser Dialog und Friedensarbeit

Religiöse Akteur*innen als Entscheidungsträger*innen und Ansprechpartner*innen, die in politische Prozesse eingebunden werden müssen, finden zunehmend Beachtung nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch im politischen Geschehen. Ramsbotham et al. nennen hier vor allem Publikationen aus den frühen 1990er Jahren als Startpunkt für die Auseinandersetzung (des Westens) mit der Rolle von Religionen für den Frieden. S. Ayse Kadayifci-Orellana weist auf die Bedeutung des Millenium Peace Summit of World Religious and Spiritual Leaders hin (Kadayifci-Orellana 2013).

Im Kontext vieler so genannter Ideologiekonflikte, die religiös aufgeladen sind, stellt der interreligiöse Dialog eine wichtige Form der Friedensarbeit dar. Daher lohnt es sich, nicht nur religiöse Akteure stärker in politischen Prozessen wahrzunehmen, sondern auch ihren Beitrag zur Friedensarbeit in der Friedens- und Konfliktforschung zu untersuchen.

Da Vertrauensbildung zu Personen anderer religiöser Zugehörigkeiten zum Fundament einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft gehört, ist interreligiöser Dialog aber auch unabhängig von Wertekonflikten wichtig. Gruppen wie »Aha! Beyond Boundaries« in Seoul, die sich für eine interreligiöse Verständigung durch die gemeinsamen Diskussionen religiöser Texte einsetzen, können ebenso ein Gemeinschaftsgefühl stärken, indem sie das gemeinsame Inter­esse an den Texten in den Mittelpunkt stellen, wie regelmäßige Treffen offizieller Repräsentant*innen der anerkannten Religionsgemeinschaften in Indonesien. Vertrauensbildung durch interreligiösen Dialog muss daher ein wichtiger Bestandteil der Friedensarbeit sein, sei es als Konfliktprävention oder als konfliktbearbeitende Maßnahme etwa bei Konflikten, die entlang religiöser Zugehörigkeiten geführt werden.

Literatur

Bernhard, A. (2013): Dynamics of Relations between different Actors when Building Peace – The Role of Hybridity and Culture. Berlin: Berghof Foundation, Projekt »Cultures of Governance and Conflict Resolution in Europe and India«, CORE.

Galtung, J. (1980): The Basic Needs Approach. Manuskript; online verfügbar auf transcend.org.

Heidelberg Institute for International Conflict Research/HIIK (2020): Conflict Barometer 2019. Disputes – non-violent crisis – violent crisis – limited wars – wars. No. 28. Heidelberg.

Kadayifci-Orellana, S.A. (2013): Inter-Religious Dialogue and Peacebuilding. In: Cornille, C. (ed.): The Wiley-Blackwell Companion to Inter-Religious Dialogue. Oxford: Wiley-Blackwell, S. 149-167.

korea.net (o.J.) Über Korea – Religion. german.korea.net (eine Webseite der südkoreanischen Regierung).

Mohagheghi, H. (2010): Vielfalt der Religionen als eine Chance für das friedliche Zusammenleben -– aus islamischer Perspektive. In: Weiße, W.; Gutmann, H.-M. (Hrsg.): Religiöse Differenz als Chance? Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Münster: Waxmann, S. 119-130.

O’Leary, J.S. (2010): Skillful Means as a Hermeneutic Concept. In: Cornille, C. (ed.): Interreligious Hermeneutics. Eugene, Or.: Cascade Books, S. 163-183.

Ramsbotham, O.; Woodhouse, T.; Miall, H. (2016): Contemporary Conflict Resolution – The prevention, management and transforma­tion of deadly conflicts. Cambridge, UK/Malden, MA: Polity.

UN Statistics Division (2020): Popular statistical tables, country (area) and regional profiles. data.un.org.

Wrogemann, H. (2015): Theologie Interreligiöser Beziehungen – Religionstheologische Denkwege, kulturwissenschaftliche Anfragen und ein methodischer Neuansatz. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Gabriella Hornung promoviert an der Universität Rostock zu interreligiösem ­Dialog in Asien. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte umfassen u.a. interreligiösen Dialog, Religion und Politik sowie Religion und Entwicklung(szusammenarbeit).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/2 Frieden begreifen, Seite 33–35